Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1

Nebel liegt in großen Schwaden über den Wiesen und
Weinbergen, als ich in Mais prach eintreffe, einer kleinen
Gemeinde in der Nähe von Basel. Nur manchmal reißt
die Sonne Lücken, gibt den Blick frei auf das Dorf mit
Kirche und Marktplatz und blumengeschmückten Bauern-
häusern. Die Schokoladenseite der Schweiz, so friedlich, so
freundlich wie in der Fremdenverkehrswerbung.
Vor dem Haus, in dem ich verabredet bin, stört ein Kran-
kenwagen die Idylle. Ein offensichtlich Schwerkranker wird
hineingeschoben und hektisch abtransportiert. Daneben
eine grauhaarige Dame in einem roten Kapuzenpulli, die
den Notfall mit unerschütterlicher Ruhe managt.
»Willkommen in meinem Pflegeheim«, sagt sie. »Keine
Angst, es ist nichts ganz Schlimmes, nur eine Vorsichts-
maßnahme. Das kommt bei uns öfter vor.« Sie nimmt
mich an der Hand, so herzlich und vertraut, als würden
wir uns ständig sehen – dabei ist unsere erste Begegnung
im indischen Poona schon über 40 Jahre her und unsere
letzte, in den USA, auch schon dreieinhalb Jahrzehnte.
Hätte ich diese Frau wiedererkannt, wäre ich ihr zufällig
irgendwo über den Weg gelaufen? Ich glaube nicht.
Sheela Birnstiel ist gerade 70 Jahre alt geworden, mit ih-
ren kurzen Haaren und dem federnden Gang wirkt sie
jünger. Wer, wie die meisten Schweizer im Dorf, ihre bei-
nahe unglaubliche Lebensgeschichte nicht kennt, für den
ist sie die Leiterin zweier Einrichtungen für Schwerst-
behinderte. Vor dem einen Heim stehen wir, sie hat es
Matrusaden genannt – das ist Hindi für Mutterhaus.
Das andere, Bapusaden oder Vaterhaus, befindet sich in
einem Dorf eine halbe Stunde entfernt. Die Bezeichnun-
gen habe sie in Gedenken an ihre Eltern gewählt, sagt sie,
denen sie für immer dankbar sei.
Sheela ist in Indien geboren, als Ambalala Patel Sheela.
Ihren neuen Nachnamen verdankt sie ihrem dritten Ehe-
mann Urs Birnstiel, der Schweizer war und 1989 gestorben
ist. Kennengelernt habe ich sie als Ma Anand Sheela. Unter
diesem Namen war sie berühmt – und berüchtigt.
Sie galt als die rechte Hand des indischen Gurus Bhagwan
Shree Raj neesh. Der war in den Siebziger- und Achtziger-
jahren ein weltbekannter Philosophieprofessor und Propa-
gandist alternativer Lebensformen – ein Medienstar, der
Tausende von Jüngern aus aller Welt um sich scharte.
Bhagwan ist auch als exzentrischer Sex-Guru im Gedächt-
nis geblieben, der Dutzende von Rolls- Royce besaß, die er
sich vom Geld seiner Jünger gekauft hatte.
Sheela war anfangs seine Sekretärin und bis zum drama-
tischen Finale die Chefin des Bhagwan-Weltkonzerns, zu
dem auch in Deutschland Meditationszentren und Dis-
kotheken gehörten. Über das Hauptquartier in Oregon, in
das Bhagwan in den Achtzigerjahren gezogen war, herrsch-
te sie wie eine Königin über einen mittelalterlichen Hof.
Sie managte eine Musterkommune mit 7000 Bhagwan-
Jüngern und stand im Mittelpunkt von Intrigen und kri-
minellen Taten zur Sicherung der Macht. Nach dem Bruch
mit Bhagwan musste sie sich 1986 in den USA vor Gericht


verantworten. Sie wurde verurteilt unter anderem wegen
versuchten Mordes und eines Giftangriffs mit Salmonel-
len. Drei Jahre und drei Monate verbrachte sie insgesamt in
US-Gefängnissen, bevor sie Ende 1988 freikam.
Ihre und Bhagwans Geschichte wurde vor Kurzem in der
sechsteiligen Netflix-Dokumentation Wild Wild Country
verfilmt und war ein so großer Erfolg, dass eine Fortsetzung
gedreht wurde, die bald abrufbar sein wird. Sheela tritt darin
als Zeitzeugin auf, worauf sie sichtlich stolz ist. Bevor sie von
ihrem Leben erzählt, will sie mir ihr Pflegeheim zeigen.
Sie führt mich durch das lichtdurchflutete Haus, in dem sie
auch selbst wohnt. Sie hat bewusst auf Vorhänge und Gar-
dinen verzichtet, die Türen der Gemeinschaftsräume stehen
offen. Ein Mann drückt mir die Hand – sprechen kann er
nicht mehr. An einem Tisch im Wintergarten würfeln zwei
Demenzkranke zu einem Mensch ärgere Dich nicht-Spiel, sie
bewegen aber keine Figuren. Sheela nimmt sie in den Arm
und ermahnt sie, das Trinken nicht zu vergessen. Mit den
Patienten spricht sie Schweizerdeutsch mit deutlichem indi-
schem Akzent, mit mir in perfektem Englisch. Eine herbei-
gerufene Pflegekraft kommt mit einer großen Kanne Wasser.
29 Patienten werden in den beiden Häusern betreut, mehr
als 20 Angestellte kümmern sich um die Dementen, schwer
Körperbehinderten und Schizophrenen, darunter viele, die
keine andere Einrichtung mehr habe aufnehmen wollen.
Wärme und Gemeinsamkeit und In te gra tion seien die
Kernpunkte des Konzepts, erklärt Sheela: so viel ärztliche
Kontrolle wie nötig, so viel Geborgenheit und gemeinsam
gelebte Freiheit wie möglich.
Man kann es verblüffend finden, dass sie als ehemalige
Straftäterin so viel Verantwortung für hilflose Menschen
hat. Sie sagt, das Ganze werde vom Staat überwacht, der
regelmäßig Kontrollen durchführe und zum Unterhalt
beitrage, neben Spendern und den Patienten selbst. »Ich
bin 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche für meine
Patienten da. Mein Einsatz für eine Sache, an die ich glau-
be, ist bedingungslos und absolut – so war es immer.«
Sheela, die Geläuterte, die Wohltäterin, die Kranke auf-
opfernd und bis in den Tod betreut? Beweis dafür, dass es
immer noch eine zweite und dritte Chance geben kann,
geben muss, trotz einer verbrecherischen Vergangenheit?
In ihrem Heim hat sie dafür gesorgt, dass die Vergangenheit
gegenwärtig bleibt: Überall Bilder von Sheela, mal sind es
kleine Porträts, mal ist sie mit ihren Eltern zu sehen. Und da
ist auch Bhagwan. In ihrem Schlafzimmer zeigt ihn ein gro-
ßes Foto, sie serviert dem Meister darauf Champagner und
schaut ergeben zu ihm auf. »Er ist und bleibt meine große
Liebe«, sagt sie. »Trotz allem, was zwischen uns passiert ist.«
Wir machen es uns im Wintergarten zum Gespräch bequem,
mit einigen Unterbrechungen wird fast ein ganzer Tag da-
raus: eine Achterbahnfahrt durch ein Berg-und-Tal-Leben.

Kennengelernt habe ich Sheela 1978, und das verdanke
ich hauptsächlich Henri Nannen. Der damalige Chef-
redakteur des sterns hatte gerade den Abgang eines Star-

Vo n ERICH FOLLATH 22 Fotos DIANA PFAMMATTER

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