Die Welt - 05.03.2020

(Joyce) #1

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05.03.20 Donnerstag,5.März2020DWBE-HP


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DWBE-HP


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DIE WELT DONNERSTAG,5.MÄRZ2020 WISSEN 19


R


alph Hertwig ist Direktor
am Max-Planck-Institut für
Bildungsforschung in Berlin
und forscht seit Jahren zur
Psychologie des Risikos. Im
Interview erklärt er, warum manche
Menschen massenweise Atemmasken
klauen, wie schwer der Umgang mit un-
bekannten Risiken fällt und was im All-
tag getan werden kann, um wieder die
Kontrolle zu erlangen.

VON FRANZISKA VON HAAREN

WELT:Herr Hertwig, in Krankenhäu-
sern wurden Desinfektionsflaschen
aus Spendern geklaut, in Niedersach-
sen geht die Polizei einem mutmaßli-
chen Diebstahl von 1200 Mundschutz-
masken aus einem Krankenhaus nach.
Sind das die Folgen von Angst?
RALPH HERTWIG:WWWenngleich ich dieenngleich ich die
genauen Motive nicht kenne, so führt
das gegenwärtige Gefühl der Unsicher-
heit offenbar zu dem Bedürfnis, sich

durch Hamsterkäufeoder vielleicht so-
gar durch die Entwendung von Desin-
fffektionsmittel zu schützen und damitektionsmittel zu schützen und damit
die Kontrolle in einer gefährlichen
WWWelt zu bewahren beziehungsweise zu-elt zu bewahren beziehungsweise zu-
rückzuerobern. Vielleicht hat aber
auch jemand gehofft, mit dem Dieb-
stahl an der Angst der anderen Geld zu
verdienen.

Zu welchen Reaktionen neigen Men-
schen noch, um Kontrolle wiederzu-
erlangen?
In dem Moment, in dem uns Gefühle
der Angst und Panik beherrschen, ver-
stärken sich bestimmte Tendenzen: Der
Zusammenschluss innerhalb der eige-
nen Gruppe wächst, aber auch die Ab-
grenzung nach außen gegenüber ande-
ren, die Eigenschaften verkörpern, die
man ablehnt. Dieser Dynamik kann man
unter anderem mit Aufklärung entge-
genwirken. Anstatt durch Angst und Pa-
nik überzogen, unsolidarisch und empa-
thielos zu reagieren, können wir uns be-

wusst machen, wie wir uns schützen
können, ohne andere auszugrenzen
oder diese zu stigmatisieren.

Was ist zu tun?
Prinzipiell kann man auf verschiedene
Arten versuchen, einen kühlen Kopf zu
bewahren. Zum Beispiel, indem wir uns
die Größenverhältnisse des Risikos ver-
gegenwärtigen. Wir wissen bereits,
dass das Virus in den allermeisten Fäl-
len nicht zu einer schweren Erkran-
kung führt. Meistens ist der Verlauf
recht harmlos, gerade in Deutschland,
wo der durchschnittliche Gesundheits-
zustand der Bevölkerung besser ist als
in Ländern mit viel schlechteren Ge-
sundheitssystemen. Außerdem kann es
helfen, die Logik der gegenwärtigen
Maßnahmen, die in der Politik disku-
tiert werden, zu verstehen. Es geht erst
einmal um Eindämmung und Zeitge-
winn. Und wir alle können helfen, die-
ses Ziel zu erreichen, zum Beispiel
durch so einfache Dinge wie gute Hand-

hhhygiene oder veränderte Begrüßungsri-ygiene oder veränderte Begrüßungsri-
tuale. Also: Einen kühlen Kopf kann
man auf ganz unterschiedliche Arten
bewahren.

Welche Faktoren führen dazu, dass
wir das Virus als ein so unkontrollier-
bares Risiko einschätzen?

Welche Faktoren sind noch wichtig?
Kontrolle ist ein zweites wichtiges Risi-
kocharakteristikum für unsere subjek-
tive Bewertung. Wir haben nicht das
Gefühl, das Virus kontrollieren zu kön-
nen. Das hat auch damit zu tun, dass die
Wissenschaft erst am Anfang steht und
unser Wissen voller Lücken ist. Gerade
bei der Frage, wie tödlich das Virus ei-
gentlich ist, schwanken die Zahlen er-
heblich. Hinzu kommt noch ein weite-
res Charakteristikum: Das Virus ist
nicht beobachtbar, und anders als im
Straßenverkehr können wir das Risiko
nicht fassen und sehen. Und schließlich
handelt es sich um ein Risiko mit globa-

len Konsequenzen. Das bedeutet, das
Risiko kann potenziell sehr viele Men-
schen betreffen und ist nicht auf eine
einzelne Person oder eine Region be-
grenzt.

Welche Rolle spielen Fake News und
Verschwörungstheorien?
Prinzipiell ist ein Phänomen wie das
Coronavirus sehr gut geeignet, um Ver-
schwörungstheorienund Fake News zu
verbreiten, da hier noch vieles im Dun-
keln liegt. Verschwörungstheorien ha-
ben im Fall von Epidemien Tradition.
Anthropologen haben beschrieben, wie
im Europa des Mittelalters unreines
Wasser erst dann als Seuchengefahr be-
trachtet wurde, nachdem den Juden un-
terstellt wurde, die Brunnen zu vergif-
ten. An dem Beispiel kann man sehen,
dass Verschwörungstheorien und Fake
Newsmit korrekten Informationen
konkurrieren, die uns helfen, die wah-
ren Ursachen zu identifizieren und die
richtigen Entscheidungen zu treffen.
Meistens sind solche Fake News spekta-
kulärer und emotional aufgeladener als
sachliche Informationen, sie wirken auf
einige Menschen attraktiv.

Das Rote Kreuz berichtet, dass Blut-
spenden wegen der Angst vor dem Vi-
rus zur Neige gehen, da die Spenden-
bereitschaft deutlich sinke. Zeigt das
Beispiel, dass die Nebenwirkungen,
die maßgeblich von der Angst ausge-
löst werden, womöglich gravierender
sind als das Virus selbst?
Über diese Frage haben wir noch viel zu
wenig nachgedacht. Unvorhergesagte
und schwerwiegende Folgewirkungen
sind ein Phänomen, das wir auch von
anderen Katastrophen kennen. So stie-
gen nach dem 11. September in den USA
viele Menschen vom Flug- auf den Stra-
ßenverkehr um. Dies führte dazu, dass
die Sterblichkeit in der Folgezeit auf
den Straßen deutlich zunahm. Die Ter-
rorattacken selbst haben in den USA
viele Menschen das Leben gekostet,
aber auch die Reaktion der Bevölkerung
auf den Terror – das veränderte Mobili-
tätsverhalten – forderte Opfer. Es ist
gut vorstellbar, dass unsere Reaktionen
auch in Deutschland zu massiven Folge-
wirkungen führen. Daher muss die Poli-
tik bei der Diskussion möglicher Maß-
nahmen auch deren Folgewirkungen be-
rücksichtigen, selbst wenn das nicht im-
mer einfach ist. Und auch wir sollten
das mit Blick auf unser individuelles
Verhalten tun.

Welche Wirkung hätte die Existenz
eines Impfstoffes auf die Angst? Wür-
den all diejenigen, die jetzt panisch
Hamsterkäufe machen, den Impfstoff
nutzen?
Das wird vermutlich sehr davon abhän-
gen, wie sich das Virus entwickelt:
WWWerden in Deutschland Menschen anerden in Deutschland Menschen an
dem Virus sterben – und wenn ja, wie
hoch wird die tatsächliche Mortalitäts-
rate sein? Aber auch die mediale Be-
richterstattung wird die Reaktion der
Menschen auf einen Impfstoff beein-
ffflussen. Vielleicht ist es aber auch so,lussen. Vielleicht ist es aber auch so,
dass sich der Umgang mit dem Virus
bis dahin ein Stück weit normalisiert
hat, wir uns daran gewöhnt haben und
es subjektiv als eher normales grippa-
les Virus bewertet wird. Dann wird die
Nachfrage nach dem Impfstoff vermut-
lich nicht so groß sein wie momentan
vermutet.

„„„Wir haben nicht das Gefühl, Wir haben nicht das Gefühl,


das VIRUS kkkontrollieren zu können“ontrollieren zu können“ontrollieren zu können“


Diebstahl von Desinfektionsmitteln und sinkende Bereitschaft zum Blutspenden –


das Coronavirus löst übertriebene Ängste aus. Warum reagieren manche auf unbekannte Risiken mit Panik?as Coronavirus löst übertriebene Ängste aus. Warum reagieren manche auf unbekannte Risiken mit Panik?


Ralph Hertwig ist Direktor am
Max-Planck-Institut für Bil-
dungsforschung in Berlin

DPA

/CHEN

Derzeit sehr begehrt: Chinesische Arbeiter in
Lanzhou verpacken Mundschutzmasken

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