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Das Wissen, dass die Menschen, die man über alles
liebte, genau die barbarischen Mörder gewesen sein muss-
ten, von denen man in der Schule hörte, war so uner -
träglich, dass es verdrängt wurde. So wurden die Täter im
Familiengedächtnis oft zu Opfern umgelogen, wie die
familienbiografische Studie »Opa war kein Nazi« von
Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall
gezeigt hat. Viele der Täter wurden zu Widerstandskämp-
fern oder Opfern des Nationalsozialismus umgedeutet,
obwohl Schätzungen zeigen, dass der Anteil derer, die
potenziellen NS-Opfern tatsächlich geholfen haben, bei
weniger als 0,3 Prozent liegt. Es ist ausgeschlossen, dass
auch nur ein Bruchteil derer, die sich in Oppositions-
oder Widerstandsgeschichten ihrer Familien ergehen, die
Realität beschreiben.
Diese Phantasmen sind bis heute weit verbreitet: Die
Memo-Studie 2019 des Instituts für interdisziplinäre
Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld
und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft
zeigt, dass 69,8 Prozent der Deutschen glauben, ihre Vor-
fahren wären nicht »unter den Tätern während der Zeit
des Nationalsozialismus« gewesen. Zugleich fantasieren
sich 35,9 Prozent der Deutschen die Vorstellung herbei,
dass ihre Vorfahren »unter den Opfern während der Zeit
des Nationalsozialismus« gewesen seien. Und 28,7 Pro-
zent behaupten, ihre Vorfahren hätten »während der Zeit
des Nationalsozialismus potenziellen Opfern geholfen«.
Es ist nicht so, dass nicht auch Gefühle wie Verachtung
und Wut die Nachkriegsgeneration geprägt hätten. Sie
wurden aber meist nicht gegen die gerichtet, die sie ver-
dient hätten: die eigenen Eltern und Großeltern. Sie
wurden stattdessen abermals auf die Überlebenden und
ihre Nachkommen projiziert, die man verantwortlich
machte für die nicht enden wollende Erinnerung an das
verdrängte Wissen, dass die eigenen Eltern oder Groß -
eltern Teil der antisemitischen Vernichtungspraxis waren.
Dieses unbewusste Wissen ist das psychische Erbe
des Antisemitismus, das wie ein Alb auf den Kindern und
Enkeln und bald Urenkeln der Täter lastet. »Kein
Geschichtsbuch, kein Film, keine Veranstaltung und keine
Ausstellung werden zur Aufklärung führen, wenn wir
nicht den persönlichen Bezug erkennen«, befürchtet die
Publizistin Alexandra Senfft. Die heutige Elterngeneration
hat die Auseinandersetzung mit ihren Eltern
fast ausnahmslos unterlassen oder hinter
kryptischen Formeln der Kritik am National-
sozialismus als »Faschismus« und Überwa-
chungsstaat versteckt. Sie hat damit den anti-
semitischen Kern der NS-Politik geleugnet.
Die »Selbstviktimisierung«, wie es die
Historikerin Katrin Hammerstein nennt, ist
ein zentrales Element deutscher Erinnerungs -
kultur. Seit den späten Neunzigerjahren ist
zu beobachten, dass, ausgelöst durch die Ver-
triebenendebatte oder die Stilisierung der
deutschen Opfer der Dresdner Bombennacht
1945, Opfer- und Täterdiskurs nicht mehr
getrennt betrachtet werden, sondern in einem
postmodernen Nebel der historischen Entkon-
textualisierung verschwimmen. Neu ist, dass
der Blick auf politische Kausalzusammenhän-
ge aus der Erinnerung herausredigiertwerden
soll: der Zusammenhang von anti semitischer
Vernichtungs- und Bevölkerungspolitik des
Nationalsozialismus, den Kernelementen der
antisemitischen Volksgemeinschaftsfantasie.
Dass die völkische Germanisierungspolitik die Kehr -
seite der Vernichtung der europäischen Juden war,
da die, wie es im NS-Jargon hieß, »völkische Flurbereini-
gung« den Platz für Volksdeutsche schaffen sollte,
dass also ein Großteil der späteren Flüchtlinge mindestens
passiv an der völkisch-antisemitischen Besatzungs-
und Vernichtungspolitik Anteil hatte, wird dabei gern
ausgeblendet.
D
ie Nichtaufarbeitung der NS-Vergangenheit, die
sich mit einem Mythos kollektiver Unschuld
amalgamiert, ist nun zur Grundlage für eine tiefe
Erschütterung der Demokratie in Deutschland
geworden, die nur den überraschen kann, der selbst dem
Glauben an eine erinnerungspolitische »Erfolgsgeschich-
te« der Deutschen anhing.
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik sitzt
mit der AfD eine rechtsextreme Partei mit zweistelligem
Wahlergebnis im Bundestag, deren Angriff auf die Erinne-
rungs- und Geschichtspolitik auf Hochtouren läuft. Hitler
habe, so sagte ein AfD-Lautsprecher, »sehr viel mehr
zerstört als die Städte und die Menschen, er hat den Deut-
schen das Rückgrat gebrochen, weitgehend«. Statt sich
der Opfer der Schoa zu erinnern, möchte er lieber das
Recht haben, »stolz zu sein auf Leistungen deutscher Sol-
daten in zwei Weltkriegen«, also auf jene, die den anti -
semitischen Vernichtungskrieg geführt haben. Ein anderer
Lautsprecher, der sich gerade in Thüringen zum Minister-
präsidenten wählen lassen wollte, fordert eine »erinne-
rungspolitische Wende um 180 Grad«. Er möchte die
»großartigen Leistungen der Altvorderen« in den Mittel-
punkt rücken und bezeichnet das Holocaust-Mahnmal in
Berlin als »Denkmal der Schande«, das man sich »in das
Herz seiner Hauptstadt gepflanzt« habe. Die AfD sei »die
letzte evolutionäre, sie ist die letzte friedliche Chance für
unser Vaterland«.
Bundesweit sind 55 Prozent der Anhänger dieser Partei,
wie aus Umfragedaten des Instituts für Demoskopie
Allensbach hervorgeht, der Auffassung, Juden hätten in
der Welt zu viel Einfluss. In diesem antidemokratischen
und völkischen Weltbild scheint unverhohlen der Geist auf,
der Auschwitz ermöglichte.
SHUTTERSTOCK
Holocaust-Mahnmal in Berlin