drei von ihnen als russische Offiziere ge-
dient; der Angeklagte Pulatow bei den rus-
sischen Luftlandetruppen, Dubinski im Mi-
litärgeheimdienst GRU, Girkin beim FSB.
Aber sie sind keine aktiven Offiziere mehr.
Wer sind die nächsthöheren Glieder in
der Befehlskette? Zwei davon sind bereits
identifiziert, von Roman Dobrochotow.
Ihm gelingt es, die beiden Leiter des Ko-
ordinationszentrums in der Ost ukraine
mit hoher Wahrscheinlichkeit zu enttar-
nen, die unter den Kampfnamen »Delfin«
und »Orion« operieren.
Dobrochotow ist Chefredakteur der
Internetzeitung »The Insider«, er sitzt in
einem hippen Co-Working-Space in der
ehemaligen Schokoladenfabrik »Roter
Oktober«, unweit vom Moskauer Kreml.
Dobrochotow arbeitet mit Bellingcat zu-
sammen, nicht nur im Fall MH17.
»Delfin« ist offenbar Nikolaj Tkatschow –
Generaloberst, Militärberater in Syrien bis
2012 und danach Oberinspektor des Zen-
tralen Militärbezirks der Russischen Föde-
ration. »Orion« stellt sich als der ehemali-
ge GRU-Offizier Oleg Iwannikow heraus.
Dobrochotow holt beide unter einem Vor-
wand ans Telefon, um an Stimmproben
zu gelangen: Tkatschow interviewt er zu
einem harmlosen Thema, der Ausbildung
von Kadetten. Iwannikow ruft Dobrocho-
tow unter Vortäuschung einer Meinungs-
umfrage an.
Die nächste Person, die die Ermittler
identifizieren wollen, ist »Wladimir Iwa-
nowitsch« – ein Mann, der die Verteilung
russischer Waffen an die Separatisten kon-
trolliert haben soll.
Und natürlich versucht die JIT heraus-
zufinden, ob Soldaten der 53. Flugabwehr-
raketenbrigade aus Kursk am 17. Juli 2014
auf ukrainischem Boden waren.
Generaloberst Tkatschow streitet ab,
2014 in der Ukraine gewesen zu sein, und
hat 2017 angekündigt, »The Insider« zu ver-
klagen, es dann aber unterlassen. Wenn er
richtig identifiziert ist, dann wäre die Be-
fehlskette schon sehr weit nach oben sicht-
bar. Die Frage ist jetzt: Wie mutig ist die
niederländische Justiz? Sind die Ermittler
bereit, die obersten Entscheider zu beschul-
digen, etwa Verteidigungsminister Sergej
Schoigu? Dobrochotow ist zuversichtlich:
»Mir scheint, darauf läuft es derzeit hinaus.«
Der Wettlauf
Es würde in diesem Fall ein hochpoliti-
scher Prozess. Putins Führungszirkel säße
dann auf der Anklagebank, jedenfalls im
übertragenen Sinn. Die Frage ist allerdings,
ob sich internationale Politik und Justiz
vertragen.
Denn bald soll eigentlich ein Treffen im
Normandie-Format stattfinden, bei dem
Frankreich, Deutschland, Russland und
die Ukraine über die Beilegung des Kon-
flikts im Donbass verhandeln wollen.
Wichtig ist das vor allem für Präsident Se-
lenskyj, der seinen Wählern solche Fort-
schritte versprochen hat.
Interessenkonflikte sind absehbar, so
wie voriges Jahr, als Selenskyj zum Ärger
der niederländischen Justiz einen Schlüs-
selzeugen und Verdächtigen an Russland
übergab statt an die Niederlande: Wladi-
mir Zemach soll als Separatist gekämpft
und angeblich bei dem Abtransport der
Buk aus der Ukraine nach Russland mit-
geholfen haben.
Moskau machte damals klar: Ohne Ze-
machs Freilassung werde es den ge planten
Gefangenenaustausch mit Kiew platzen
lassen. Wolodymyr Selenskyj gab nach.
Andererseits führt Russland längst Ver-
handlungen mit den Niederlanden und
Australien über eine Entschädigung der
Opfer von MH17. Mit Sicherheit wird Russ-
land ein Schuldeingeständnis vermeiden –
Putin wird aushandeln wollen, dass die
Gegenseite mit der Entschädigung sämtli-
che Ansprüche gegenüber dem russischen
Staat fallen lässt. So entschädigten die
USA die Familien iranischer Opfer eines
Airbus-Unglücks von 1988, das sie zu ver-
antworten hatten.
Im Gegensatz zu Russland stritten die
Vereinigten Staaten aber nie ab, das Flug-
zeug damals abgeschossen zu haben. Sie
sprachen von einer bedauerlichen Ver-
wechslung, von Selbstverteidigung. Russ-
land dagegen kann eine im Grunde ver-
gleichbare Verwechslung – vermeintliches
Ziel war ja eine ukrainische Militärmaschi-
ne – nicht zugeben. Denn das hieße zuzu-
geben, dass es auf ukrainischem Boden
Krieg führte. Diese offenkundige Wahrheit
aber hat Russland stets abgestritten, und
deshalb hat es die Ermittlungen nach Kräf-
ten behindert.
Der Kreml ist schnell im Verbreiten von
Versionen, Zweifeln, Ausreden. Die JIT
und die niederländische Justiz arbeiten
quälend langsam. Aber nun, da knapp
sechs Jahre vergangen sind, merkt man:
Die Justiz ist besser vorangekommen, weil
sie sich beharrlich in eine Richtung bewegt
hat. Sie hat den Weg vom Verdacht zur An-
klage zurückgelegt, und sie will weiter zum
Urteil. Der Kreml dagegen ist beim Leug-
nen nicht vom Fleck gekommen, weil er
immer wieder die Richtung ge ändert hat.
Er hat einen langen Wettlauf verloren.
Igor Girkin, der Separatistenkomman-
deur, schließt nicht aus, dass er doch noch
einmal vor dem Gericht landen könnte.
Der Prozess könne ja viele Jahre dauern,
wer wisse schon, wer dann in Russland an
der Macht sei und ihn, Girkin, möglicher-
weise ausliefere. Aber etwas anderes
schließt er aus: Er werde nicht mit der Jus-
tiz zusammenarbeiten und sich nicht ein-
mal rechtfertigen, so wie das etwa die ju-
goslawischen Politiker Radovan Karadžić
und Slobodan Milošević gemacht hätten,
als sie wegen Kriegsverbrechen vor dem
Tribunal in Den Haag standen. »Für mich
ist das kein Gericht.«
Alexander Chernyshev, Christian Esch,
Christina Hebel, Katja Lutska,
Dietmar Pieper, Alexander Sarovic,
Tatjana Sutkowaja
DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020 91
Ausland
SASHA MORDOVETS / GETTY IMAGES
Oberbefehlshaber Putin 2014
Der Kreml ist schnell im Verbreiten von Zweifeln und Ausreden