Focus - 22.02.2020

(Sean Pound) #1
ENTWICKLUNGSHILFE

Fotos:


Ute Grabowsky/photothek.net, Hermann Bredehorst/laif


FOCUS 9/2020 45

das sich durch verschiedene Länder süd-
lich der Sahara erstreckt, ist eine strate-
gische Priorität der deutschen Außen-,
Sicherheits- und Entwicklungspolitik.
Im gesamten Sahel hat sich die Situa-
tion seit 2012 wegen der Destabilisierung
Libyens dramatisch verschlechtert. Maro-
dierende islamistische Gruppen, die sich
problemlos zwischen den Ländern bewe-
gen, überfallen Dörfer und Grenzposten,
verüben Anschläge und terrorisieren die
lokale Bevölkerung. Die Zerschlagung
der Terrororganisation IS verschärfte die
Lage nochmals, weil die Kämpfer aus
Syrien und dem Irak sich im Sahel erneut
sammeln. Auch Boko Haram hat dem IS
die Treue geschworen.
Tausende Menschen wurden allein
im vergangenen Jahr getötet, Hundert-
tausende ergriffen die Flucht, mehr als
3,2 Millionen sind auf humanitäre Hil-
fe angewiesen. Menschenhandel und
Schmuggel sind im gesamten Sahel ein
Problem. Entstünde hier eine ähnliche
Situation wie 2014 in Syrien, in der betrof-
fene Staaten vollends die Kontrolle ver-
lieren, wird Europa eine neue Flüchtlings-
welle drohen. „Wenn die Staatlichkeit
im Sahel zerbricht, geht der Zug auch in
Richtung Europa“, ist sich Müller sicher.
Die deutschen Bemühungen sind letzt-
lich also aktive Terrorbekämpfung und
Migrationsprävention.
Müller hastet zurück zum gepanzerten
UN-Wagen, der ihn zum nächsten Termin
bringt. Nur ein kleiner Stab von Mitarbei-
tern, seine Ehefrau Gertie Müller-Hoorens
und zwei Journalisten begleiten ihn. Mül-
ler ist mit muslimischen und christlichen
Geistlichen verabredet. Seine wichtigste
Frage an sie: Worin wurzelt der Fanatis-
mus? „Hier geht es nicht um Religion“,
sagt er nach dem Gespräch: „Es geht
um Jugendliche, die keine Jobs haben.
Wenn Terroristen ihnen etwas Geld ver-
sprechen, fällt es leicht, sie zu
rekrutieren.“
In Berlin diskutiert man der-
zeit über die Option, das deut-
sche Militärmandat für Mali zu
erweitern, wo 1100 Soldaten
stationiert sind. Aber Müller ist
skeptisch. „Mit militärischen
Mitteln allein werden wir die-
sen Konflikt nicht lösen“, glaubt
er. „Hinter der Krise in der
gesamten Sahelregion stehen
vor allem Konflikte um immer
weniger Wasser und Weideland.
Wenn nichts bleibt und keiner

Militär und Entwicklungshilfe. Nur wenn
wir den Menschen eine Lebensperspekti-
ve bieten, können wir Radikalisierung und
Terror wirksam begegnen.“
Müllers Interesse für die Menschen in der
Region ist aufrichtig. Egal, ob Flüchtling
oder Gouverneur: Er begegnet jedem auf
Augenhöhe, mit demselben Respekt, ver-
breitet das Gefühl: Ich nehme euch ernst.
In seinen sechseinhalb Jahren im Job
hat der Minister dazugelernt. Anfangs
setzte Müller, etwa beim Textilbündnis für
faire Bedingungen in der Modebranche,
noch auf die freiwillige Kooperation von
Unternehmen, jetzt will er ver-
bindliche gesetzliche Regelun-
gen. „Freiwilligkeit hat ihre
Grenzen“, sagt er. „Wir brau-
chen Regeln für die globalen
Märkte.“
Schon vor einigen Jahren rief
der CSU-Politiker einen soge-
nannten „Marshallplan mit
Afrika“ aus, um Handelsbezie-
hungen und Bildung zu verbes-
sern. Nun will er das auch auf
EU-Ebene. Die Afrikanische
Union hat kürzlich eine kon-
tinentweite Freihandelszone

geschaffen. Darauf solle Europa reagie-
ren, den „EU-Afrika-Pakt“ aushandeln.
Neben der Bekämpfung von Armut,
Ausweitung des geplanten „Green Deal“
und einem Migrationsabkommen soll der
Pakt den Handel zwischen beiden Konti-
nenten neu regeln und auf EU-Seite die
hohen Zölle abschaffen. Davon will er
auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula
von der Leyen (CDU) überzeugen. Europa
dürfe Afrika nicht länger nur als billigen
Rohstofflieferanten und als Markt für sub-
ventionierte Agrarprodukte behandeln,
sondern solle auf Wertschöpfung vor Ort
setzen.
Endspurt im nigerianischen Maiduguri.
Bevor der Minister und seine kleine En-
tourage wieder in den UN-Flieger steigen,
steht noch ein ganz besonderer Termin
auf dem Programm: die Begegnung mit
ehemaligen Boko-Haram-Kämpfern. Er
trifft sie in einem Zentrum von Unicef, das
minderjährige Aussteiger drei Monate
lang aufnimmt. Die Teenager wirken nicht
wie „Gotteskrieger“: Einige von ihnen
sitzen vor großen Spiegeln und hantieren
mit Scheren und Föhnen und lernen, sich
gegenseitig zu frisieren. Andere bauen
Stromschaltkreise zusammen oder flicken
Schuhe. Sie sollen lernen, wie man Geld
verdienen kann. Das macht sie unabhän-
giger von den Rekrutierungsversuchen
der Terroristen oder den Träumen von der
Flucht nach Europa.

Am liebsten die ganze Welt retten
Ein zwölfjähriger Junge, der erst seit kur-
zer Zeit hier ist, erzählt dem Minister, dass
er vor sechs Jahren beim Wasserholen
von Boko Haram entführt wurde. Die Ter-
roristen indoktrinierten ihn; die Hälfte
seines Lebens zog er mit ihnen umher.
Dann gelang ihm die Flucht. Aber seine
Familie will ihn nicht zurück. Die Mit-
arbeiter von Unicef stehen mit den Eltern
im Gespräch; sie werden ihnen 50 Euro
anbieten, damit der Junge nach Hause
darf.
Müller ist tief berührt von diesem
Schicksal. Noch unter dem Eindruck
des Gesprächs erfindet Müller auf dem
Rückweg nach Abuja bereits einen neuen
Slogan. „Einstieg in Terror verhindern,
Ausstieg erleichtern“, lässt er seinen
Pressesprecher twittern: Er will ein eige-
nes Ausstiegsprogramm für Boko-Ha-
ram-Terroristen ins Leben rufen. Am
liebsten würde er die ganze Welt retten.
Und wenn das nicht auf einmal geht,
dann zumindest Stück für Stück.n

Ringen um den Afrika-Pakt Gerd Müller, 64,
mit der neuen EU-Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen, 61

einen Job bekommt, schließen sich die
Jungen für einen Dollar Sold den Terror-
gruppen Boko Haram oder IS an. Folge der
Ressourcenknappheit und Perspektivlo-
sigkeit ist dann weitere Radikalisierung.“
376 Millionen Euro hat Müllers Minis-
terium bisher pro Jahr für die Sahelregion
ausgegeben, diesen Betrag will Müller
verdoppeln. Einen entsprechenden Antrag
für den nächsten Haushaltsentwurf berei-
tet sein Team schon vor. Müller ist über-
zeugt: „Man braucht zumindest beides,

Millionen Euro
mehr will Gerd
Müller im
nächsten Haus-
haltsentwurf für
die Probleme
in der Sahelzone
beantragen

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