Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

mit dem Decknamen »Delfin«. Am 14. Juli
berichtet ein Offizier des Zentrums am
Telefon, ein Buk-Flugabwehrsystem sei
bald einsetzbar. Am Tag darauf rollen vier
Panzer, drei Haubitzen und ein Schützen-
panzerwagen über die Grenze in die Ukrai-
ne. Zwei Tage später folgt die Buk.
Von alldem wissen die Piloten und Pas-
sagiere nichts, die am 17. Juli in die Boeing
777 des Malaysia-Airlines-Flugs MH17 stei-
gen. Sie werden in gut zehn Kilometer
Höhe über ein unübersichtliches Schlacht-
feld fliegen, das sich gerade völlig verändert
hat. Die mächtigste, aber weitgehend un-
sichtbare Partei in diesem Krieg, die Russi-
sche Föderation, hat entschieden, dass sie
stärker in das Geschehen eingreifen muss.


Die Tatwaffe

Olexander Turtschynow war Übergangs-
präsident der Ukraine in jenen schwieri-
gen Tagen, als die Krim annektiert wurde
und der Krieg im Donbass begann. Im
Kampf gegen die Separatisten galt er als
Hardliner. Heute leitet er einen Think-
tank in Kiew. In seinem Regal stehen
Panzermodelle, auf dem Tisch liegt eine
Bibel. Turtschynow ist Baptistenprediger.
Seine Gegner nennen ihn den »blutigen
Pastor«.
Vom Absturz des Flugzeugs erfuhr Turt -
schynow aus dem russischen Facebook-
Pendant »Vkontakte«. Auf der Separatis-
tenseite »Berichte von Igor Iwanowitsch
Strelkow« wurde um 16.50 Uhr Ortszeit
ein militärischer Erfolg bejubelt: Man habe
eine Antonow An-26 der Ukrainer aus der


Luft geholt. »Wir haben ja gewarnt – fliegt
nicht in ›unserem Himmel‹.« Ein Video
vom Absturz des »Vögelchens«, wie es
scherzhaft hieß, war angehängt.
Die An-26 ist ein Transportflugzeug, im
Einsatz beim ukrainischen Militär. Erst
drei Tage zuvor war eine solche Maschine
abgeschossen worden. Turtschynow fragte
sofort beim Generalstab nach, aber der
hatte kein Flugzeug verloren. Offenbar hat-
ten die Separatisten da etwas verwechselt.
Ihren Post löschten sie wieder.
»Von dem Moment an versuchte Russ-
land, seine Spuren zu verwischen«, sagt
Turtschynow. »Innerhalb weniger Tage
wussten wir über unseren Geheimdienst,
welche Waffe benutzt, von wo aus geschos-
sen wurde und von wem.«
Tatsächlich ist die Tatwaffe schnell iden-
tifiziert: ein Buk-M1 Telar, ein Flugabwehr-
system mit vier Raketen, das autonom funk-
tionieren kann, weil es über ein eigenes
Feuerleitradar verfügt. Das auffällige Gerät
ist kurz vor dem Abschuss in Snischne ge-
sichtet worden, Fotos kursieren im Internet.
Und auch der Weg der Buk an den Ab-
schussort ist bald rekonstruiert – von der
Recherchegruppe Bellingcat, die der Netz-

aktivist Eliot Higgins kurz zuvor gegrün-
det hat. Higgins und seine Rechercheure
vergleichen Fotos im Netz mit Google-
Straßenansichten. Damit konnten sie die
Route des Buk-Systems erst innerhalb
der Ukraine verfolgen, dann zurück bis
zur 53. Flugabwehrbrigade im russischen
Kursk. Das Gerät mit der Nummer 3x2
(die mittlere Ziffer ist abgeschabt worden
und unlesbar) wurde bereits am 23. Juni
2014 in Kursk abtransportiert, fast einen
Monat vor dem Abschuss. In einem langen
Konvoi von Kursk wird das System bis
nach Mille rowo nahe der Grenze zur
Ukraine gebracht. Der SPIEGELhat Ein-
blick in Begleitpapiere des Konvois neh-
men können.
Drei Wochen lang bleibt das Gerät ver-
mutlich auf einer russischen Armeebasis.
In der Nacht zum 17. Juli 2014 überquert
der Konvoi die Grenze in die Ukraine und
wird über Donezk nach Snischne verlegt,
rund 20 Kilometer Luftlinie von Russland.
Dort wird in diesen Tagen heftig gekämpft:
Die ukrainische Armee versucht, die Se-
paratisten abzudrängen. Die Separatisten
versuchen, einen Korridor zu schlagen.
Der Weg der Buk lässt sich auch aus den
abgehörten Telefongesprächen der Sepa-
ratisten nachvollziehen. Alle drei Mit -
angeklagten von Girkin haben mit dem
Buk-Transport zu tun – Sergej Dubinskij,
Kampfname »der Düstere«, ist Chef von
Girkins Militäraufklärung. Er sagt seinen
Untergebenen, wo das Gerät hinkommen
soll, in den Ort Perwomajskyj bei Snischne.
Oleg Pulatow, Kampfname »Viper«, soll
sie dort bewachen. Der Ukrainer Leonid
Chartschenko, Kampfname »Maulwurf«,
soll sie auf dem Weg begleiten.
Von der Bedienung der Buk ist in den
Gesprächen keine Rede. Das ist etwas für
trainierte Spezialisten. Die Mannschaft für
die Buk ist offenbar mitgekommen.
Kurz nachdem Flug MH17 in Schiphol
abhebt, trifft die Buk am Ziel ein: Sie hat
in Snischne den Tieflader verlassen und
fährt auf Ketten die letzten Kilometer auf
ein Feld nahe Perwomajskyj. Von dort
wird sie keine drei Stunden später auf die
Boeing mit ihren 298 Insassen feuern.

Spurensicherung
Um 16.20 Uhr wird die Boeing in zehn Ki-
lometer Höhe in Stücke gerissen. In sehr,
sehr viele Stücke. Kabinenteile, Sitzbänke

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»Innerhalb weniger Tage wussten wir, welche Waffe
benutzt und von wo geschossen wurde.«

NICK CUBBIN
Hinterbliebenenfamilie O’Brien in Australien 2016
»Es geht uns um die Wahrheit«
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