Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

D


umpfe, hallende Paukenschläge,
dann eine fanfarenhafte Cello-
melodie. Ahnungsvoll und getragen
verdichten sich die Töne zu einem trä-
gen Tanz, als wenn ein Ungeheuer sich
aus tiefsten Erdschichten erhebt und
schließlich Lava feurig eruptiert. Es ist
der Beginn des Stücks »Clown Defea-
ted« vom Soundtrack des Films »Jo-
ker«, Musik für eine Furcht einflößen-
de, faszinierende Figur.
Joaquin Phoenix bekam für seine
Rolle des psychisch kranken Batman-
Gegenspielers Anfang Februar den Os-
car als bester Hauptdarsteller. Ohne die
Musik von Hildur Guðnadóttir wäre
ihm dieser Triumph vielleicht nicht ver-
gönnt gewesen. Die 37-jährige Kompo-
nistin bekam am selben Abend den
Preis für den besten Originalscore ver-
liehen –  als erste Frau in dieser von
Männern dominierten Kategorie seit
1997, die vierte in der 92 Jahre langen
Geschichte der Oscars überhaupt.
Phoenix, so erzählt es Regisseur
Todd Phillips, habe das dräuende Cello -
motiv von Guðnadóttir bei den Dreh-
arbeiten vorgespielt. Der Schauspieler
suchte zu jener Zeit noch nach dem Zu-
gang zu der anspruchsvollen Rolle, of-
fenbar war es die Melodie vom »besieg-
ten Clown«, die ihm den Durchbruch
bescherte. Der Regisseur Phillips, der
etwas »Düsteres und Schweres« für sei-
ne Comic-Adaption suchte, hatte der
Komponistin bereits frühzeitig das
Drehbuch zugesandt und sie gebeten,
sich Gedanken über Motive und The-
men zu machen. So kam es zu dem
höchst ungewöhnlichen Umstand, dass
der Soundtrack zum Teil schon vor dem
Film fertig war – und ihn entscheidend
beeinflusste.
Guðnadóttirs Musik besitzt eine ur-
tümliche Kraft, sie kann leise und sanft
simmern, dann aber plötzlich schroff
und elektronisch verstärkt aufwallen.
Getragen wird ihr beunruhigender
Sound von dem Cello, das sie spielt, seit


sie fünf Jahre alt ist. Manchmal singt
sie auch mit einer hellen Sirenenstimme
einzelne Harmonien, wenn Geräte und
Instrumenten nicht die richtigen Töne
ergeben.
Als Musikerin war sie bereits mit der
Avantgarde-Metalband Sunn O))) auf
Tournee und spielte in der islän dischen
Dreampop-Gruppe Múm. Seit einigen
Jahren lebt sie in Berlin-Kreuzberg.
Dort teilte sie sich bis zu dessen Tod ein
Studio mit einem alten Freund, dem
Filmmusikkomponisten Jóhann Jó-
hannsson. Nach Jóhannssons Tod An-
fang 2018 stellte sie seine Musik zum
Film »Mary Magdalene« fertig, in dem
Joaquin Phoenix die Rolle des Jesus
spielte. Sie war also mit der Art seines
Schauspiels vertraut, als sie ihm das
»Joker«-Thema auf den Leib schrieb.
»Es fühlte sich an wie ein Schlag auf
den Brustkorb, als ich die Noten hatte«,
sagte sie in einem Interview. »Mir ging
es darum, in seinen Kopf zu kriechen
– und zu versuchen, die Musik von dort
aus zu machen.«
Das Gespür für extreme Räume und
Situationen half ihr auch bei der
Komposition der beklemmenden, sich
bedrohlich auftürmenden Musik für die
HBO-Miniserie »Chernobyl«, Guðna-
dóttirs zweite Erfolgsarbeit aus dem
vergangenen Jahr. Für ihre Sound-
Impressionen der Reaktorkernschmelze
bekam sie unter anderem den Grammy.
Für ihre Echos aus der gequälten

»Joker«-Psyche neben dem Oscar auch
noch den Golden Globe und den BAFTA
– alle wichtigen Preise der Saison.
Bei den Verleihungen und Galas der
vergangenen Wochen begeisterte Guð -
nadóttir das Publikum durch Schüch-
ternheit und ein sonniges Gemüt, das
der Finsternis ihrer Klänge zunächst
so gar nicht entspricht. Ein hinter den
Oscar-Kulissen aufgenommener Video-
clip, in dem sie Brad Pitt ein charmant-
beiläufiges »Hi, Brad« zuwirft, entzück-
te das Internet. Da wirkt sie, als werde
ihr in diesem Moment der eigene Erfolg
bewusst, ein bisschen wie ein Fan, ein
bisschen wie ein Star – und souverän
dabei.
Die Filmbranche in Hollywood ist
noch neues, ungewohntes Terrain für
die in der europäischen Experimental-
musikszene sozialisierte Isländerin.
Vor »Joker« war die Musik zum harten
Drogenkartellthriller »Sicario 2« ihr
erster eigener Kinofilmsoundtrack.
Doch Guðnadóttirs scheue Nervo -
sität kann, ähnlich wie in ihrer Musik,
urplötzlich einem selbstbewussten
Auftrumpfen weichen.
In ihrer Dankesrede bei den Oscars
überwand sie die erste Überwältigung
schnell, zollte ihren männlichen Mit -
nominierten, darunter Soundtrack -
größen wie John Williams und Randy
Newman, kurz Respekt, um dann ein
flammendes Plädoyer für mehr Weib-
lichkeit in ihrer Sparte zu halten: »An
die Mädchen, an die Frauen, an die
Mütter, an die Töchter, die Musik in sich
sprudeln hören: Macht euch bemerk-
bar, wir müssen eure Stimmen hören!«
Ihre eigene musikalische Stimme ist
offenbar laut und gewaltig genug, um
sogar die Gesetze des Showbiz-Patriar-
chats zu brechen. Der neue Joker im
Soundtrackspiel von Hollywood ist eine
Frau, die nach ihren eigenen Regeln
spielt.

Andreas Borcholte

42 SPIEGEL BESTSELLER / FRÜHJAHR 2020


Spezial

Die Extremistin


Filmmusik IDie Isländerin Hildur Guðnadóttir wird für ihre dramatischen
Kompositionen gefeiert. Nun hat ihr der Soundtrack
zu »Joker« den Oscar eingebracht – als vierter Frau in 92 Jahren.

Schauspieler Phoenix in »Joker«
»In seinen Kopf kriechen«
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