Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1
FOTOS: AFP/GETTY IMAGES; FACE TO FACE

Erst war es ein blauer Briefkasten, den er
bei seinen Konzerten aufstellte. Jeder
konnte etwas auf Zettel schreiben, Wörter,
Sätze, was den Fans gerade durch den Kopf
ging. Später sammelte er alle Zettel ein und
las sie, die „blue thoughts“, die blauen Ge-
danken. Und viele aus dem Publikum hat-
ten „sad“ und „dark“ draufgeschrieben, also
traurig und dunkel, oder eben direkt „De-
pression“.
Eigentlich will das kein Sänger nach sei-
nen Konzerten lesen oder hören, aber bei
ihm ist das anders. Für die Traurigen und
die im Dunklen singt er.
Er, das ist der 25-jährige Ari Staprans
Leff, ein Amerikaner mit lettischen Vor-
fahren, der sich Lauv nennt, was auf let-
tisch Löwe heißt.
Lauv ist ein ruhiger, fast schüchterner
Mann mit kurzen Haaren, die mal weiß
blondiert sind oder auch mal blau
schimmern wie bei einer Figur aus einem
Computerspiel. Er kann präzise von dem
erzählen, was in der Popmusik zurzeit das
beherrschende Thema ist.
Und so erzählt Lauv beim Treffen in Lon-
don vom Schatten im Kopf, vom Trübsinn,
der sich über den ganzen Tag legt, von der
Traurigkeit in jedem Milchkaffee und je-
dem Donut. „Ich will nicht für immer trau-
rig sein, ich will gar nicht mehr traurig
sein“, heißt es übersetzt in seinem Song
„Sad Forever“.
In Deutschland ist Lauv bei denen, die
etwas älter sind, nicht so bekannt; bei 14-
bis 20-Jährigen verhält es sich aber ganz
anders. Denn die ruhige, sparsam instru-
mentierte Art seiner Musik mit einem sehr
einnehmenden Groove ist Teil der jungen
Lebenswelt geworden – ähnlich wie die
dunklen Lieder von Billie Eilish. Elektro-
pop mit viel Bassklang, in dem sich die
Stimmen treiben lassen. Nie laut, nie
schreiend, allenfalls kantig.
Nicht von ungefähr kamen die Organi-
satoren der diesjährigen Oscar-Verleihung
auf die Idee, Billie Eilish auf der Bühne zur

Erinnerung an verstorbene Holly-
wood-Größen das Beatles-Lied „Yesterday“
singen zu lassen. Eilish verkörpert wie kei-
ne andere den Sound des Sad.
Es ist der Klang der Teenagerseelen; er
gibt dem, was sie denken, wenn sie jeden
Tag auf Snapchat, Whatsapp oder Insta-
gram leben, eine Gestalt. Denn dort auf
dem Smartphone tobt sich Pubertät und
das Erwachsenwerden mit Ausrufezeichen
aus – alle sind schöner, besser, haben mehr
Freunde und sowieso.
Das ist anstrengend, wenn man jung ist,
und es macht einen traurig, wenn man mit
dieser rasenden Sofortigkeit – Chat beant-
worten, Bild posten, Wer hat mich geliked?,
Wer hat nicht geliked?, wieder Chat beant-
worten – nicht mitkommt.
Und genau davon erzählen Lauv und
Billie Eilish oder auch Ariana Grande und
Justin Bieber, der in seinem Lied „Chan-
ges“ der Social-Media-Rasanz mit demons-
trativer Bedächtigkeit antwortet. Da heißt
es etwa: „An manchen Tagen will ich ein-
fach nichts tun.“ Außerdem verweist er auf
den Schmerz, der sich manchmal hinter
seinem Lächeln verberge. Nur kurz glimmt
der Verdacht auf, dass „mental illness“, also
mentale Störungen, wohl sehr in Mode ist.
Selbst wenn es so wäre, hat es den Neben-
effekt, dass endlich mal über diese Störun-
gen gesprochen wird.
In den USA wird Depression bei 20 Pro-
zent der Teenager diagnostiziert. Doch bei
etwa 60 Prozent der mental auffälligen
Teenager kommt es gar nicht erst zur
Diagnose, „weil es schwer ist, jemanden zu
finden, der das versteht“, wie Lauv sagt.
Nur in der Musik finden sie sich wieder.
„Ich versuchte zu schreien, doch mein Kopf
war unter Wasser“, singt Billie Eilish. Und
wer in der Suchmaschine Genius.com die
Begriffe „Depression“ oder „sad“ in Lieder-
texten sucht, erhält eine sehr lange Tref-
ferliste.
„Wird Popmusik immer trauriger?“, frag-
te schon 2018 das britische Magazin „I-D“,

und auch wer nur ab und an Radio hört,
fragt sich in etwa das Gleiche. Wenn Lauv
da schön von „Fuck, I’m Lonely“ oder „I’m
so Tired“ singt. Schön? Es ist, wie mit einem
Freund zu reden. Popmusik wird durch die
neue Melancholie auf einmal lebensnah.
Lauvs blauer Briefkasten ist mittler-
weile einer Videokabine gewichen, in der
seine Fans ihre „blue thoughts“ einem
Bildschirm erzählen können, der sie auf
eine Website überträgt. So entsteht eine
weltweite Karte der Traurigkeit und Dark-
ness, das Wort „happy“ kommt auch vor,
aber selten. Egal, ob in Tokio, New York oder
Hamburg.
Und er, Lauv selbst? Er erzählt das sach-
lich, beinahe lakonisch. Geboren in San
Francisco, sei er bei einem depressiven
Vater aufgewachsen, und auch seine zwei
Schwestern seien schon wegen seelischer
Probleme in Behandlung gewesen. Viel-
leicht ist es also genetisch bedingt, viel-
leicht war es auch „chemisch“, also irgend-
wie drogeninduziert, wie er sagt, aber auch
er ist einige Jahre in Behandlung gewesen.
Selbstmordgedanken, Trübsinn, alles da-
bei. Aber sein Therapeut sei gut gewesen
und die Medizin auch. „Es muss raus,und
du brauchst jemanden, der dir zuhört“, sagt
Lauv. Ein wiederkehrendes Muster gebe es
in der Depression nicht: „Das passiert bei
jedem aus anderen Gründen. Wenn du
jung bist, merkst du es auch erst gar nicht.“
In der Highschool zum Beispiel, da wuss-

E


Depressionen
für Millionen:
Junge Fans, hier
in Texas, fühlen
sich von den
Liedern von Billie
Eilish verstanden

POP WIRD


PLÖTZLICH


LEBENSNAH


66 5.3.2020
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