Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1

An diesem Wintertag weht in der norditalienischen Stadt
Gallarate ein heftiger Wind. Er pfeift so laut, dass man Angst
haben muss, er könne das gesamte Haus wegwehen. Hele-
na Janeczek, 55, sitzt auf ihrem Sofa, neben sich ein Glas
Mineralwasser. Etwa alle drei Minuten zieht sie an einem
Tabakerhitzer statt an einer Zigarette. Ihre Wohnung liegt
im fünften Stock eines Siebzigerjahre-Baus im Zentrum der
Stadt, mit Blick auf die verschneiten Alpen. Der Boden ist,
typisch italienisch, überall gekachelt, an den Wänden hängen
Fotos verstorbener Verwandter. Hier, etwa 40 Kilometer von
Mailand entfernt, wohnt sie mit ihrem 19-jährigen Sohn und
zwei Katern. Das Interview dauert acht Stunden, Janeczek
kocht zwischendurch Mittagessen. Am Abend verlagert sich
das Gespräch in eine Osteria.


Frau Janeczek, Sie haben ziemlich viele Wurzeln. Ihre Eltern
waren polnische Juden. Sie selbst wurden 1964 in München
geboren und sind dort zur Schule gegangen. Nach dem Abi
haben Sie sich eine weitere Heimat gesucht, hier in Nord­
italien. War es unter diesen Umständen besonders leicht
oder besonders schwer, in einem neuen Land anzukommen?
Es war leicht. In Deutschland habe ich mich immer irgend-
wie belastet gefühlt. Die Ausreise habe ich herbeigesehnt,
vielleicht war sie auch eine Art Flucht.
Eine Flucht weg aus Deutschland oder weg von Ihren Eltern?
Beides, denke ich. Ich hatte das Gefühl, ich würde meine
Rolle – die der Tochter von Auschwitz- Über le ben den –
nie loswerden. In Italien war ich leichter, unbeschwerter.
Und ich konnte schon Italienisch, habe mich hier also
schnell eingelebt.
Wann haben Sie die Sprache gelernt?
In meiner Kindheit schon, im Urlaub. Wir waren ei-
gentlich immer in Italien, wenn wir nicht in Deutschland
waren. Meine Eltern haben sich vom ersten Geld, das üb-
rig war, nicht etwa eine Wohnung in München gekauft,
sondern ein Haus am Lago Maggiore. Wir haben alle
Ferien in Italien verbracht, lange, sehr schöne Sommer.
In München hatte Mutter einen Laden mit italienischen


Schuhen. Sie war eine Dame mit gutem Geschmack, ein
bisschen hat sie sich auch als Italienerin inszeniert, »sìsì-
sìsì!«, hat sie immer gerufen. Ich denke, für sie war das
auch eine Art Flucht. In Italien waren meine Eltern stre-
ckenweise glücklich, in Deutschland haben sie sich nie
wirklich sicher gefühlt. Dass sie im Land der Täter waren,
konnten sie nicht vergessen.
Warum sind Ihre Eltern nicht auch nach Italien gezogen?
Manchmal sah es danach aus. Aber woher sollten sie die
Kraft nehmen, ein weiteres Mal irgendwo neu anzufangen?
Für mich war es letztlich gut, dass wir durch meinen Umzug
etwas Abstand hatten. Mutter und ich haben viel gestritten.
Was Ihre Eltern während des Zweiten Weltkriegs erlebt hat­
ten, haben sie Ihnen lange nicht erzählt. Sie schrieben mal,
dass Sie Ihnen dankbar seien für dieses Schweigen. Warum?
Es gibt Überlebende, die das, was ihnen widerfahren ist,
irgendwie aufbrechen und vermitteln konnten. Aber das
sind nur wenige. Die meisten haben entweder geschwiegen
oder den Holocaust wie einen kontinuierlichen Albtraum
vor sich hergetragen. Das Schweigen war mir lieber. Es war
ihr Selbstschutz, aber auch ein Schutz für mich.
Was wissen Sie heute von der Zeit Ihrer Eltern in Polen?
Mutter kam aus Zawiercie, einer südpolnischen Klein-
stadt, ihr Vater leitete dort eine große Kristallfabrik. Als
die Nazis an die Macht kamen, landete Mutter im Ghetto,
konnte aber fliehen – und sich ihrem damaligen Freund
anschließen: meinem Vater. Er, seine Geschwister und
Neffen versteckten sich bei Bauern, sie hatten alle falsche
Papiere, meine Mutter blondiertes Haar. Doch ein Teil
der Gruppe flog auf. Mutter wurde von Polen verraten
und kam ins Gefängnis. Von dort wurde sie 1944 nach
Auschwitz gebracht. Sie hat in den sogenannten Effek-
tenlagern Kanada gearbeitet, dem Bereich, in dem unter
anderem Kleidung sortiert wurde, von der die Häftlinge
bisweilen etwas klauen konnten. Am Ende landete sie in
Weißwasser, einem KZ im heutigen Tschechien.
Und Ihr Vater?
Von ihm weiß ich nur, dass er überlebt hat und nicht im
Kon zen tra tions lager gewesen ist. Bevor ich mich getraut
habe, nach Details zu fragen, ist er an einem Herzinfarkt
gestorben, da war ich zwanzig Jahre alt. Mein Vater hat-
te nicht den leicht paranoiden Schlag, den meine Mutter
hatte, aber er hatte Aspekte eines gebrochenen Menschen.
Er war derjenige, der seine Familie mobilisiert hatte, sich
zu verstecken, die meisten wurden trotzdem deportiert.
Ich glaube, dafür gab er sich die Schuld.
Was passierte nach dem Krieg?
Meine Eltern fanden sich wieder und sind zunächst in
Polen geblieben. Aber nach dem Pogrom in Kielce, bei
dem im Jahr 1946 christliche Polen über 40 Juden töte-
ten, verließen sie ihre Heimat. Sie wollten nach Amerika.
Weil sie keine Visa bekamen, blieben sie im selben Jahr als
sogenannte Dis placed Persons in München hängen. Ich
wusste als Kind gar nicht, dass ich Jüdin bin. Zum einen,
weil meine Mutter eine assimilierte Jüdin war und ihre

Helena Janeczek, 55, ist in München geboren.
1983 ging sie zum Studium der Germanistik,
Italianistik und Slawistik nach Mailand, seitdem
lebt sie in Italien. Sie arbeitete zunächst als
Scout für fremdsprachige Literatur, in Deutschland
für den Suhrkamp Verlag, in Italien für Adelphi
und Mondadori. 1989 erschien ein Band mit ihren
deutschen Gedichten bei Suhrkamp. 1999 folgte
ihr erster Roman, »Lektionen des Verborgenen«.
Ihr fünfter Roman, »Das Mädchen mit der Leica«,
für den Janeczek 2 018 den Literaturpreis Premio
Strega bekam, erscheint am 2. März im Berlin Verlag

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