Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1
Keller:Da es im weiteren Verlauf dieser Kolumne eh
rauskommen würde, sage ich es lieber gleich: Ich
gehöre zu den sehr, sehr wenigen Menschen, die
Pascal Merciers berühmten Roman »Nachtzug nach
Lissabon« nie gelesen haben. Und bislang keine Mei-
nung zu seinen Fähigkeiten als Schriftsteller hatten.
Mit was für Erwartungen bist du an sein neues Buch
gegangen?
Hammelehle: Mit äußerst
geringen. Ich hatte gehört, es
sei langweilig.
Keller:Ein älterer Herr kehrt
in seine alte Heimatstadt
London zurück, weil ihm sein
Onkel ein Haus vererbt hat,
und macht sich seitenweise
sehr viele, sehr umständliche
Gedanken über sich selbst
und sein Leben – das klingt in
der Tat nicht gerade wie der
Stoff, aus dem packende Bü-
cher gemacht werden.
Hammelehle:Der Mann
erbt ja öfters, das Haus, zu-
vor einen Verlag – und wer
schon mal geerbt hat, weiß,
dass dies ein sicheres Mittel
sein kann, um sich mit der
Verwandtschaft nachhaltig
zu überwerfen. Das Beson-
dere an diesem Buch aber ist
seine Harmonie. Es gibt fast
keine Konflikte – und wenn
sie doch aufzukommen
drohen, werden sie noch auf
der gleichen Seite gelöst. Es
gab zwei, drei Momente, in
denen ich dachte: Das muss
der Wendepunkt sein! Aber
er blieb aus. Das kann
eigentlich nur Absicht sein.
Keller:Sehr optimistisch
von dir. Nachdem an einer
Stelle einen ganzen Absatz lang beschrieben wurde,
wie die Hauptfigur ein Buch zur Seite legt, habe ich
mich eigentlich nur noch gefragt, wie langweilig es
noch werden würde.
Hammelehle:Du übertreibst! »Das Gewicht der
Worte« ist getragen, aber nicht öde. Ein Märchen aus
dem Bildungsbürgertum. Jeder liest, schreibt, über-
setzt oder hat einen Verlag. Die Handlungsorte,
Hampstead, Triest, Florenz, Südfrankreich, sind
schön und die Menschen, die dort leben, eigentlich

auch – oder zumindest geschmackvoll angezogen. Ein
bisschen wie Patricia Highsmith ohne Suspense. Mir
hat das, und das war die eigentliche Überraschung für
mich, unerwartet gut gefallen. Aber ich habe auch
eine Schwäche für die Bourgeoisie. Der Künstlername
Pascal Mercier ist allerdings übel, klingt so ein biss-
chen nach Drogeriemarkt. Eigentlich heißt er ja Peter
Bieri. Und würdest du deinen Hund Raoul nennen?
Keller: Jedenfalls nicht,
wenn er – wie hier im
Buch – ein Riesenschnau-
zer wäre. Raoul, der Rie-
senschnauzer, klingt wie
Doris, die Dogge. Anderer-
seits war ich so dankbar,
dass dieser Hund endlich
aufgetaucht ist. Mir kam
das ganze Buch so schreck-
lich leblos vor. Bei aller
Sympathie für Menschen,
die lieber von Dingen le-
sen, statt sie zu erleben –
dieses ständige Nachden-
ken über einzelne Wörter
und Sprachen – nur weil
die Hauptfigur Übersetzer
ist. Und das Pathos hat
mich echt ermüdet.
Hammelehle:Ich finde das
wohltuend. Eine Welt, der
das bürgerliche Kulturver-
ständnis etwas bedeutet.
Ein bisschen oldschool.
Aber liebenswert. Pathe-
tisch ist das Buch eigentlich
nur in seiner Feier der
Freundschaft.
Keller: Und dann diese
ewige Ziellosigkeit. Ständig
wird irgendwo hingefahren,
nur um festzustellen, dass
man gar nicht weiß, was
man da soll.
Hammelehle:Was hast du gegen Melancholie? Der
Mann glaubte nach einer Fehldiagnose, sterben zu
müssen, jetzt sucht er einen neuen Platz im Leben.
Und den findet er auch.
Keller:Das sei ihm ja auch gegönnt. Ich hätte nur
nicht unbedingt etwas davon mitkriegen müssen.

Maren Keller ist Redakteurin im Ressort Leben.
Sebastian Hammelehle leitet das SPIEGEL-Kulturressort.

Keller & Hammelehle Und das soll ich lesen?


Pascal Merciers


»Das Gewicht der


Wo r t e «


46 Illustration: Lea Heinrich

Free download pdf