30 SPORT Montag, 2. März 2020
So gehen die fünf grossen Fussballligen mit dem Coronavirus um
Deutschland: Auch der deutsche
Fussball ringt um einen angemessenen
Umgang mit dem Coronavirus. Ein Ver-
bot vonVeranstaltungen ab einer be-
stimmten Grösse existiert nicht, gleich-
wohl trafen Klubs wie Borussia Dort-
mund amWochenende Massnahmen,
die aber eher psychologischen Charak-
ter hatten. So waren beim Heimspiel
gegenFreiburg vor 81000 Zusc hauern
Behälter mit Desinfektionsmitteln auf-
gestellt, von denenreger Gebrauch ge-
macht wurde. Der BVB untersagte sei-
nen Spielern zudem denKontakt mit
den Fans, Autogramme und Selfies
waren zu unterlassen. Genauso hand-
habte es auchBayern München. Spieler
des FC Schalke 04 waren zu einer un-
gewöhnlichen Massnahme angehalten
worden: Sie sollten auf ein Händeschüt-
teln in der Kabine verzichten. sos.
Spanien:Als imJanuar inWuhan
das Coronavirus ausbrach, traf dieFuss-
ballmannschaft der Stadt zu einemTrai-
ningslager im südspanischen Ort Soto-
grande ein. NachTests und Quarantäne
durften die Spieler dasTraining aufneh-
men,wege n derVerschiebung des Sai-
sonstarts in China bleiben sie jetzt sogar
länger als geplant. Am Sonntag wurde
die Mannschaft als Zeichen der Solida-
rität zum Clásico zwischenReal Madrid
und dem FCBarcelona eingeladen.Wie
das ganze Land geht bisher auch der
spanischeFussballrelativ gelassen mit
dem Thema um. 76Fälle gibt es bis jetzt
in Spanien,als einer der Ersten infizierte
sich ein Sportjournalist, der den FC
Valencia vor zweiWochen zum Cham-
pions-League-Spiel bei Atalanta Ber-
gamo begleitet hatte. Der Verein hat bis
auf weiteres allePressekonferenzen sus-
pendiert.Das Spiel gegen Betis Sevilla
fand am Samstag wie gewohnt statt, er-
hielt mit 37 814 Zuschauern aber den ge-
ringsten Zuspruch der Saison. fhp.
Italien:Zehn abgesagtePartien in der
SerieA,sechs vom 26.Spieltag, vier vom
- Spieltag – das ist die Zwischenbilanz
des Coronavirusim Calcio. Zudem wur-
den vier Spieler des Serie-C-Klubs US
Pianese positiv getestet. Vorsorglich
hat sich auch die gesamte U-23-Mann-
schaft vonJuventus, letzter Gegner von
Pianese, in selber organisierte Quaran-
täne begeben. Die Spielabsagen bringen
Probleme für den Kalender. Allein Inter
muss zweiPartien nachholen und steht
vor einem dichtgedrängten Programm
im Mai.Wegen derVerschiebung des
halben Spieltags auf den 13.Mai gab es
auch schon Proteste. Der Napoli-Trai-
ner Gennaro Gattuso warntevor Wett-
bewerbsverzerrung, wenn Inter im Mai
noch Punkte aufholenkönne. Der Inter-
Manager Giuseppe Marotta befürch-
tet hingegen eine Überlastung seines
Kaders in den finalenWochen.Alles in
allem: ein grossesDurcheinander. tph.
England:Am Sonntag lag die Zahl
der Coronavirus-Patienten in Grossbri-
tannien bei 35. Gemäss den Gesund-
heitsbehörden ist dasLand gewapp-
net gegeneinengrösserenAusbruch,
vorerst konzentrieren sich die Briten
auf eine frühzeitige Identifizierung der
Erkrankten. Bisher sindkeine Sport-
veranstaltungen von Massnahmen be-
troffen. DerWest-Ham-Trainer David
Moyes sagte nach dem 3:1-Sieg sei-
ner Mannschaft gegen Southampton,
die Vereine hätten von derFührung
der Premier League «meinesWissens»
nochkeinerlei Anweisungen erhal-
ten. Man habe den Spielern von sich
aus nahegelegt, beim Händeschütteln,
beimTorjubel und beimAutogramme-
verteilen Zurückhaltung zu üben.hpk.
Frankreich: Weil sämtliche Spiele
des nationalenFussball-Championnats
in offenen Stadien ausgetragen wer-
den, fielen sie nicht unter das am Sams-
tag durchs Gesundheitsministerium er-
lasseneVerbot sämtlicherVersamm-
lungen von mehr als 5000 Personen in
geschlossenenRäumen. Ohne vorsorg-
licheRestriktionenging es aber auch
in der Ligue 1 nicht. So marschierten
die Mannschaften zumeist ohne Beglei-
tung durch Kinder auf dem Spielfeld ein,
und statt der vor dem Anpfiff üblichen
Handschläge zwischen Unparteiischen,
Teamcaptains undTrainern begnügte
man sich mit dem aus den US-Slums
übernommenen, hygienisch unverdäch-
tigeren «fist bump», auch Ghettofaust
genannt. Unverändert blieb jedoch das
Verhalten nachTorerfolgen, wo sich
männiglich in den Armen lag – auch in
den Zuschauerrängen. Ack.
«Wir fordern die Liga auf, an die Grenze zu gehen»
Der FC-Thun-Präsident Markus Lüthi sagt im Gespräch mit Michele Coviel lo, dass Geisterspi ele möglichst vermieden werden sollen
Herr Lüthi, wie vielenPersonen haben
Sie heute schon die Hände geschüttelt?
Da heute Sonntag ist, noch nicht so vie-
len. Etwa dreien.
Das Co ronavirus macht Ihnen also noch
keine grossen Sorgen?
Ich bin 62-jährig und habe in meinem
Leben nochkeine ähnliche Situation er-
lebt.Deshalb fehlen mir die Begriffe, um
die Lage zu beschreiben. Ich muss mich
noch zurechtfinden.
Hätten Sie erwartet, dass dasVirus der-
art schnellauch in unsereRealität drin-
gen würde?
Ich weiss nicht, ob es unsereRealität
ist oderob wir von übertriebenenVor-
sichtsmassnahmenreden, für die ich
übrigens auchVerständnis hätte. Und
ich weiss nicht, ob alles aufgrund der
Lagebeurteilung angebracht ist. Ich
kann es schlicht nicht sagen und bin ein
wenig zwischen diesenWelten hin- und
hergerissen.
Wie die meisten vermutlich.
Das denke ich auch.Wobei: Es soll ja
Menschen geben,die sich anstecken las-
sen.Andere bereiten sich ein Leben lang
auf die Krise vor, und wenn sie tatsäch-
lich kommt, überdrehensie.
Der Bundesrat hat alleVeranstaltungen
mit über1000 Personen verboten, und
die Swiss Football League sagte allePar-
tien diesesWochenendes ab. Haben sie
überdreht?
Das sind für mich zwei verschiedene
Aspekte: Ich habe weder den Mut noch
das Wissen, den Entscheid des Bundes-
rates zu beurteilen – das steht mir nicht
zu,und das will und kann ich auch nicht.
Was die Liga angeht,ist die Situation ein
wenig anders. Ich finde es sehr gut, dass
sie als Sofortmassnahme entschieden
hat, diesesWochenende zu streichen.
Wir verlieren damit nichts und gewin-
nen sogar Zeit. Sokönnen wir am Mon-
tag gemeinsam und inRuhe das weitere
Vorgehen besprechen.
Der Schweizerische Fussballverband ist
nochweitergegangen: Er hat an die 1500
Partien abgesagt, von denenwohl die
wenigsten die 1 000 Zuschauer erreicht
hätten. Haben SieVerständnis dafür?
Ich finde es nicht gut, ohne genauere
Kenntnisse einen solchen Entscheid zu
kommentieren oder gar zu kritisieren–
besonders in einer derartigen Situation.
Es geht um Menschen, die handeln und
ein en Entschluss fassen mussten. Des-
halb sage ich bewusst nichts dazu. Eine
politischeAussage mache ich aber...
Bitte...
Wo ist eigentlich die Europäische Union?
Deutschland ist ja nicht so weit weg. Dort
wird die Bundesliga normal durchge-
zogen.Aber es geht doch mindestens um
einekontinentale Angelegenheit. Man
spricht von derWeltgesundheitsorgani-
sation,von der Schweiz und den Kanto-
nen – und die EU ist nicht präsent. Das
ist schon eigenartig.
Hat Ihnen dasVirus einWochenende
ohne Abstiegskampf beschert, oder
bringt es eher noch grössere Sorgen?
Im Moment sollten wir uns nicht auf
Subthemen wie den FCThun konzen-
tri eren.Ich glaube, wir stehen vor einem
gesellschaftlichen Problem, das welt-
weiten Charakter annimmt.Da ist der
ersteFokus nicht bei einzelnen Orga-
nisationen, auch nicht für mich als Prä-
sidenten des FCThun. DerFussball ist
bloss eineRanderscheinung in dieser
Geschichte. Es geht um eine andereAn-
gelegenheit, die sich hoffentlich schon
baldrelativiert. Aber das weiss man
immer erst im Nachhinein, ich denke
frühestens in drei oder vierWochen.
Diese Ungewissheit stellt Liga und
Klubs vor eine grosseFrage, die sie am
Montag gemeinsam beantworten wollen:
mit Geisterspielen die Meisterschaft vor-
ant reiben oder so vielePartien wie mög-
lich verschieben?Wofür machen Sie sich
stark?
Wir müssen unbedingt einen Meis-
terschafts-Abbruch verhindern. Die
Tabelle kann man nicht in provisori-
schem Zustand als final nehmen. Natür-
lich sageich d as aus Sicht des FCThun
(der Tabellenletzter ist, Anm. d.Red.).
Es geht aber auch ums Meisterrennen,
die Barrage , die Europacup-Plätze. Die
zweite Priorität ist,keine Geisterspiele
anzusetzen. Der Kalender soll so weit
wie möglich hinausgeschoben werden,
bis man Gefahr läuft, die Meisterschaft
nichtferti g spielen zukönnen.Erst dann
soll man auf Geisterspiele umstellen.
Das heisst, Liga und Klubs müssen am
Montag herausfinden, wie viel Spiel-
raum überhaupt vorhanden ist, wie viele
Partien verschobenwerden können?
Letztlich muss das die Liga wissen. Sie
kennt dierechtlicheLage, kennt den
Kalender, die Situation mit dem Cup
und der Europameisterschaft. Diese
nimmt uns ja auch etwas vom Kalen-
der weg.
Wie viele Spiele kann man Ihrer Mei-
nung nach denn verschieben?
Damit beschäftigen wir uns nicht,weil es
weder unsereKompetenz noch unsere
Zuständigkeit ist, sondern Sache der
Liga.In diesemMoment soll jeder insei-
nem Kompetenzbereich bleiben,das gilt
für alles. Es gibt dieRegierungs-Kompe-
tenz inklusive der Kantone, es gibt Orga-
nisationen wie die Liga und Einzelorga-
nisationen wie unsKlubs. Jeder muss in
seiner Struktur das Beste machen und
sich nicht bei anderen einmischen.Aber:
Wir fordern die Liga auf, an die Grenze
zu gehen. Die Angelegenheit ist aller-
dings komplex, weil manauch Sperr-
daten berücksichtigen muss.
Es ist verständlich, dass die Klubs Geis-
terspiele vermeidenwollen: Rund 30 bis
40 Prozent der Einnahmenwerden an
Spieltagen generiert.Wie schwer würden
die Verluste in Thun wiegen?
Die genannten Zahlen sind eher grob
gerechnet. In unseremFall machen die
Spieleinnahmen auf 10 MillionenFran-
ken Budget 2 Millionen aus, also rund
20 Prozent.Dann gibt es auch Spiele, die
uns mehr kosten,als si e einbringen,weil
wir etwa wenig Zuschauer, dafür hohe
Sicherheitsausgaben haben. Amkom-
mendenWochenende müsste eigentlich
bei uns das Derby gegenYB stattfinden,
die Partie mit den stärksten Einnahmen.
Findet sie als Geisterspielstatt, fli essen
rund 70000 Franken die Aare runter.
Wie viele Geisterspiele würde der FC
Thun verkraften?
(Überlegt lange)Das habe ich noch
nicht gerechnet.Das kann ich so auch
nicht sagen. Man müsste schauen, wie
man mit der Gesamtsituation wirtschaft-
lich umgeht, ob man Beiträge undKos-
ten umlenken kann.Das müsste man in
Ruhe bedenken, und es ist jetzt zu früh,
sich Gedanken darüber zu machen.Wir
dürfen momentan auch nicht nur die
wirtschaftliche Situation vorantreiben.
Zuerst brauchen wir Klarheit in den
Handlungen.
Trotzdemwäre es verständlich,wenn Sie
bereits anWorst-Case-Szenarien däch-
ten. Ihr Klubkämpft ohnehin schon jede
Saison ums Überleben. Kö nnten zu viele
Geisterspiele nicht schnell zurBedro-
hungwerden?
Ja, aber wenn der Grund dafür das
Coronavirus ist, dannreden wir von
ganz anderen Problemen als jenen, die
wir im Allgemeinen haben. Dann wird
es viel gravierendere Situationen geben,
und wir müssen nicht ein einzelnes Pro-
blem wie dasjenige desFussballs heraus-
picken. DieFrage ist legitim. Aber ich
mache da nicht mit, sonst überheizen
wir einThema, bevor wir überhaupt
wissen, in welche Richtung die Situa-
tion geht, die Ereignisse gehen.Da müs-
sen wir denBall flach halten und die-
jenigen arbeiten lassen, die drauskom-
men. Wir hatten schon Schlimmeres auf
dieserWelt.
Gibt esFonds oderVersicherungen, die
grössereVerluste decken würden?
Es gibt bescheidene Versicherungs-
lösungen, aber ich weiss im Moment
noch nicht einmal, ob wir eine haben.
Muss der Fussball künftig ein derartiges
Auffangnetz für die Klubs einrichten?
Es ist immer so, wenn man ein solches
Ereignis erlebt hat. Man meint dann,
einen Fonds einrichten zu müssen.
Aber ich sage Ihnen:Das nächste Er-
eignis wird genau eines sein, das einen
anderenFonds benötigt.Das Leben ist
ein Risiko. Das wird uns in diesenTa-
gen wieder vorAugen geführt,nachdem
wir seit siebzigJahren und dem Zwei-
ten Weltkrieg nichts Ähnliches mehr
erlebt haben.Davor gab es die Spani-
sche Grippe und den ErstenWeltkrieg.
Das waren drei Ereignisse, die die Men-
schen aus derBahn warfen.Aber in die-
ser Kategorie wollen wir noch nicht den-
ken. Wenn man sieht, wie vielePerso-
nen angesteckt wurden und wie viele
daran gestorben sind,dann bin icheher
ruhig. Sonst müsste man aufhören,Auto
zu fahren.
Befürchten Sie nicht, dass sich ein Klub-
mitglied oder einer Ihrer Spieler infizie-
ren könnte?
Das würde bedeuten, dass sich das Er-
eignis ausbreitet und eskein Einzelfall
wäre.Aber das befürchte ich noch nicht.
Das Risiko, zu sterben, ist bei den jun-
gen Fussballern ohnehin geringer. Es
«verwütscht» eher den alten Präsiden-
ten wie mich. Die Spielerkönnen dann
immer noch «weiterschutten».
Vielleicht nicht, dann müssten sie in
Quarantäne.
Ich glaube, es hatkeinen Sinn, über die-
ses Szenario zureden. Ich willkein Öl
ins Feuer giessen.
Die Realität des SchweizerFussballs amWochenende: keine Spiele, leere Stadien und leere Kassen. JEAN-CHRISTOPHE BOTT / KEYSTONE
«Es ‹verwütscht›
eher den alten
Präsidenten wie
mich.»
Markus Lüthi
PD Präsident des FCThun
«Ich glaube, wir stehen
vor einem gesellschaft-
lichen Problem, das
weltweiten Charakter
annimmt.»