Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1

F


ür die Pendler aus der Trabanten-
stadt El Alto beginnt jeder Tag
mit einem echten Abenteuer.
Mit einem Schwebeflug durch
den Himmel, wie sie es nennen.
Mit Kino im Hochgebirge.
Mit einer Reise durch ein ver-
ändertes Land.
Bis vor Kurzem brauchten sie
in stickigen Mikrobussen zwei Stunden
über Serpentinen und durch dichten Ver-
kehr aus El Alto, der höchstgelegenen Groß-
stadt der Welt (4100 Meter), hinunter in den
Süden von La Paz auf bis zu 3200 Metern.
Nun gehen sie einfach zur Seilbahnsta-
tion Qhana Pata, die wie so viele einen
indigenen Namen trägt. Steigen in eine
Gondel der gelben Linie und schweben im
Morgengrauen eine Viertelstunde lang fast
lautlos auf die schneebedeckten Berge der
Anden zu. Dicht über einfache Hütten hin-
weg, hinter denen indigene Frauen in bun-
ten Gewändern Wäsche waschen. Über
schmale Gassen, in denen Kinder in Schul-
uniformen Fußball spielen und Polizisten
mit schweren Waffen auf Patrouille gehen.

Täglich fahren sie dieselbe Strecke im
„Teleférico“, der Metro der Lüfte. Doch noch
immer entdecken sie Neues: Paare, die sich
lieben. Paare, die sich streiten. Nachbarn,
die Hühner schlachten. Jedes Mal spielen
sich vor ihren Augen neue Episoden ab,
eine Art Realityshow der Anden.
Gleichzeitig ist es eine Fahrt durch ein
verändertes Land. Es heißt nicht mehr Re-
publik Bolivien, sondern Plurinationaler
Staat Bolivien, um alle 36 indigenen Völ-
ker zu berücksichtigen. Wenn die Pendler
über die Militärkaserne schweben, hissen
Soldaten zum Frühappell gerade die neue,
bunt karierte Flagge „Wiphala“, ein Symbol
indigener Selbstbestimmung, die der Na-
tionalflagge gleichgestellt ist. Zwischen
den roten Backsteinhütten entdecken sie
immer häufiger knallbunte Häuser, die
„Cholets“, die neue indigene Architektur
des Künstlers Freddy Mamani. Und Frau-
en vom Volk der Aymara, die zum Arbeiten
nicht mehr nur auf den Markt gehen, son-
dern in Kanzleien und ins Parlament.
Bolivien ist in den 14 Jahren unter
Ex-Präsident Evo Morales indianischer

Zweimal pro Woche füllen
Marktstände die Straßen von
El Alto; der Teleférico, die
Seilbahn, schwebt hinüber. Die
nächste Station ist nicht weit

NUR FÜNF METER


PRO SEKUNDE:


DA BLEIBT VIEL ZEIT


ZUM ENTDECKEN,


ZUM PLAUDERN


60 5.3.2020
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