trafen«, sagt er. »Ich verfluche den Tag, an
dem ich Anis Amri begegnet bin.«
Cem ist Anfang vierzig, mittelgroß, kor-
pulent. Er trägt Vollbart und eine Schirm-
mütze. Er hat kein Facebook-Profil, es
gibt keine öffentlich verfügbaren Fotos
von ihm. Murat Cem ist nicht sein rich -
tiger Name, es war sein Deckname im
Einsatz. Seine wahre Identität kennt au-
ßer dem SPIEGELnur ein ausgewählter
Zirkel von Beamten. In den Akten seines
wichtigsten Falls taucht er mit einer Ab-
kürzung auf: VP01. VP bedeutet Vertrau-
ensperson, so nennt die Polizei ihre gehei-
men Informanten.
Über viele Jahre war Murat Cem ein
V-Mann im Einsatz gegen Schwerverbre-
cher und Terroristen. Er ließ Dealer, Waf-
fenhändler und Mörder hochgehen. Im
Herbst 2015 schleuste die Polizei ihn in
die Islamistenzelle um den Hassprediger
Abu Walaa ein, der als »Nummer eins«
des »Islamischen Staats« (IS) in Deutsch-
land galt. Sie setzte Cem auch auf Osama
Bin Ladens angeblichen Ex-Leibwächter
Sami A. an, der lange in Deutschland lebte
und 2018 abgeschoben wurde.
M
urat Cem saß am Vormittag
des 21. Dezember 2016 in sei-
nem Wohnzimmer und sah
fern. Zwei Tage zuvor hatte
ein Mann einen Lastwagen in die Men-
schenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
am Berliner Breitscheidplatz gelenkt, elf
Menschen totgefahren, Dutzende verletzt
und den polnischen Fahrer erschossen. In
den Nachrichten hieß es nun, der unbe-
kannte Täter sei auf der Flucht.
Cems Handy klingelte.
»Ja, hallo?«
In fast 20 Jahren Arbeit für die Polizei
hatte Murat Cem sich abgewöhnt, seinen
Namen am Telefon zu nennen. Er fürchte-
te, sich sonst zu verraten.
Am anderen Ende war ein Polizist, der
ihn lange kannte. Er sagte diesen einen
Satz: »Es war Anis Amri.«
Cem hatte in diesem Moment Schwie-
rigkeiten zu atmen, die Tränen stiegen
ihm in die Augen, so schildert er es heute.
Der Beamte sagte, Amri sei auf der Flucht,
jeder Hinweis könne helfen, ihn zu fassen.
Cem stammelte: Frankreich vielleicht, Ita-
lien. Er glaube nicht, dass Amri sich fest-
nehmen lasse. »Ich denke, dass der sich
eher erschießen lässt, als dass er in Haft
kommt.« Er erinnerte daran, wie gefähr-
lich Amri sei. Dann legten die beiden auf.
Als bald darauf Amris Bild im Fern -
sehen auftauchte, befiel Cem eine tiefe
Traurigkeit. Manchmal sucht sie ihn noch
heute heim.
Murat Cem kannte Anis Amri besser
als jeder Polizist. Er kannte ihn wahr-
scheinlich besser als die meisten Gesin-
nungsgenossen des Islamisten. »Es gab
Tage«, sagt Cem, »an denen brachte ich
Amri abends ins Bett und holte ihn mor-
gens wieder ab.«
Cem hatte die Polizei vor Amri gewarnt,
erstmals im Herbst 2015, danach immer
wieder. An diesem Mittwoch nun, zwei
Tage nach dem Attentat, fragte er sich: Hat
er, der Polizeispitzel, der V-Mann, versagt?
Oder hat die Polizei versagt, weil sie seine
Warnungen nicht ernst genug nahm?
Zweieinhalb Jahre später, im Sommer
2019, sitzt Murat Cem in einem Restaurant
einer deutschen Universitätsstadt und
kämpft mit einer übergroßen Pizza Mar-
gherita. Er holt tief Luft. »Viele Menschen
verwünschen den Tag, an dem sie mich
Cem ermittelte ebenfalls gegen die At-
tentäter, die im Frühjahr 2016 einen Bom-
benanschlag auf den Essener Sikh-Tempel
verübten. Und er lieferte Informationen,
die in mehreren Terrorprozessen zu An-
klagen führten. Einmal verhinderte er
wohl sogar das Attentat eines jungen Isla-
misten auf ein Einkaufszentrum in Essen.
Vor allem aber ist Murat Cem der Spion,
der die Ermittler auf Anis Amri aufmerk-
sam machte, ihn ausspähte und immer wie-
der vor ihm warnte. Für die Amri-Unter-
suchungsausschüsse in Düsseldorf und Ber-
lin ist VP01 ein hochbrisantes Thema. Die
Abgeordneten wollen ihn dringend befra-
gen. Reporter versuchten, ihn aufzuspü-
ren. Seine Feinde würden ihn am liebsten
tot sehen. Doch bislang blieb Murat Cem
für alle ein Phantom. Auftritte in Parla-
menten oder vor Gericht verhinderte das
nordrhein-westfälische Innenministerium.
Zu gefährlich für den Informanten, hieß
es. Cem lebt seit Jahren unter falschem
Namen an einem geheim gehaltenen Ort.
Im März 2019 wandte sich Murat Cem
an den SPIEGEL.Er wollte seine Geschich-
te erzählen und über Anis Amri sprechen,
über jenen Fall, an dem er, wie er sagt, zer-
brach. Nach dem Attentat in Berlin be -
endete die Polizei die Zusammenarbeit
mit Cem. Der einstige Spitzenspitzel be-
kommt heute Hartz IV.
Ein SPIEGEL-Team hat Cem in den ver-
gangenen Monaten immer wieder getrof-
fen, Hunderte Stunden mit ihm geredet,
ist mit ihm zu Einsatzorten gefahren, hat
Zehntausende Seiten Akten zu seinen Fäl-
len ausgewertet, hat mit Ermittlern, Weg-
gefährten und Angehörigen gesprochen.
So etwas wie Cem, sagen Beamte, die ihn
lange kennen, habe es in der deutschen
Kriminalgeschichte »noch nicht gegeben«.
Er sei der Beste gewesen, ein Naturtalent
und wahrscheinlich der wichtigste V-Mann
der Bundesrepublik. Im Frühjahr erscheint
ein SPIEGEL-Buch über Cems Leben und
seine Fälle*.
Seine Geschichte gewährt einen einzig-
artigen Einblick in die Arbeit der Sicher-
heitsbehörden. Nie zuvor sind Journalis-
ten in Deutschland einem derart wichtigen
* Jörg Diehl, Roman Lehberger, Fidelius Schmid:
»Undercover. Ein V-Mann packt aus«. SPIEGEL-Buch
bei DVA; 320 Seiten; 20 Euro. Erscheint am 11. Mai.
8 DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020
Der König der Spione
TerrorismusFast 20 Jahre lang jagte Murat Cem als V-Mann Verbrecher, bis er an seinem
letzten Fall zerbrach: Den Berliner Attentäter Anis Amri konnte er nicht aufhalten. Hier erzählt
»VP01« erstmals seine Geschichte. Von Jörg Diehl, Roman Lehberger und Fidelius Schmid
TERRORIST AMRI »Wenn ich
gucken dich, ich schlachte dich.«