Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1
Gäbe es eine Nationalmannschaft für Langschläfer, wäre ich garantiert im Team, denn ich kann überall tief und lan-ge schlafen. Mich verfolgte mal eine Weile ein Traum, aus dem ich oft hochschrak, weil ich dachte, dass ich meine Hausaufgaben nicht erledigt hätte. Nach dem Aufwachen dämmerte mir dann, dass ich weit über dreißig bin und gar nicht mehr zur Schule gehe. Dieses Erlebnis hatte ich ver-mutlich tief sitzenden Unsicherheiten zu verdanken. Dabei war die Schulzeit für mich überhaupt kein Albtraum. Ich war zwar nicht besonders gut, mochte aber die Kamerad-schaft mit meinen Schulfreunden. Ich bin in einem unpolitischen Elternhaus aufgewachsen. Als Teenager hörte ich viele Singer-Songwriter der Sechzi-ger und amerikanischen Soul. Beide Genres gehörten zum Sound

track der Bürgerrechtsbewegung, und so bekam auch

ich durch die Texte der Songs ein Gefühl für Politik. Für mich waren Bob

Dylan und Marvin

Gaye besonders wichtig,

weil sie mir zeigten, dass Musik mehr als nur Entertainment sein kann. Im 20.

Jahrhundert war Musik eine Art soziales

Netzwerk – sie verband junge Menschen mit

ein

an

der und

überwand Klassenschranken. Als Teenager machte ich in der Küche meiner Mutter Musik mit Wiggy, meinem Kumpel von nebenan. Der brachte mir bei, wie man Gitarre spielt, und wir zwei hatten einen ein-

zigen Traum: Wir wollten eines Tages auf Tournee durch die USA gehen. Zu diesem Zweck gründeten wir die Band Riff Raff. Leider kam die nicht sehr weit. Jahre später spielte der Radio-DJ John Peel in seiner BBC-Sendung meine erste Solo-platte, auch das fühlte sich an wie ein Traum. Früher konnten sich so viele Menschen, die ich kannte, auf John Peel einigen. Heute wird natürlich immer noch sehr viel Musik gehört, aber solche Figuren wie Peel gibt es nicht mehr. In meinen Anfangsjahren als Singer-Songwriter bekam ich schließlich das Angebot, im Vorprogramm der britischen Band Echo & the Bunnymen durch die USA zu touren. Sie sagten, ich könnte einen Platz in ihrem Bus bekommen und dürfte sogar einen Roadie mitnehmen. Da erinnerte ich mich an unseren alten Traum. Ich rief also meinen Freund Wiggy an und sagte: »Lass alles ste-hen und liegen und komm mit mir in die USA! Vermutlich werden wir nie wieder so eine

Chance bekommen.« Also

nahm Wiggy sich Urlaub, und wir tourten sechs Wochen lang von der einen Küste zur anderen. Schließlich kamen wir in Los Angeles an, mieteten uns ein Auto und fuhren zum Strand von Santa Monica. Dort angekommen, zogen wir Schuhe und Strümpfe aus und liefen ins Wasser, wäh-rend die Sonne unterging. Wir fühlten uns unserem ge-meinsamen Teenager-Traum, unseren Teenager-Seelen tief

verbunden. In diesem Augenblick wurde uns bewusst, dass sich unser Wunsch erfüllt hatte. Es war für uns beide ein sehr emotionaler Moment. Ich habe immer Träume bevorzugt, die wahr werden kön-nen. Alles andere läuft doch auf eine ewige Enttäuschung hinaus. Was die Welt wirklich braucht, sind Träumer, die daran arbeiten, ihre Träume zu verwirklichen.

»Wir liefen ins Wasser, während die Sonne unterging«


Billy Bragg, 61, ist in Barking geboren, das heute ein Stadtteil von London ist. Er wurde in den Achtzigerjahren als Singer-Songwriter bekannt, unter anderem mit dem Song »A New England«. Er unterstützte streikende Bergarbeiter und die Labour Party. Soeben erschien von ihm das Buch »Die drei Dimensionen der Freiheit. Ein politischer Weckruf« (Heyne) Foto Clara NebelingAufgezeichnet von Christoph DallachZu hören unter http://www.zeit.de/audio
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