Focus - 22.02.2020

(Sean Pound) #1
POLITIK

Foto: Peter Wolff für FOCUS-Magazin

38 FOCUS 9/2020

Vor fast 27 Jahren starb auf den Gleisen in Bad Kleinen der RAF-Terrorist Wolfgang Grams. Hier


erklärt Einsatzleiter Rainer Hofmeyer, wie ein „Spiegel“-Reporter die Öffentlichkeit täuschte


„Das Sturmgeschütz wollte uns sturmreif schießen“


N


iemand wusste Genaues,
aber alle glaubten eines zu
wissen: Schuld war Rainer
Hofmeyer. Der hohe Beam-
te im Bundeskriminalamt
(BKA) galt schon wenige
Tage nach dem polizei-
lichen Einsatz in Bad Kleinen am 27. Juni
1993 als verantwortlich für alles, was bei
dem Zugriff tatsächlich oder ver-
meintlich schiefgelaufen war.
Hofmeyer, Chef der Abteilung
Terrorismusbekämpfung im BKA,
hatte den Einsatz in Bad Kleinen
geleitet. Ein GSG-9-Kommando
hatte zwar eine RAF-Terroris-
tin, Birgit Hogefeld, festgenom-
men. Zwei Menschen aber waren
gestorben – der Polizist Michael
Newrzella und der RAF-Mann
Wolfgang Grams. Zwei Medien
(das TV-Magazin „Monitor“ und
der „Spiegel“) setzten den fal-
schen Verdacht in die Welt, Grams
sei von einem Polizisten hinge-
richtet worden. Die Titelstory des
„Spiegel“ („Der Todesschuß“) mit
den Aussagen eines angeblichen
Zeugen der „Exekution“ brachte das Land
zum Beben. Innenminister Rudolf Sei-
ters trat zurück, etliche Spitzenbeamte
verloren ihre Jobs. Hofmeyer wurde im
BKA versetzt.
Der für die längst widerlegte „Spie-
gel“-Story verantwortliche Journalist
Hans Leyendecker beteuerte über 26 Jah-
re, er habe seinen Zeugen getroffen, des-
sen Identität und Glaubwürdigkeit streng
geprüft. Seit einigen Monaten untersucht
eine interne Kommission des „Spiegel“
die damalige Recherche Leyendeckers.
Mit FOCUS sprach Hofmeyer jetzt über
den blutigen Zugriff von Bad Kleinen –
über die eigene Verantwortung und die
Glaubwürdigkeit von Journalisten.

Herr Hofmeyer, haben Sie selbst Fehler
vor und nach Bad Kleinen gemacht?
Ich stehe zu meiner übergeordneten
Verantwortung, aber meine Abteilung
hat keine taktischen Fehler gemacht. Wir
haben der für den Zugriff verantwortli-

chen GSG 9 zwei mit Haftbefehl gesuchte
Terroristen präsentiert.
Sie wussten sehr früh von einer Zeugin, die
gesehen haben wollte, dass Polizisten
den liegenden Grams erschossen. Warum
haben Sie diese Information über mehrere
Tage für sich behalten?
Weil die Erstinformation, die ich erhielt,
schon zeigte, wie widersprüchlich diese

Zeugenaussage war. Es wäre unverant-
wortlich gewesen, die Information sofort
auf den Markt zu tragen. Am Montag
nach dem Einsatz in Bad Kleinen rief
mich der Leiter der Sonderkommission
an. Er sagte: Herr Hofmeyer, wir haben
eine Zeugin, die behauptet, der am Boden
liegende Grams sei erschossen worden.
Der Beamte sagte auch, dass diese Aussa-
ge nicht mit dem Spurenbild zusammen-
passe und dass die Zeugin betrunken sei.
Er sicherte mir Nachermittlungen zu und
einen baldigen Bericht mit der Zeugen-
aussage und einem erklärenden Vermerk.
Dieser Bericht ist aber über mehrere Tage
nicht gekommen.
Hätten Sie nicht Ihren Vorgesetzten,
den Vizepräsidenten des BKA, sofort
in Kenntnis setzen müssen – und den
Innenausschuss des Bundestags?
Der BKA-Vize verstand nichts von Poli-
zeiarbeit. Er wollte nicht, dass das BKA die
Todesermittlungen im Fall Grams führt. Er
hat uns ständig dazwischengefunkt.

Und der Innenausschuss?
Das waren polizeiliche und staatsan-
waltliche Angelegenheiten. Ich war der
Politik gegenüber nicht berichtspflichtig.
Aber die Zeugenaussage war hochpolitisch.
In der Tat. Hätte sie sich bewahrheitet,
hätte sie einen Staatsnotstand ausgelöst.
Aber auch dann hätte ich diese Informa-
tion nicht einfach veröffentlicht. Ich wäre
zum Bundeskanzler gegangen.
Was wäre passiert, wenn Poli-
zisten einen wehrlosen Terroris-
ten hinrichten? Die RAF hätte
an jeder Straßenecke Polizisten
erschießen können – und hätte
sich noch nicht mal groß rechtfer-
tigen müssen. Ich hielt diese Erst-
information zurück, um Schaden
vom Land abzuwenden.

FOCUS berichtete in der ver-
gangenen Woche über die Ab-
schrift eines Telefonats, das der
„Spiegel“-Kommission vorliegt.
Sämtliche Lügen und Falsch-
informationen, die Leyendecker
als Aussagen seines „Zeugen“
ausgab, stammen in Wahrheit
aus dem Gespräch mit einem anonymen
Anrufer, den Leyendecker nie traf und
dessen Seriosität er nicht geprüft hatte.

Wie beurteilen Sie Hans Leyendecker?
Leyendecker hat den Sachverhalt ge-
fälscht. Als der anonyme Anrufer ihm
erzählte, er habe gesehen, wie Birgit
Hogefeld das Feuer eröffnet habe, muss
der Reporter gewusst haben, dass diese
Information nicht stimmt. Sie ist ja auch
im Artikel unterschlagen worden. Leyen-
decker nutzte dennoch die Aussage des
Anrufers, Grams sei hingerichtet worden,
obwohl er wusste, dass sein Informant
nicht glaubwürdig war. Ich halte das für
eine Fälschung der Story. Die Fälschung
besteht darin, dass er die Informationen
weggelassen hat, die den Zeugen als wert-
los enttarnten.
Hat sich Leyendecker später bei
Ihnen entschuldigt?
Ja. Wir haben uns 1994 außerhalb des
BKA getroffen, denn für die Behörde

Noteinsatz Sanitäter versorgen den RAF-Mann Wolfgang Grams,
der sich im Bahnhof von Bad Kleinen selbst in den Kopf schoss
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