Die Zeit - 12.03.2020

(backadmin) #1
DIE ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR


DIE SEUCHE UND DIE POPULISTEN DIE SEUCHE UND DIE KONJUNKTUR

In der Not orientieren sich die Menschen wieder an seriösen Medien


und Politikern. Das ist eine einmalige Chance VON JAN ROSS


Für die Wirtschaft ist das gefährlichste Virus die Angst. Die


Regierung muss sie bekämpfen – mit viel Geld VON ROMAN PLETTER


Virus der Vernunft Zeit kaufen!


I


n der Corona-Krise mit ihrem enormen
Verheerungspotenzial steckt zugleich eine
Chance für die politische Vernunft. Das
klingt paradox: Was könnte für den ra-
tionalen, besonnenen Gang der öffentli-
chen Dinge bedrohlicher sein als eine
panikträchtige Notlage? Doch so einfach ist es
nicht. Denn in einer ernsten Gefahrensituation
wächst zugleich das Bedürfnis nach Professiona-
lität und Erwachsenheit. Während die Stimmungs-
politik der Demagogen, Fantasten und Maulhel-
den auf einmal sehr viel weniger attraktiv wirkt.
So ist es kein Zufall, dass die Sars-CoV-2-Epi-
demie sofort als hochriskant für Donald Trump
empfunden wurde. Nicht nur, weil der amerika-
nische Präsident für seine Wiederwahl im Novem-
ber auf gute Wirtschaftszahlen baut und daher
einen ökonomischen Einbruch durch die Virus-
folgen fürchten muss. Sondern vor allem, weil
Trump für diese Lage den erkennbar falschen
Politikertypus verkörpert.
Dies ist nicht der Augenblick, in dem man
von einem schwadronierenden Entertainer re-
giert werden möchte, der nachts im Weißen
Haus vor dem Fernseher hängt und in mani-
schem Eifer Tweets absetzt. Von einem Wissen-
schaftsverächter, der seit Jahren Etatkürzungen
für die großen US-Forschungseinrichtungen
fordert, unter anderem für die Nationalen Ge-
sundheitsinstitute (NIH). Man wüsste gern, wie
viele Trump-Wähler sich jetzt heimlich, für ein
paar Monate wenigstens, die kühle Präzision von
Barack Obama zurückwünschen, dem jeder zu-
traute, dass er zur Not um sechs Uhr früh am
Schreibtisch sitzen und trotzdem spätabends
noch konzentriert einem Meeting folgen konnte.

Populismus ist ein Luxus, den man
sich leisten können muss

Es geht jedoch nicht nur um das richtige politi-
sche Personal. Vielmehr wirkt der gesamte popu-
listische Affekt im Moment der Krise eigentüm-
lich fehl am Platz. Eben wurde noch (etwa von
Brexit-Befürwortern, denen pessimistische öko-
nomische Prognosen für Großbritannien nach
dem EU-Austritt missfielen) über die angebliche
Überschätzung von Experten und Expertise her-
gezogen. Aber wird nun irgendjemand im Ernst
seine Gesundheit lieber laienhaften Gesinnungs-
freunden als erfahrenen Ärzten, also Experten,
anvertrauen? Will man seine Informationen

über die Corona-Epidemie wirklich eher von
ideologisierten Bloggern aus dem eigenen
Meinungslager beziehen als von den »Main-
stream-Medien«, die von Trump und seines-
gleichen als Stimme einer volksfernen Elite atta-
ckiert werden? Die ganze Fantasie von einer bes-
seren, authentischen Alternativwelt im Gegen-
satz zum verhassten Establishment bricht im
Angesicht einer echten Herausforderung zusam-
men. Populismus ist ein Luxusphänomen, das
man sich leisten können muss. Er verhält sich
parasitär zu einer Normalität, die ihm als lang-
weilig oder korrupt gilt, von der er aber kom-
plett abhängig bleibt. Im Ausnahmezustand da-
gegen, wenn die Börsenkurse abstürzen, steigen
die Aktien der Sachlichkeit.
Zwei Vorbehalte bei den Chancen der Krise
muss man allerdings anbringen. Der eine betrifft
den Systemwettbewerb zwischen Demokratie
und autoritärer Herrschaft, der sich gegenwärtig,
vor allem mit Blick auf China, fühlbar zuspitzt.
Eine Renaissance von Rationalität und Profes-
sionalität heißt leider nicht unbedingt, dass es
sich dabei um demokratische Rationalität und
Professionalität handeln muss. Das abschließen-
de Urteil über den chinesischen Umgang mit
dem Coronavirus steht noch nicht fest. Sollte es
trotz der anfänglichen diktaturtypischen Lügen
im Ergebnis eher günstig ausfallen (während wo-
möglich die Vereinigten Staaten ein abschre-
ckendes Beispiel des Versagens liefern), dann
wäre die politische Bilanz der Epidemie für den
Westen und für die Idee der Demokratie negativ.
Nicht nur ein freiheitlicher, sondern auch ein
autoritärer Antipopulismus könnte von den Ereig-
nissen dieser Wochen profitieren.
Damit ist auch der zweite Vorbehalt schon be-
rührt: Es kommt am Ende auf die Resultate, auf
den Erfolg an. In der Krise erhalten eine traditio-
nelle Regierung und Verwaltung noch einmal wohl-
wollendes Gehör, es stellt sich heraus, dass sie im-
mer noch auf einen gewissen Vertrauensvorschuss
zählen können. Sie müssen jetzt aber auch liefern.
Wenn sie das nicht schaffen, wenn sich heraus-
stellen sollte, dass es sich bei ihnen um überschätz-
te Scheingrößen handelt, mit deren Leistungsfähig-
keit es in Wahrheit nicht weit her ist – dann würde
sich die unerwartete Chance in ein Desaster ver-
wandeln. Dann wäre die Freude der Populisten
doch noch groß.

A http://www.zeit.deeaudio

W


ir feiern das Comeback einer
Floskel: Es geht nun darum,
»Zeit zu kaufen«, um der
Corona- und der ihr folgen-
den Wirtschaftskrise Herr zu
werden, um Firmeninsolven-
zen und Arbeitslosigkeit zu verhindern. Um zu
verhindern, dass die Lufthansa ein Menetekel wird
mit ihrem wegen des Virus um die Hälfte zusam-
mengestrichenen Flugplan – und um zu verhindern,
dass die Kurseinbrüche an den Börsen der Welt
sich zu einer systemischen Krise auswachsen.
Zeit kaufen. Das klingt nur scheinbar wie ein
Echo aus den Jahren nach 2008, als Notenban-
ken überall auf der Welt Geld druckten und
Zinsen senkten, um den Regierungen finanzielle
Spielräume und (eben!) Zeit zu verschaffen. Die
Finanzkrise hatte damals am US-Häusermarkt
ihren Ausgang genommen und weltweit die Real-
wirtschaft angesteckt. Die Politik sollte die ge-
kaufte Zeit nutzen, um Banken mit neuen Re-
geln die Lust am Risiko zu nehmen (was ganz gut
gelungen ist und der Banken-Stabilität jetzt hilft)
und um die Staatsfinanzen solider zu gestalten
(was nicht überall so gut gelungen ist und den
Spielraum der Staaten nicht gerade erweitert hat).
Auch jetzt ist es das Ziel, Zeit zu kaufen.
Ansonsten ist dieses Mal alles anders. Das gilt für
die weltwirtschaftliche Ausgangslage ebenso wie
für die Ursachen der Krise und deren Folgen –
und damit auch für deren Bekämpfung.

Einzelne Branchen werden ohne
staatliche Hilfe nicht auskommen

Im Unterschied zu damals treffen die Unternehmen
heute nicht die Auswirkungen einer Finanzkrise.
Diese Krise trifft die Realwirtschaft direkt und von
gleich zwei Seiten: Aufseiten der Unternehmen, der
Angebotsseite, fällt vielerorts die Produktion aus,
weil keine Zulieferungen aus China ankommen und
weil Mitarbeiter zu Hause bleiben müssen. Auf der
Seite der Nachfrager sieht es nicht besser aus, weil
viele Menschen aus Angst vor Ansteckung Reisen
absagen, nicht in Restaurants gehen oder wegen der
Sorge um die Zukunft Anschaffungen aufschieben.
Jeder Beschäftigte kann sich ausmalen, was es
heißen würde für sein eigenes Unternehmen, soll-
te es wie die Lufthansa das Angebot halbieren
müssen: nur halb so viele verkaufte Autos, Turn-
schuhe, Mahlzeiten. Kurzum: Das Coronavirus
ist ein unternehmerischer Albtraum.

Die politische Herausforderung besteht nun
darin, die Wirtschaft zu stabilisieren, bis das Land
aus diesem Albtraum aufwacht, bis also das Virus
unter Kontrolle ist. Es geht nicht darum, unbe-
grenzt Zeit zu kaufen, sondern allein um diesen
Zeitraum. Es gilt zudem, ein weiteres und für die
Wirtschaft sehr ansteckendes Virus zu bekämp-
fen: die Angst oder deren Steigerung, die Panik.
Es braucht ein kollektives Sedativum.
Anders als 2008 sind nicht die Notenbanken
am Zug, es zu verabreichen. Heute muss der Staat
mehr denn je direkte und schnelle Hilfen für Un-
ternehmen bereitstellen, damit sie die kommen-
den Wochen überstehen und keine Mitarbeiter
entlassen müssen. Die Regierung hat bereits eine
Ausweitung des Kurzarbeitergeldes beschlossen,
also Lohnzuschüsse der Arbeitsämter für betroffe-
ne Unternehmen. Dazu soll es staatliche Hilfs-
kredite geben. Beide Maßnahmen sind richtig.
Einzelne Branchen werden aber ohne weitere
Hilfen nicht auskommen. Auch daran arbeitet die
Regierung. Sie sollte dabei ein paar Regeln beher-
zigen, damit nur jene profitieren, die das Steuer-
geld brauchen, und damit die Unterstützung wir-
ken kann: Sie muss die Mittel schnell und unbüro-
kratisch zur Verfügung stellen. Ihre Auszahlung
muss eindeutig Folgen des Virus lindern und zeit-
lich begrenzt sein. Und vor allem müssen sie zielge-
nauer sein als breit gestreute Investitionen in »In-
frastruktur«. Von Ausgaben für ohnehin boomen-
de Bauunternehmen würden nur diese profitieren.
Bei der Lösung der aktuellen Krise darf nicht
der Rat jener sich durchsetzen, die damit nur öko-
nomische Erlösungs- oder Bestrafungsfantasien
verfolgen, mit denen sie sonst nicht durchkom-
men. Wenn nun also wieder einer der üblichen
»Wir geben zu wenig aus«-Ökonomen findet, dass
dies der Moment sei, alle Schuldenregeln auf ewig
fahren zu lassen, sollte er ganz schnell unter politi-
sche Quarantäne gestellt werden, ebenso wie jene
Unions-Wirtschaftsrats-Menschen (und es wird
sicher nicht lange dauern, bis es so weit ist), die vor
Hilfen für Italien warnen. Denn Solidarität muss
nun auch für die europäischen Nachbarn gelten.
Wenn es akut hilft, Abgaben zu senken, dann
ist jetzt die Zeit dafür, ebenso verhält es sich mit
mehr Staatsausgaben. So man lernt, wo weniger
und wo mehr sinnvoll ist und wie sich dies un-
bürokratisch machen lässt, dann wäre das zumin-
dest eine Lehre für die Zeit nach dem Erwachen.

A http://www.zeit.deeaudio

Das Lesen geht weiter


Auch wenn die Leipziger Buchmesse ausfällt, erscheinen Tausende neue Bücher.


Die wichtigsten besprechen Elke Heidenreich, Daniel Kehlmann und viele andere


in der neuen ZEIT-Literaturbeilage


Titelillustration: Matt Chase für DIE ZEIT

Es gibt noch gute Nachrichten:
Beim World Championship Cheese
Contest in Madison (USA) ist der
Schweizer Gruyère von einer
55-köpfigen Jury zum besten Käse
der Welt gekürt worden. Er stammt
von dem Käser Michael Spycher
aus Bern. Angenommen, es gäbe
einen World Championship Con-
test, so verdiente der World Cham-
pionship Cheese Contest sicherlich
die Goldmedaille. GRN.

Alles Käse


PROMINENT IGNORIERT

kl. Fotos: Getty Images; StockFood

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  1. JAHRGANG C 7451 C


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  1. MÄRZ 2020 No 12


CORONA: ITALIEN


MACHT DICHT


Leere Plätze, leere Stadien,


kein Gottesdienst – ist


die Radikalität der Italiener


e i n Vor bi ld?


Wirtschaft, Entdecken, Glauben & Zweifeln

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Keiner fürchtet das Virus mehr


als die Börse. Außer Trump


Wirtschaft

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Wie sich die Quarantäne auf


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