24 WIRTSCHAFT 12. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12
Hilfe!
Wie kaum eine andere Branche wird die Tourismus-Industrie durch das Coronavirus gebeutelt. Die Reiseveranstalter
können kaum reagieren VON INGO MALCHER UND CLAAS TATJE
Z
wischen Hölle und Himmel lie-
gen für Oliver Lackmann an die-
sem Montagnachmittag nur weni-
ge Minuten. Um 16.22 Uhr gibt
der Flugkapitän der Boeing 737-
800 auf Startbahn 09 R/27L in
Hannover vollen Schub Richtung
Westen. Für Lackmann ist der Flug auch eine
Flucht aus dem Manager-Alltag. Der 51-Jährige ist
nicht nur Pilot, sondern Chef von TUIfly und da-
mit von 2400 Mitarbeitern.
Das Coronavirus verunsichert derzeit kaum eine
Branche so sehr wie die Luftfahrt und die Tourismus-
industrie. In gewisser Weise kann man an ihr sehen,
was andere Branchen noch vor sich haben. Wie ernst
die Lage ist, zeigte sich zuletzt
am Dienstag, als Bundeswirt-
schaftsminister Peter Altmaier
(CDU) die Branche explizit
nannte, als er sagte, die Co-
ronavirus-Epidemie habe »er-
hebliche« Auswirkungen, ins-
besondere für den Tourismus,
Hotels und Gaststätten. Der
Minister versicherte deshalb:
»Wir wollen, dass möglichst
land nur aufgrund der Coro-
na-Epidemie in die Insolvenz
gehen muss.«
Lackmann muss im Cock-
pit der Boeing jetzt erst mal die
Maschine nach oben bringen.
Die Turbinen dröhnen, die
Trimmräder rotieren, die Wol-
ken werden durchbrochen.
Auf 35.000 Fuß übergibt
Lackmann an den Co-Piloten
Frank Rauch, es geht der
Sonne entgegen. »Corona wird
mir die Freude am Fliegen
nicht verderben«, sagt Lack-
mann.
Damit ist er in diesen Ta-
gen ziemlich allein.
Bei der Lufthansa plant
man mittlerweile – sollte sich die Lage nicht ent-
spannen –, die Hälfte der Flotte am Boden zu lassen,
der Luftfahrtverband Iata rechnet mit weltweiten
Umsatzeinbußen von bis zu 113 Milliarden Dollar,
und auch die Tourismusindustrie ist von ausbleiben-
den Buchungen wie paralysiert. Viele Reiseveranstal-
ter bieten aus purer Not inzwischen sogar an, dass
Kunden ihre Pakete kostenlos stornieren können,
wenn sie jetzt buchen, an Ostern, zu Pfingsten oder
im Sommer dann aber doch nicht wegwollen. Viel-
leicht, so die Hoffnung, verzichten die Kunden dann
nicht sofort auf ihre Urlaubspläne.
Die Reisebranche ist ein gewaltiger Wirtschafts-
faktor. In den Industrieländern der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(OECD) macht sie 4,4 Prozent des Bruttoinlands-
produkts aus. 6,9 Prozent aller Jobs hängen direkt am
Tourismus, so die Organisation in ihrem jüngsten
Report. Doch die Branche wurde in den vergangenen
Jahren heftig gebeutelt. Zuletzt war vergangenen
September der Thomas-Cook-Konzern pleitege-
gangen. Regierungen mussten Urlauber nach Hause
holen.
Und jetzt? Im Frühjahr werden viele Reisen
gebucht, und die Veranstalter sind auf die Voraus-
zahlungen angewiesen. Über den Herbst und den
Winter haben sie Abschläge an Hotels und Fluggesell-
schaften gezahlt oder eigene Hotels renoviert. Jetzt
brauchen sie Geld – und das bleibt aus.
Wer Menschenmassen ausweichen will, meidet
Bahnhöfe und Flughäfen, Hotels und Sehenswürdig-
keiten. Also verschieben viele Urlauber ihre Planun-
gen. Und die Reiseveranstalter
können wenig machen. Sie
können ihre Touren billiger
anbieten. Aber sie können den
Strand nicht zu den Kunden
tragen. Die britische Flug-
gesellschaft Flybe traf es als
eine der ersten, das Unterneh-
men mit 2000 Mitarbeitern
musste Anfang März Insolvenz
anmelden.
Bei TUIfly arbeiten noch
einmal 400 Menschen mehr.
Und die Lage seiner Branche
konnte Lackmann am Montag
schon an der Anzeigetafel im
Flughafen ablesen: Flug EW
2055 nach Stuttgart: gestri-
chen; LX 817 nach Zürich:
gestrichen; AF 1839 nach Pa-
ris: ebenfalls gestrichen.
Da grenzt es fast an ein
Wunder, dass in Lackmanns
Flug X3 2146 nicht weniger
als 175 Passagiere sitzen, nur
14 Plätze sind noch frei. »Wir
können unseren Flugbetrieb
zu 100 Prozent aufrechterhal-
ten«, sagt er.
Es gehört zum Job eines
Piloten, die Route und den Ablauf des Fluges genau
zu planen. Aber das Coronavirus macht Planung für
den Manager Lackmann dieser Tage schwierig. Kei-
ner weiß, wie schlimm es noch wird.
Dabei hat er schon viel erlebt. Kurz nach der
Flugschule heuerte er erst bei Augsburg Airways an
und wechselte dann zu Air Berlin. Dann kamen die
Terroranschläge des 11. September 2001, und die
Nachfrage brach über Nacht komplett weg. »Die
Angst flog plötzlich immer mit«, sagt Lackmann.
»Die Krise bedrohte die ganze Luftfahrtwelt.« Aber
irgendwann stiegen die Leute wieder in die Maschi-
nen ein, und es ging weiter.
Zurzeit überwiegt wieder die Angst. Es ist die
Angst vor Ansteckungen. Das merkt Lackmann auch
in seinem direkten Umfeld. »Die Verunsicherung bei
Freunden und Bekannten ist groß«, sagt er. Aber das
werde sich ändern. »Die Menschen wollen nicht mehr
nur mit den Auto in den Schwarzwald fahren. Die
wollen auf der ganzen Welt was erleben.«
Um 17.27 Uhr sagt Lackmann: »Lassen wir sie
mal laufen«, und hebt an einem kleinen Schalthebel
die Anschnallpflicht auf. Fühlt sich der Mann, der
über den Wolken die Kontrolle hat, am Boden
machtlos? »Man darf sich nicht emotional runter-
ziehen lassen«, sagt er, denn »es wird eine Zeit danach
geben, und auf die muss ich das Unternehmen best-
möglich vorbereiten.« So wird TUIfly künftig auch
Langstreckenflüge anbieten.
Lackmann hat harte Monate hinter sich. Der
TUI-Konzern, zu dem TUIfly gehört, hatte 72 Ma-
schinen vom Typ Boeing 737 Max bestellt. Seit einem
Jahr wartet das Unternehmen auf die Flieger, die
wegen schwerer Mängel nicht ausgeliefert werden
können. 293 Millionen Euro kostete die Boeing-
Krise TUI im vergangenen Geschäftsjahr. »Auf
Corona hätte ich jetzt gut verzichten können«, sagt
Lackmann.
Um 18.30 Uhr ist Flug X3 2146 in Palma de
Mallorca am Gate. Die Bremsen sind gesetzt, die
Türen werden geöffnet. Für die meisten Passagiere
beginnt jetzt der Urlaub. TUIfly steuert in diesen
Tagen vor allem spanische Ziele an – die Balearen,
die Kanaren und das Festland. Und Lackmann hofft,
dass seine Kunden dort weiter hinwollen. »Die Men-
schen können sich in Deutschland ebenso anstecken
wie in Spanien, es gibt für die meisten Länder keinen
Grund, die Reisen zu stornieren«, sagt er.
So sieht es auch Yaiza Castilla Herrera, die deshalb
am Donnerstag der vergangenen Woche in ein Flug-
zeug nach Berlin steigt. Ebenso wie für Lackmann
steht für Castilla mit dem Coronavirus viel auf dem
Spiel. Castilla ist Tourismusministerin der Kanari-
schen Inseln, als solche ist sie gerade viel unterwegs.
In Berlin stehen Termine mit Reiseveranstaltern auf
dem Plan. Sie wollte im März ohnehin in der Stadt
sein, um auf der Internationalen Tourismus-Börse
für die Kanaren zu werben. Als die Messe dann kurz-
fristig abgesagt wurde, entschied sie sich, trotzdem
zu kommen. »Der persönliche Kontakt mit unseren
Partnern ist wichtig, gerade jetzt muss man miteinan-
der reden«, sagt sie im Gespräch mit der ZEIT.
Wie kein anderes Land in der OECD ist Spanien
vom Tourismus abhängig, 13,5 Prozent aller Arbeits-
plätze sind mit diesem verwoben. Auf den Kanari-
schen Inseln ist es noch extremer. Dort mache der
Tourismus 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus,
rund 40 Prozent aller Jobs hängen am Tourismus,
so Castilla. Wenn man die Handwerker, Metzger,
Fischer, mit einrechne, mache der Tourismus fast
80 Prozent der Wirtschaftsleistung der Kanaren aus.
Genau das ist Castillas Problem. Am Nachmittag
gegen 16 Uhr verlässt sie das Büro der Hauptstadt-
Repräsentanz von TUI, es ist ihr zweiter Termin an
diesem Tag. Gleich geht es weiter zum spanischen
Fremdenverkehrsamt. Sie will wissen, wie es jetzt
weitergeht. »Ich will herausfinden, was man über
die Kanaren denkt«, sagt sie. »Und was die Reise-
veranstalter planen.« Die Deutschen sind nach den
Briten die zweitwichtigste Urlaubergruppe auf den
Inseln.
Doch die Marke hat gelitten, als das Hotel H10
Costa Adeje Palace auf Teneriffa wegen eines positi-
ven Corona-Falls zwei Wochen lang unter Quaran-
täne gestellt wurde – unter den Gästen befanden sich
auch mehr als 200 Deutsche. Wer keine Symptome
zeigte, durfte zwar an den Pool, ins Fitnesscenter und
in den Speisesaal. Aber niemand durfte die Anlage
verlassen, vor den Ausgängen war die Polizei postiert.
Erst am Dienstag wurde die Quarantäne von den
Behörden aufgehoben.
Es sind solche Nachrichten, die Castilla gerade
nicht brauchen kann: dass Urlauber im Hotel sitzen
wie im Gefängnis. Sie wiederholt immer wieder: »Wir
sind sehr gut darauf vorberei-
tet, mit allen möglichen Krisen
umzugehen.« Man habe jahr-
zehntelange Erfahrung mit
Urlaubern und eine auf den
Tourismus ausgerichtete In-
frastruktur. Ihre Regierung
habe es auch geschafft, im ver-
gangenen Jahr die 35.000
Kunden des Veranstalters
Thomas Cook auszufliegen,
nachdem der pleitegegangen
war. 15 Millionen Euro gab es
danach von der spanischen
Zentralregierung als Unter-
stützung für die Inseln. Gerade
überlegte man, wie man das
Geld ausgeben werde, da kam
das Coronavirus.
»Wir wissen nicht, wie
lange es geht«, sagt Castilla. Bei
den Veranstaltern wirbt sie des-
halb um die Kanaren als Reise-
ziel. Demnächst will sie zu
Messen in Lissabon, Paris und
Moskau, falls die stattfinden.
Doch am Montag dieser
Woche muss die Ministerin
nach ihrer Rückkehr erst mal
im Parlament der Kanaren die
Fragen der Abgeordneten beantworten. Immer wieder
geht es dabei auch um deutsche Urlauber. Castilla
kann berichten, dass die Zahl der deutschen Touristen
auf den Kanaren in den vergangenen zwei Jahren
zurückgegangen ist, dass es aber dieses Jahr wieder gut
ausgesehen habe. Die Fluggesellschaften hätten ihre
Kapazitäten für die Kanaren um 8,5 Prozent erhöht,
das seien 1,5 Millionen mehr Plätze an Bord. Für die
Sommerferien, so versichert die Ministerin den Ab-
geordneten, seien das gute Aussichten – wenn die
Coronavirus-Epidemie bis dahin im Griff ist.
Früher ließ sich das Geschäft im Tourismus gut
planen. Hochsaison ist während der Schulferien, und
deren Termine sind Jahre vorher bekannt. Veranstal-
ter, Fluggesellschaften und Hoteliers konnten also
lange im Voraus wissen, wann sie wie viele Leute
brauchen würden. Aber das hat sich geändert.
Kaum jemand hat das Auf und Ab der Branche
heftiger gespürt als Michael Frenzel. Heute ist der
73-Jährige Präsident des Bundesverbands der Deut-
schen Tourismuswirtschaft. Davor hat er als Manager
Ende der Neunzigerjahre mit dem Mischkonzern
Preussag die TUI komplett übernommen und das
Geschäft stetig ausgebaut. Dann kamen der 11.
September 2001 und der Durchbruch des Internets.
»Im Jahr 2002 haben wir gemerkt, dass sich etwas auf
Dauer verändert. Die ruhige Welt, die man aus frü-
heren Jahrzehnten kannte, war vorbei.«
Die Schocks nahmen zu, und sie kamen in kür-
zeren Abständen: Im April 2002 starben bei einem
Terroranschlag auf Djerba 14 deutsche Urlauber. Es
folgten Naturkatastrophen und Epidemien – Sars,
der Tsunami in Thailand oder
der Ausbruch des isländischen
Vulkans Eyjafjallajökull. Und
dann wandelten Online-An-
bieter das Buchungsverhalten
der Touristen radikal – Preise
lassen sich seither in Minuten
vergleichen und Hotels ebenso
schnell individuell buchen.
Wie hart es diesmal kom-
men wird, kann niemand sa-
gen. Gerald Kassner beobach-
tet die Nachrichten deshalb
genau. Er ist Geschäftsführer
bei Schauinsland Reisen, einem
der sechs großen Veranstalter
hierzulande. »Wir haben Bu-
chungsrückgänge«, sagt er.
»Aber nicht so gravierend, wie
man das bei anderen hört.«
Genaue Zahlen nennt er nicht.
Wie es weitergeht? »Wir haben
Verpflichtungen gegenüber
unseren Partnern im Ausland,
mit denen müsste man reden,
wenn es schlimmer kommt,
um die Gesamtverantwortung
zu minimieren.«
Auf Palma de Mallorca ist
es schon dunkel, als Kapitän
Lackmann das Flugzeug wieder auf den Rückweg
nach Hannover bringt. Links unten sieht er die hell
erleuchtete Promenade von Palma, zur rechten Seite
leuchtet der Vollmond. »Das ist ein Traum«, sagt er.
Wäre da nicht das Virus.
Als Lackmann den Norden Italiens überfliegt,
schaut er auf Genua und Mailand hinab. Immer-
hin: »Die Lichter sind noch an, das Leben geht auch
hier weiter.«
Da weiß er noch nicht, dass in der Zwischenzeit
ganz Italien zur Sperrzone erklärt wurde. Lackmann
erfährt davon, als er in Hannover das Gate betritt.
Wenige Hundert Meter weiter hat er für die Nacht
ein Hotelzimmer gebucht. Die Kapitänsjacke mit
den vier Streifen wird er ausziehen und tags darauf
gegen einen Anzug tauschen. Er hat einen Termin in
der TUI-Zentrale. Es soll auch ums Sparen gehen.
CORONA-KRISE
Fotos (v. o.): Alfredo Falcone/ZUMA/ddp; Moritz Küstner für DIE ZEIT; Rubén Plasencia für DIE ZEIT
»Corona wird mir die
Freude am Fliegen
nicht verderben«
Oliver Lackmann,
Flugkapitän und TUIfly-Chef
»Wir sind sehr
gut auf Krisen
vorbereitet«
Yaiza Castilla Herrera, Tourismus-
ministerin der Kanarischen Inseln
Das Kolosseum in Rom
Wo sonst Touristen
drängen, ist es
menschenleer