Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1
dann kommen wir«, sagt Anthanasios
Pemousis, der Bürgermeister eines Nach-
bardorfs.
Griechische Beamte fürchten, dass mit
besserem Wetter die Flüchtlingszahlen auf
den Inseln trotzdem steigen werden. In
dem Fall würden bald auch wieder mehr
Geflüchtete Nordeuropa erreichen. Allein
im Februar hielten die griechischen Grenz-
schützer am Ausgangspunkt der sogenann-
ten Balkanroute 3000 Migranten auf.
Europas Politiker stehen nun vor
schwierigen Fragen. Öffnen sie die Grenze
für die Gestrandeten im türkisch-grie-
chischen Niemandsland und riskieren so,
dass sich weitere Flüchtlinge auf den Weg
nach Europa machen? Oder verhandeln
sie mit Erdoğan über einen neuen Deal?
In Berlin sind sich die Koalitionäre einig,
keine Flüchtlinge nach Europa zu holen,
sondern der Türkei weitere Hilfen zukom-
men zu lassen. Die Bundesregierung will
die EU-Außen- und notfalls auch die Bin-
nengrenzen geschlossen halten.
Während im Sommer 2018 über den
Streit, ob Flüchtlinge an der deutsch-öster-
reichischen Grenze zurückgewiesen werden
können, noch die Regierung zu zerbrechen
drohte, sind Merkel und Bundesinnen -
minister Horst Seehofer in der aktuellen
Krise auf derselben Linie. In der Sitzung
der Unionsfraktion am Dienstagnachmittag
sagte Seehofer: »Die Grenzen Europas sind
für die Flüchtlinge aus der Türkei nicht ge-
öffnet. Und das gilt auch für unsere Gren-
zen.« Die Kanzlerin widersprach nach An-
gaben von Teilnehmern nicht.
Die Kanzlerin ist entschlossen, am EU-
Türkei-Abkommen festzuhalten. Gegen-
über der Fraktion sprach sie sich dafür aus,
dass die Türkei mehr Geld bekommen sol-
le, vor allem für Schulen und Lehrer. Auch
für Erdoğans Forderung nach Unterstüt-
zung für die Flüchtlinge im türkisch-syri-
schen Grenzgebiet ist man in Berlin offen.
Anders als Deutschland sind die wenigs-
ten EU-Staaten bereit, neues Geld für den
EU-Türkei-Deal bereitzustellen. Europa
werde nicht »mit dem Messer an der Keh-
le« verhandeln, sagte der niederländische
Regierungschef Mark Rutte.
Diese Haltung schlug auch dem deut-
schen EU-Botschafter Michael Clauß bei
seinem Treffen mit Kollegen und EU-Be-
amten am Montag entgegen. Clauß ver-
suchte, ganz im Sinne Berlins, Erdoğans
Verhalten zu erklären, die innenpoliti-
schen Zwänge, die Krise in Idlib. Zudem
warb er dafür, beim nächsten EU-Gipfel
Mitte März über weitere Zahlungen an die
Türkei zu reden. Seine Botschafterkolle-
gen wollten davon eher wenig wissen, vor
allem der Vertreter Griechenlands geißelte
Erdoğans »Erpressungsversuch«.
Ähnlich verliefen die Fronten, als die EU-
Innenminister am Mittwochabend in Brüs-
sel tagten. Hinter verschlossenen Türen

setzte sich Seehofer dafür ein, einen Passus
der Schlusserklärung abzumildern, in dem
die Türkei dafür »verurteilt« werden sollte,
Migranten für politische Zwecke einzuset-
zen. In Berlin weiß man, dass man Erdoğan
braucht. Kritisieren, ja, sagte Seehofer, ein
ganzes Land verurteilen: nein.
Es sieht so aus, als versuchten die Euro-
päer, die Krise auszusitzen. Wie immer
eigentlich. Dabei brauchte der Kontinent
gerade jetzt einen Neustart in der Migra -
tionspolitik.
Die Krise von 2015 hat gezeigt, dass es
so gut wie unmöglich ist, sämtliche 27 EU-
Mitgliedstaaten auf einen gemeinsamen
Kurs in der Asylpolitik einzuschwören.
Die Bundesregierung sollte deshalb ver -
suchen, eine Koalition der Willigen zu
schmieden mit Staaten wie Frankreich,
Spanien, Portugal und Luxemburg, die be-
reit sind, Verantwortung für Geflüchtete
zu übernehmen.
Eine solche Koalition könnte Länder an
den EU-Außengrenzen wie Griechenland
entlasten. Dafür müsste sie noch nicht ein-
mal die Grenze zur Türkei öffnen. Es wür-
de genügen, Flüchtlinge aus den überfüll-
ten Lagern auf den griechischen Inseln auf-
zunehmen, wie das etliche deutsche Städte
ohnehin bereits fordern.

Die Europäer müssen früher oder später
auch mit Erdoğan reden, so schwer das
fällt. Sie sollten aus den Fehlern von 2016
lernen. Es reicht nicht, einem Autokraten
Versprechungen zu machen und zu hoffen,
dass er die Flüchtlingsfrage regelt. Die EU-
Staaten müssen sich stärker als bisher für
den Flüchtlingsschutz in der Türkei enga-
gieren, sie müssten unter anderem mehr
Ressourcen in Resettlement-Programme
stecken, sich aber auch aktiv für einen Waf-
fenstillstand in Idlib einsetzen.
Die vergangenen Tage hätten gezeigt,
wie dünn die Decke der Zivilisation auch
in Europa sei, sagt der Berliner Politik -
berater Gerald Knaus, der als der Ar -
chitekt des EU-Flüchtlingsabkommens
mit der Türkei gilt. »Wenn wir jetzt das
Asylrecht aufgeben, dann ist es nur noch
eine Frage der Zeit, bis in der nächsten
Not situation die Versammlungsfreiheit
oder andere Grundrechte zu Disposition
stehen.«
Giorgos Christides, Matthias Gebauer,
Steffen Lüdke, Peter Müller, Maximilian
Popp, Lydia Rosenfelder, Christoph Schult,
Wolf Wiedmann-Schmidt

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Ausland

Ein junger Kommissar


und eine grausame


Mordserie,


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Es reicht nicht, von
einem Autokraten
zu erhoffen, dass er die
Flüchtlingsfrage regelt.
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