Frankfurter Allgemeine Zeitung - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton SAMSTAG,22. FEBRUAR2020·NR.45·SEITE 9


I

nfamiliären Liebesdingen sind
der Phantasieder meistenMen-
schen natürliche Grenzen ge-
setzt .Wenn sonstalles geht –die ge-
nauenUmstände des elterlichen Lie-
besspiels, denen wir unsereExistenz
verdanken, will sicheinfac hkeiner
ausmalen. Unddiese Geziertheit
reicht ja nochviel weiter.Als dür fte
der süßeBlickzurückauf unsereani-
malische Herkunftdie Vorstellungs-
kraf terwachsener Menschen nicht
über Gebührstrapazieren, haben wir
uns angewöhnt, jegliche amourösen
Spielchen, die unseremStammbaum
zugrundeliegen,weitweginsAbstrak-
te zu verlegen. DieKünste gewähren
sichdaAusnahmen, aber alles in al-
lem waresvielen doch peinlich zu er-
fahren, dassder moderne Mensches
wild mit denNeandertalerngetrieben
haben muss.Nachzulesen in unseren
Genen.Unddas warkein Ausrut-
scher :Ein bis vier Prozent unseresge-
netischen Bauplans sind nicht dem
Homo sapienszuzurechnen, sondern
wir Europäerverdanken sie dem Lie-
besspiel anbetungswürdigerNeander-
talerinnen undNeandertaler mit den
Vertretern unserer eigenen Gattung.
Wieüberhaupt die Libertinageunse-
rerAhnen,ihreBereits chaftzurDi ver-
sität, zum Zungenschnalzen war.
Kaum, dassder er steafrikanische
HomoauszogundinEuropaseinNest
einrichtete,vor annähernd zwei Mil-
lionen Jahren,könntedas losgegan-
gensein.Das sagen jedenfallsAhnen-
genomiker aus Utah, die sichmit der
dechiffriertenErbsubstanz kroati-
scher und sibirischerNeandertaler ei-
nen eigenenStammbaum zusammen-
kombinierten. Demnach warmit der
ersten afrikanischenAuswanderungs-
welleeinestattlicheZahlan„Superar-
chaikern“unterwegs–nichtunseredi-
rekten Vorfahren,sondernder(ausge-
storbene) Seitenzweig jener Homo-
Vertreter, derenNachkommenviel
später ,vorfünfzigtausendJahren,end-
gültig Europa eroberten. Aus den frü-
hen Superarchaiker njedenfalls sollen
die NeandertalerimWesten und die
weniger bekannten Denisova-Men-
schenimOstenEuropashervorgegan-
gensein, die später alle untermyste-
riösenUmständen verschw andenund
durch den Homo sapiensersetzt wur-
den. Schwamm drüber,die Superar-
chaiker jedenfalls paarten sichfleißig
mit denNeandertalern und ebenso
mit den Denisovanern, die ihrerseits
das romantischeAbenteuer suchten
und die „Neandersovaner“ hervor-
brachten.Undals wäre das nichtge-
nug,habenkalifornischeGen-Anthro-
pologeninder Zeitschrift„Nature“be-
sch rieben, wiesichdieAhnenderheu-
tigen Westafrikanerineiner Liebelei
mit einem mysteriösen Menschen-
schlagverewigt haben sollen,wasan
den üppigen Genspuren abzulesen
sei,diedies ehinterlassenhaben.Kno-
chen oder Zähne hingegen gibt es
nicht vondiesen Menschen, sie sind
Geisterinder DN A. Viel wissen wir
also nichtvondiesen Menschen ohne
Gesicht.DochLiebe, daskönnen wir
bestimmt sagen, hatten sie schon,
und davonreichlich.

Geisterlibido


VonJoachim Müller-Jung

Derbritische SoziologePaul Gilroy be-
schrieb de nBegriff des„Black Atlantic“,
den er in den neunziger Jahren selbstge-
präg that, bildlich miteinem Schiff.Dem-
nachbewegt es si ch vomafrikanischen
Kontinen tweg un dwiederzurüc k, dockt
auf de mWeg an der Karibik an, der nord-
amerikanischen Ostküste,anGroßbritan-
nien. Wasentstand,soGilroy, isteinepan-
afrikanischeKultur, gepräg tvon einemZu-
sammenspiel ausResistenzund Kunstent-
langder Routedes transatlantischenSkla-
venhandels.Gilroy kritisiert mit seiner
Theoriedes„SchwarzenAtlanti ks“die sys-
tematischeNichtbeachtung der schwarzen
KulturindenwestlichgeprägtenKulturwis-
senschaften und dievonihr ausgehenden
Einflüsse auf dieModerne.Der Beitrag
schwarzer Intellektuellerund Künstler zur
westlichen Moderne seiverkannt .Erfor-
der teinenfluidenKulturbegriff,losgelöst
vonEthnie undNation.
In der vonSergeyHarutooniankuratier-
tenAusstellung imKunstverein Hannover
setze nsichvierjungeKünstlerderafrikani-
schen Diasporamit Themenwie Herkunft
und Vergangenheit, Identität und Sexuali-
tätauseinander.Sandra Mujinga(Norwe-
gen), Paulo Nazareth(Brasilien), Tschaba-
lalaSelf(Verei nigteStaaten) undKemang
Wa Lehulere(Südafrika) haben alleWur-
zeln auf dem afrikanischen Kontinent.
Bei einigen liegen viele Generationen da-
zwischen, andere sind dortgeboren und
aufgewachsen.
DerBegriffdesBlackAtlanticistinder
Schau nicht vordergründig,vielmehr
scheint er als Impulsgeber zu dienen.
Auch während desKünstler gesprächs am
Abend der Eröffnung mit Mujinga und
Self wirddeutlich: Die beiden fürchten
auf das „Black“ im Begriff desBlackAt-
lanticreduziertzuwerde n. Dennochist
man, nicht zuletzt unter diesemTitel, ge-
neigt, ihreKunstimpostkolonialenKon-
text zu betrachten.
DieGemäldeder1990inHarlemgebore-
nenKünstlerin Tschabalala Self sindge-
wiss der HöhepunktdieserSchau. Lein-
wände, teilsmit Acryl- undVinylfarbe,
teils mi tNähten aufgetrageneStoffe, etwa
ausSamtodermit Leopardenmu ster,zei-
genverfremdete, meistweiblicheKörper.
Dabeiwerd en bestimmteKörpe rteile, wie
die Beineund da sGesäß ,überp roportio-
naldargestellt. Es entsteht einehyperse-
xualisierte Darstellung derKörpe r. Self,
die TochtereinerNäherin, be richtet, die

Gemälde seien auchdas Er gebnis derAus-
einandersetzungmit ih remeigene nKör-
per. DerschwarzeweiblicheKörper se ibe-
sonders„politisiert“.Ihr eBilderbeschreibt
sieals Avatare,alsovisuelleFigurenimCy-
berspace, diesie tanzendund ineinander
verschlungen,wie beispielsweisein„ Big
Toe“ von2019, darstellt.Die übe rpropor-
tionalen Beinefindensichwiederineiner
Installation,die aus mehrerenaus Pl exi-
glas geschnittenen Beinpaarenbesteht
(„Knock Knee“,2019),undauchindenSil-
houettenihrer Bilderals Wandbemalun-
gen.
Man istgeneigt, SelfsWerkvor dem
Hintergrund derTexteder Literaturwis-
senschaftlerin undVertreterindes „Black
FeministThought“, Hortense Spillers, zu
betrachten. In den achtziger Jahren prägt
Spillersden Begriff des „gefangenenKör-
pers“ imKontextdes Sklavenhandels und
beschäftigtsichinsbesondere mitdemhy-
persexualisiertenweiblichen schwarzen
Körper.Die Titelvon SelfsWerkenund
die verfremdetenGesichter e rinnernan
die enthumanisierende und entstellende
Praxis der Sklavenhalter,den Sklavinnen
andereNamen zugeben. DieTitel„Day-
dream“ (2015),„From Afar“ (2019)oder
„Leotard“(2019) erwecken Assoziatio-
nen mit diesen oftexotischenNamen, auf
die Spillersineinem Schlüsseltext
„Mama’s Baby, Papa’s Maybe“ (1987)hin-
weist. Die entstellten Gesichter undKör-
per hingegen sindvergleichbar mit denen
des MalersFrancis Bacon—ähnlich ab-
surd, durch die Farbenvielfalt aber bei
weitem nicht so beklemmend.
Des Motivsdes Cyberspaces bedient
sichauchSandraMujinga. Ihre über zwei
Metergroßen, in schwarzesKunstleder
gehülltenFigur en sind Mittelpunkt eines
in grünes NeonlichtgetauchtenRaumes.
Die Installation mit demTitel„Nocturnal
Kinship(the Costumes)“ (1–3,2018)
wirkt bedrohlich. DieFigurenerheben
sichwie Cyborgs über den Betrachter und
muten wie Menschen an. Mujinga,die
1989 in der Demokratischen Republik
Kongo geborenen, inNorwegen aufge-
wachsen ist, beschäftigt sichinihrer
Kunstmit Fragen der Identität, ausge-
drückt in Mode undTarnkleidung.
In einem anderen der insgesamt sechs
Ausstellungsräume begegnetman Paulo
Nazareths verstörenden siebenminütigen
Videoinstallation„Anthropology of the
BlackII“(2014).Darin begräbtsic hNaza-

reth, mit einemweißen Unterhemd be-
kleidet, mitTotenschädelnvonermorde-
tenMenschen indigener und afrikani-
scher Herkunftineiner Psychiatrie in der
brasilianischenStadt Barabacenagewis-
sermaßen selbst. Schwer atmend unter
den menschlichen Überresten,befreit
sichder Künstler allmählich, legtruhig
Schädel für Schädel wiederabund richtet
sich auf. Auch Nazarethhat Wurzeln in
Afrik aund in der indigenen Bevölkerung.
InbesagterPsychiatrie kameinstauchsei-
ne Großmutterum.
Eswir dnichtdeutlich,obdieKünstlerin-
nen undKünstle reinen wirklichen Bezug
–imSinne Gilroys –zum Begriffdes
„SchwarzenAtlantiks“ haben.Vielmehr
entstehtder Eindruck, dassvor allem die
amEröffnungsabendanwesendenKünstle-
rinnen Self undMujing ader Fragen nach
ihrerHerkunftund derReduzierung ihrer
Kunstals „s chwarzeKunst“ müdesind. Ist
nicht jedeKunstgeprägtvonIdenti tätund
Herkunft? „Oft habeich dasGefühl, es
geht mehrdarum ,wer ic hbin, als darum,
wasich mache“,sagtMujing a. Unddoch
kannnicht davonabgesehenwerden, dass
die hierausgestelltenKünstler in einem
postk olonialenKontext arbeiten.
Washaben alldiese Künstle rgemein?
Sind es nur dieWurzeln i nAfrik aund das
LebeninAnrainerstaatendesAtlantischen
Meeres, Südafrika, Brasilien, Vereinigte
Staaten,Norwegen? Istesnur ihr egeogra-
phische „Lage“, diesie in diese rSchau zu-
sammenführte?PaulGilroys Antwortwird
neinsein.EsistdieEr fahrungihrerVorfah-
ren,dur chdiesiegepräg tsind,„derGrund,
warumich hier existiere, istein his tori-
scher“, sagt auchTschabalalaSelf und
meint mit „hier“ dieVereinig tenStaaten.
AuchSelfsVorfahren kameneinst alsSkla-
venander Süd staatenküs te Amerikasan.
Eshandeltsichvermutlichumeineneue
Artder Verbundenheitdieser Generation.
Das zu Beginnbesch riebene Schiffscheint
diese nurhistorischbegründetzuh aben.
DieKünstler der afrikanischen Diaspora
vereinengewissdieEr fahrungenihrerVor-
fahren mitKolonialismus undPlantagen-
sklaverei, dochihrejungenVertr eter den-
kenden Begriff weiter ,bringen neueAs-
pekte hinein ,sozum Beispiel dasDigitale
und dessen Einflussauf Identität, los gelöst
vonder Her kunft. NORA SEFA

Beyond the BlackAtlantic.Kunstverein,
Hannover; bis 26. April.Katalog inVorbereitung.

Aufdem ForumRomanum haben Ar-
chäologen einen unterirdischenTem-
pel gefunden, der bereits 1899 ent-
deckt, inVergessenheitgeraten und
überbautworden war. Darin befinde
sichein Sar kophag ausTuffstein, teil-
te AlfonsinaRussomit,dieDirektorin
des Ar chäologischenParksdes Kolos-
seums. Der Sarkophag stamme aus
demsechstenvorchristlichenJahrhun-
dert. Der Tempel liegt unter der Cu-
ria,de mVersammlungsortderSenato-
ren. Forscher vermuten einenZusam-
menhang mit demKult um Romulus,
den mythischen Gründer derStadt
Rom,der dortbegraben sein soll. spre

Cyborgs oder Menschen? Sandra MujingasInstallation „Nocturnal Kinship (the Costumes)“ aus dem Jahr 2018 FotoVolker Crone

H


assdurchtränkt alle Lebens-
bereiche. Er istalltäglich
spürbarundwirdmedialver-
vielfältigt.Als Ausdruc ks-
form des Bösen istHassinder Mensch-
heitsgeschichtetief verwurzelt .ImEin-
gangsversvon Homers„Ilias“, einem
Gründungsdokument der westlichen
Kultur,heißtes:„SingedenZorn,oGöt-
tin“. DieverschiedenenÜbersetzungen
des griechischenWortes „Menis“ver-
deutlichen die Beziehung des Hasses
zum spontanen Affekt derWut, der in
ZornundGroll zielgerichteter wir dund
im Hassseine aggressivste Formerhält.
Achill fühltesichvor demAusbruch
seinesZornes gekränkt, entwertetund
handlungsunfähig. Im Hassspürter
sichzuneuem Leben erweckt,sein
Selbstwertgefühl kehrtzurück, seine
Verzweiflungwendetsichnachaußen
undwecktseinen Tatendrang. DerHass
erlaubt ihm, sichungehemmt zurächen
und ungezügelt böse zu sein. DieFrage
stellt sichimmer wieder neu, obWut,
Zornund Hassbefreiend undkonstruk-
tiv seinkönnen oder nichtgrundsätz-
lichböse sind.
Mythen, Religionen und Philoso-
phienzeigen,dassder Kampfzwischen
Gutund Böseeine uralteTraditionhat.
Davonerzählen die indischenUpani-
shaden, diechinesischenSchriften von
Konfuzius undLaotse ,die buddhisti-
schenRituale unddie Bibel.DieBewäl-
tigungvonbösarti gemHasserscheint
oftals schöpferisches Prinzip. Diesist
auchein Grundmotiv der modernen
Pop-kultur.Inihrem berühmtenSong
„Sympathyfor the Devil“ schilderndie
Rolling Stones herausragendeHass-
verbrechen. Sie beginnen mit dem
Kreuzigungstodvon JesusChristus, be-
singenden Mordander Zarenfamilie
im Rahmen derrussischen Oktoberre-
volution, den BlitzkriegderNationalso-
zialisten, den Hundertjährigen Krieg
zwischen England undFrankreich,die
rituell eErmordun gvon indischen
Troubadouren und schließlichdie Mor-
de an denKennedys.
Hass erscheint im Song als bewegen-
desPrinzip,unddasBösewirdals wohl-
habender undgeschmackvoller Mann
personifiziert. Man mögefür ihn, den
Teufel, bitte Sympathie aufbringen,
sonstwerde er unsereSeele vernichten.
MickJagger soll bei derKomposition
des Songs mit Goethes Charakteristik
desTeufels als„einTeilvonjener Kraft,
die stetsdas Böse will undstets das
Guteschafft“inBerührunggekommen
sein.
Bis heuteist es bemerkenswert, wie
Goethe denteuflischen Mephisto als
„Teil der Dunkelheit, die das Lichtge-
biert“, auffassen konnteund denwahr-
heitssuchendenFaustals widerwärtig,
abstoßend und böse. Warumkann
Faustletztlichdocherlöstwerden?
Weil er seinen Hass „immerstrebend“
in konstruktiveAktivitätenzuverwan-
deln sucht.Dies is tauchdie Botschaft
von„Sympathyfor the Devil“. Der
Song istalles andereals die Feier eines
satanischenKults. Seine Inszenierung
zum Beispiel während des Konzerts
„Havana Moon“ 2016 zeigt, dasses
nichtderHassist,derkonstruktive Wer-
ke ermöglicht, sonderndessen Ver-
wandlung durch Bewegung, Tanz, Mu-
sik,Textund er otische Teilhabe.
Wassagt die moderneWissenschaft
zum bösartigen Hass?Kurz vor1900,
als dieNaturwissenschaftenineiner
Blütezeitstanden, hat der damals noch
als Neurologeforsc hende Sigmund
Freud die biologischen Erkenntnisse in
einem neurowissenschaftlichenModell
der menschlichenPsychezusammenge-
fasst. Er beschrieb, wie vielevorihm,
einschließlichCharles Darwin, in allen
Lebensäußerungen eine Dynamik zwi-
schen Auf- undAbbauprozessen.
Diese Dynamik lässt sichauchinak-
tuellen biologischenKonzepten wie-
derfinden, zum Beispiel in derNeuro-
plastizitätoderder Apoptose, dem pro-
grammierten Zelltod .Wir befinden
unsineinemständigen Anpassungspro-
zessaninnereund äußereGegebenhei-
ten, die mitStrukturaufbau undAbbau
einhergehen. So beschäftigt sich die
moderne Krebsforschung beispielswei-
se schwerpunktmäßig damit, wie sie in
deregulierteAuf- undAbbauprozesse
gezielt eingreifen kann.
Freudhat bald erkannt, dassman
das Wechselspiel vonmenschlicher
Kreativität und Destruktivität nicht al-
leinnaturwissenschaftlichverstehen
kann, und sichden Sozial- undKultur-
wissenschaften zugewandt .Dies er-

möglicht eihm zu zeigen, dasspsy-
chische undsozialeUmwandlungspro-
zesse nicht nur mitLust gefühlen ein-
hergehen, sondernauchmit Spannun-
genund Krisen.Er folgteGoethe, der
aus natur- und kulturwi ssenschaftli-
cher Sichtvoneinemimmer wiederauf-
gegebenen „Stirb undWerde“ sprach.
WirkönnenVeränderungsp rozessen
nicht ausweichen, wirmüssen sie aktiv
mitgestalten.Wenn da snicht möglich
ist, resultierendaraus Depressionund
Rückzug oder Hass und Angriff.Die
oftunbewussteLeitidee desdestruktiv
Hassendenlautet:Wennich schon das
Gutenicht bewirken kann, sowenigs-
tens da sBöse.
Die Psychoanalyseerforscht seit
mehr als hundertJahren dieHinter-
gründe desHasses, der sichamdeut-
lichs ten im bösartigen Narzissmus
zeigt. AngeboreneReaktionsbereit-
schaftenwerden durch ungünstigeLe-
benserfahrungennegativ verstärkt.
Lieblose Primärbeziehungen, Vernach-
lässigung, Missbrauch und Gewalt hin-
terlassen oftnur unbewussteWunden,
die bei Zurückweisungenund Verlet-
zungen aufbrechen.Wenn es dann an
Möglichkeiten fehlt, depressiveVer-
stimmungen und aggressiveRegungen
in konstruktive Aktivitäten zuverwan-
deln,ist derHassein naheliegendes
Mittel, um sich selbstzustabilisie ren.
Wenn mannicht selbstwirksam an
seiner Situationetwas ändernkann,ist
die Projektionder eigenenUnfähigkeit
auf anderes und andere psychologisch
naheliegend.Der Hassgibt diesen Pro-
jektionen emotionale Energieund er-
höht das eigene Selbstwert-und
Identitätsgefühl. Der Dichter Byron
fasstdies folgendermaßen zusammen:
„Hassist beiweitem dasgrößteVergnü-
gen. Menschen lieben in Eile,aber sie
hassen mitLangmut.“
Freud resümiertseineinterdiszipli-
näreTheorie menschlicher Zerstö-
rungslus tine inem durch den Völker-
bund angeregten Briefwechsel mit Al-
bertEinstein. Seinentsprechender
Brief wurde 1933unterdemTite l„War-
um Krieg?“veröf fentlicht, in einem
Jahr,indem eine erneuteHassspirale,
die in beispielloserVernichtung mün-
dete,erste Triumphefeierte.Freuds Ar-
tikel endetmit derFeststellung,dass
wir nur durch Kulturentwicklung eine
Chance haben, menschliche Destrukti-
vitätzu bewältigen.Auch moderne Psy-
chotherapieverfahren, die wissen-
schaftlichbegründet Gefühle und Ge-
danken direktbeeinflussen,stoßen im-
merwiederaufdie Aufgabe,existentiel-
le De struktivität–„kurz,was ihr das
Bösenennt“, wieMephistosagt–kultu-
rell dur ch tiefenpsychologischeGesprä-
chezubewältigen.
Freud folgte Goethe auchinder Vor-
stellung, dassalle Menschen aus Gut
und Böse, Hell und Dunkelkomponiert
sind. KulturbestehtzumgroßenTeildar-
in, böse Gefühle und Gedanken in sinn-
volle Tätigkeiten zuverwandeln.Freud
bringt damit wie Goethe dengroßen
Gegner des Hasses ins Spiel: die Liebe.
Sie is tschon in der Antikedas konstruk-
tiveLebensprinzip des Menschen. Eros
wirdinden frühesten Dokumenten als
fundamentale Energie aufgefasst,die
sichimmer wieder imKampfzwischen
Kosmos –der geschmückten Ordnung –
und Chaos–dem destruktivenTohuwa-
bohu –behauptet. Die Liebe, die zum
Guten,Wahren und Schönen führt, ist
nicht nur eine Haltung, sondernerfor-
dertbeständigeAnstrengung, um de-
struktiven GegenkräfteninFormvon
Hassund Vernichtungsimpulsen entge-
genzutreten. Liebevolle Natur-und Kul-
turbegeisterung benötigen Achtsamkeit
und Respekt, aber auchKompetenz und
Tätigkeit.

I


nsofer nist es nichtder Hass, der
Gegenwart und Zukunftpositiv
beeinflusst,sondernseine aktive
Bewältigung. Nicht dieVerherrli-
chung vonWut, Zorn und Hassist kon-
struktiv,sondern derenkulturelleVer-
wandlung. Politiker ,Wissenschaftler
und Künstler sollten ihren Hass nicht
charismatischausleben, sonderngeeig-
nete Bewältigungsformen des Hasses
finden. DieseAufgabe stellt sichauch
im Alltag.
Selbstwenn der Hassein be währtes
Mittel ist, sichselbstgut zu fühlen und
auchGemeinschaftenherzus tellen, er
musssowohlindividuellalsauc hkollek-
tiv bekämpftwerden. Dazu haben wir
Werte, die Goethe als „verteufelt hu-
man“ bezeichnethat:Respektvorder
Würde eines jeden, auchder Gegner,
undSelbsterkenntnis :Derzweiundacht-
zigjährigeDichter setzt sichsieben
Tage vo rseinemTodinseinem letzten
Brief mitderKultivierungdermenschli-
chen Natur auseinander und hofft,
„sichdurch derleiNach denkens noch
zu steigern“. Das istes–die persönli-
cheund kulturelle Entwicklunggegen
die Barbarei des Hasses einzusetzen.
Selbstreflexion und Empathie sind ein
besseresTeam als Selbstüberschätzung
und Hass.

Der AutoristPsychoanalytiker und lehrtan
der Universität Heidelberg.

Ein Altar für


Romulus?


Die Diasporaist höch st lebendig


Hannoverstemmt sichgegen die Nichtbeachtungder schwarzenKultur


GeheimeCodes sindauchanBord:
Der Bestselle rautor Dan Brown(„Sa-
krileg“)veröffentlicht sein erstes Kin-
derbu ch.„Wild Symphony“ handelt
voneiner Mausnamens Maestro, die
alsDirigentin einKonzert ihrertieri-
schen Freundeleitet.MittelseinerApp
sollen Kinder beim Lesengleichzeitig
dieMusikhören,dieeinOrchesterein-
gespielthat.AufDeutscherscheintdas
Bucham9.September. F.A.Z.

Kulturelle


Verwandlung


DanBrown


jetzt mit Musik


Verteufelt human: Die


Zerstörungslustist


nichtdas letzteWort–


wir habe nMittel, den


Hass zu be wältigen.


VonRainer Matthias


Holm-Hadulla

Free download pdf