Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1
FOTO: KAY NIETFELD/DPA

W


er in diesen Tagen in die
Münchner Hausarztpraxis
von Christoph Grassl stol-
pert, muss einen Hürdenlauf
bewältigen: Vor dem Eingang
steht ein Desinfektionsmit-

telspender samt Hinweis, sich zu bedienen.


Dahinter wartet eine Arzthelferin in


Schutzkittel und mit Gesichtsmaske, sie


stellt drei Fragen: „Haben Sie Erkältungs-


symptome oder hohes Fieber?“ Bei einem


Ja erhält der Patient sofort einen Mund-


schutz. Dann fragt sie: „Waren Sie in den


letzten 14 Tagen im Ausland und wenn ja,


wo?“ Und: „Hatten Sie Kontakt zu Patien-


ten mit einer Coronavirus-Infektion?“


Wer Verdacht erweckt, darf nicht ins

Wartezimmer, sondern muss sich mit der


Wartezone des Diagnostiklabors begnügen.


Grassl praktiziert „vorbeugende Isola-


tion“. So will er verhindern, dass seine


Praxis zur Virenschleuder wird. Das ist vor-


bildlich, ganz so, wie es das Robert Koch-


Institut empfiehlt.


Und leider die völlige Ausnahme.
Das Bild der Krise spiegeln andere Ge-

schichten. Etwa die von Oliver Giebel*, der


im Raum Aachen eine Hausarztpraxis hat.
Keine 20 Kilometer entfernt von Gangelt,
jenem Ort, wo sich nach einer Karnevals-
sitzung bis Redaktionsschluss um die 80
Menschen im Umkreis mit dem Virus an-
gesteckt hatten. Schulen und Kitas wurden
geschlossen, 1000 Menschen standen zeit-
weise unter Quarantäne. Täglich rufen bei
Oliver Giebel Patienten an, die mit jeman-
dem von der Sitzung zu tun hatten und
nun niesen oder schniefen. Wie er den
Andrang bewältigen soll, weiß er nicht.
Giebel fühlt sich alleingelassen. Wie auch
die Ärztin in Südhessen, die einen Patien-
ten untersuchte, der auf Asienreise war
und mit einem „hochfieberhaften Infekt“
zurückkam. Sie erkundigte sich beim Ge-
sundheitsamt, erhielt mehrere E-Mails
mit Formularen – und blieb ratlos.
Das Coronavirus ist ein Stresstest für
das deutsche Gesundheitswesen. Doch
Deutschland sei bestens auf ihn vorberei-
tet. Das versichern zumindest Politiker
und Funktionäre wie Gesundheitsminis-
ter Jens Spahn (CDU) oder Bundesärzte-

*Name geändert

Deutschland sei gut


vorbereitet auf eine


Epidemie, heißt es.


Die Wirklichkeit sieht


etwas anders aus


KÖNNEN


WIR


KRISE?


Von Bernhard Albrecht
und Andreas Hoffmann

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn berät
sich vor einer Pressekonferenz mit Experten

TITEL


34 5.3.2020

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