Die Zeit - 12.03.2020

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34 WISSEN 12. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12


FRAUEN IN DER WISSENSCHAFT


Vorschlag: Hannah Arendt
Barbara Stollberg-Rilinger, Historikerin und
Rektorin des Wissenschaftskollegs Berlin

Warum Hannah Arendt? Es gäbe hundert Gründe.
Einer davon ist, dass sie den Kampf gegen Dogma-
tismus – aus welcher Richtung auch immer – ver-
körpert. Und warum sollte meine Heimatuniver-
sität Münster nach ihr heißen? Nicht weil Hannah
Arendt einen spezifischen Bezug zu dieser Univer-
sität hätte. Den braucht es nicht; ihr Name würde
ja jede deutsche Universität schmücken. Sondern
weil diese, meine Heimatuniversität der Umbe-
nennung in besonderem Maße bedarf. Sie heißt
nämlich derzeit nach Kaiser Wilhelm II. – eine
Peinlichkeit, die längst abgeschafft gehörte.


Vorschlag: Christiane Nüsslein-Volhard
Martin Stratmann,
Präsident der Max-Planck-Gesellschaft

Für die Eberhard-Karls-Universität in Tübingen
möchte ich bei diesem Gedankenspiel den
Namen der bisher einzigen deutschen Nobel-
preisträgerin in den Naturwissenschaften vor-
schlagen: Christiane Nüsslein-Volhard. Die Uni-
versität führt bislang den Namen ihres Gründers
Graf Eberhard aus dem 15. Jahrhundert, dem
Herzog Karl im 18. Jahrhundert seinen eigenen
hinzufügte. Nur, was verbinden junge Studen-
tinnen und Studenten mit diesen Namen?
Wenig, denn beide stehen wohl kaum für mo-
derne Forschung, wie sie seit dem 20. Jahrhun-
dert Einzug in unsere Hörsäle und Labore ge-
halten hat. Es wäre insofern an der Zeit, der
Universität den Namen eines Forschers, besser
noch: einer Forscherin zu geben, die ihr Leben
erfolgreich der Wissenschaft gewidmet hat. Und
wer wäre besser geeignet als Christiane Nüsslein-
Volhard? Sie hat ihr Studium an der Tübinger
Universität absolviert und den Großteil ihres
Forscherinnenlebens dort verbracht. 1995 hat sie
als erste deutsche Naturwissenschaftlerin den
Nobelpreis für Medizin erhalten. Immer wieder
bringt sie sich in wichtige gesellschaftliche De-
batten zur Wissenschaft ein.


Vorschlag: Emmy Noether
Dorothea Wagner,
Vorsitzende des Wissenschaftsrates

Emmy Noether war eine herausragende Mathe-
matikerin. Sie hat an der Universität Erlangen
studiert und wurde 1907 dort promoviert. Sie
wäre eine sehr überzeugende Namensgeberin für
die heutige Friedrich-Alexander-Universität, die
nach ihrem Gründer Markgraf Friedrich von
Brandenburg-Bayreuth und ihrem großen För-
derer Markgraf Alexander von Brandenburg-
Ansbach und Brandenburg-Bayreuth benannt
wurde. Vielleicht wäre Noether aber auch die
ideale Namensgeberin für die neu gegründete
Technische Universität Nürnberg – Hochschu-
len müssen ja nicht immer nach ihren Gründern
und Förderern benannt sein!


Vorschlag: Caroline von Humboldt
Christoph Markschies, Präsident der Berlin-
Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Die Berliner Universität Unter den Linden trug
früher den Namen des Monarchen, in dessen
Regierungszeit sie 1810 gegründet wurde, und
wird erst seit 1949 »Humboldt-Universität« ge-
nannt. Das im Design etwas angegraute Univer-
sitätswappen lässt keinen Zweifel daran, dass
die beiden Personen gemeint sind, die seit dem


  1. Jahrhundert auch in Marmor vor dem
    Hauptgebäude sitzen – die Brüder Wilhelm
    und Alexander von Humboldt. Als Wissen-
    schaftspolitiker und Forscher haben sie je unter-
    schiedliche Bedeutung für die Berliner Univer-
    sität und weit darüber hinaus. Es wird aber
    Zeit, auch im Namen der Universität an eine
    Frau zu erinnern, ohne die Wilhelm von Hum-
    boldt nicht das geworden wäre und geleistet
    hätte, was seine Bedeutung heute ausmacht:
    Caroline von Humboldt-Dacheröden. Caroline
    und Wilhelm führten eine für damalige Zeiten
    sehr ungewöhnliche Ehe, man kann ihre Part-
    nerschaft als fortgesetztes Gespräch und sehr
    engen intellektuellen Austausch charakterisie-
    ren. Ich würde mich freuen, wenn der vertraute
    Name Humboldt-Universität in Zukunft ein
    Terzett bezeichnen würde: Alexander, Caroline
    und Wilhelm. Dann könnte man auch vor dem
    Haus noch eine Frau zwischen die beiden
    Marmor-Herren stellen.


Vorschlag: Hannah Arendt
Georg Schütte, Generalsekretär der
Volkswagenstiftung

Hannah Arendt war wohl eine der einflussreichs-
ten Gesellschaftstheoretikerinnen des 20. Jahr-
hunderts – ohne dass sie sich selbst als bloße
Theoretikerin begriffen hätte. Während die
Deutschen noch bemüht waren, ihre Mitverant-
wortung für die Verbrechen der NS-Zeit zu ver-
drängen, war es die Philosophin Hannah Arendt


  • als Jüdin selbst nur knapp ihren Verfolgern ent-
    kommen – , die mit Artikeln, Radio- und Fern-
    sehauftritten die öffentliche Auseinandersetzung,
    bisweilen auch den öffentlichen Streit suchte
    und partout keine Ruhe geben wollte. Das Ziel
    ihrer »rücksichtslosen« Aufklärung: den Men-
    schen ihre Sympathien für den Totalitarismus ein
    für alle Mal zu nehmen. Dafür wurde sie be-
    schimpft und bedroht; Konzessionen machte sie
    trotzdem keine. Es steht mir nicht an, eine
    bestimmte Hochschule für ihren Namen vorzu-
    schlagen. Es bereitet mir generell jedoch Sorge,
    dass Ideologen inzwischen sogar Hochschulen in
    Orte verwandeln, an denen die Gedankenfreiheit
    unter Druck gerät. Hannah Arendt wurde 1906
    in Hannover geboren, am Sitz der Volkswagen-
    stiftung. Seit mehr als 20 Jahren erinnern wir mit
    den Hannah-Arendt-Tagen an sie. Und fragen
    uns dann, von Mal zu Mal beklommener, ob wir
    der moralischen Verantwortung gerecht werden,
    die sie uns hinterlassen hat.


Oder sie?


Welche Frauen eignen sich als Namenspatroninnen – und welche Hochschulen sollten nach ihnen


benannt werden? Das hat CHRISTINE PRUSSKY die Spitzen der deutschen Wissenschaft gefragt


Vorschlag: Hildegard von Bingen
Ute von Lojewski,
Präsidentin der Fachhochschule Münster

Eigentlich dürfte ich mich nicht so äußern, wie ich
es gleich tun werde: Erstens sollte ich nur etwas für
die eigene Hochschule vorschlagen, zweitens sollte
ich mich als Protestantin nicht in die Angelegen-
heiten anderer Konfessionen einmischen. Aber sei’s
drum: Ich schlage vor, die Katholische Hoch schule
Nordrhein-Westfalen nach der Universalgelehrten
Hildegard von Bingen zu benennen. Sie lebte im


  1. Jahrhundert, war selbstbewusste Benediktinerin
    und gottesgläubige Äbtissin. Mit großer Leiden-
    schaft hat sie sich für Veränderungen in der katho-
    lischen Kirche eingesetzt. Sie führte als Frau ein für
    die damalige Zeit außergewöhnliches Leben, war
    aber trotzdem immer eine Frau der Kirche. Ich bin
    sicher, lebte sie heute noch, würde sie sich für die
    Maria-2.0-Bewegung einsetzen!


Vorschlag: Dorothea Christiane Erxleben
Rafael Laguna de la Vera, Direktor der
Bundesagentur für Sprunginnovationen

Ich schlage Dorothea Christiane Erxleben als
Namensgeberin für die Universität Halle vor, an
der sie promoviert wurde. An ihr beeindrucken
mich neben ihren außergewöhnlichen geistigen
Fähigkeiten insbesondere ihre Passion für die
Medizin, ihr Mut und ihre Willensstärke, ihren
Weg zu gehen und eine anerkannte Ärztin zu
werden – gegen alle patriarchalen Widerstände.
Damit ist sie Vorbild für alle jungen Frauen, die
sich zu Naturwissenschaften und Mathematik
hingezogen fühlen, sich aber nach wie vor von
der männlichen Dominanz in diesen Disziplinen
abschrecken lassen.

Vorschlag: Marie-Luise Scherer
Dana von Suffrin, Wissenschaftshistorikerin
an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Keine Ahnung, wie meine Alma Mater, die Lud-
wig-Maximilians-Universität, das so findet, aber
ich denke: Die bayerischen Herzöge, nach der
die Uni benannt ist, waren so feine Kerle nicht.
Ich schlage vor als neue Namensgeberin: eine
Frau der schönen Künste; Alma Mater heißt
schließlich nährende Mutter; und diese Mutter
nährt uns mit Bildung und Wissen. Marie-Luise
Scherer wäre eine Alma Mater, die es ernst meint.
Die legendäre Spiegel-Reporterin und Schrift-
stellerin sagte einmal: »Auf mein erwachsenes
Leben zurückblickend, so war es geprägt durch
die Furcht vor dem Schreiben, durch sein
Hinauszögern und das daraus erwachsende
Unglück der Arbeitsschulden.« Scherer schreibt
legendär langsam und raucht dabei viel. Das
sind die viel zu selten gepriesenen Tugenden der
Entschleunigung, der Bescheidenheit, der Unsi-
cherheit, der Unrast und der Suche nach der Per-
fektion – übersetzt in das akademische System
wären das wohl 40 Semester Literatur, Kunstge-
schichte und zwei Semester Physik.

Vorschlag: Emmy Noether
Kristina Reiss, Mathematikerin an der TU München
und deutsche Beauftragte für die Pisa-Studie

Schulen tragen ihren Namen, die Deutsche For-
schungsgemeinschaft erinnert mit einem Pro-
gramm für Nachwuchswissenschaftlerinnen an
sie, und für die Deutsche Mathematiker-Verei-
nigung ist sie »die bedeutendste Vertreterin« ih-
res Faches: Emmy Noether. 1882 in Erlangen
geboren, prägte sie die moderne Algebra und
war Wegbereiterin für Frauen in der Wissen-
schaft. Ob es der Zugang zum Abitur oder zur
Universität war oder die Möglichkeit der Habili-
tation – nichts davon war zu Beginn des 20.
Jahrhunderts für Frauen selbstverständlich.
Noethers erstes Gesuch zur Habilitation an der
Universität Göttingen scheiterte am Nein des
Ministeriums und rief die Göttinger Professo-
renschaft auf den Plan. Darüber empörte sich
der Mathematiker David Hilbert, der Noether
unterstützte: »Eine Fakultät ist doch keine Bade-
anstalt.« 1919 konnte sich Emmy Noether doch
habilitieren, wurde außerordentliche Professorin
und trug dazu bei, dass Göttingen das Mekka
der Mathematik jener Zeit blieb. Eine ordentli-
che Professur erhielt sie erst in den USA, wohin
die Jüdin 1933 emigrierte. Heute könnte sich
die Universität Göttingen als Emmy-Noether-
Universität nicht nur bei einer genialen Alumna
bedanken, sondern gleich bei einer ganzen Dis-
ziplin, die zum guten Ruf der Universität beige-
tragen hat.

Vorschlag: Hannah Arendt
Susanne Baer, Richterin des
Bundesverfassungsgerichts

Hannah Arendt hat Denken und Urteilen als
politische Praxis begriffen, als riskantes Handeln
ohne Geländer. Als Intellektuelle jüdischer Her-
kunft wurde sie aus Deutschland vertrieben und
beschrieb »totale Herrschaft« ebenso wie die zu-
tiefst erschreckende »Banalität des Bösen« scho-
nungslos. Eine Hochschule mit ihrem Namen
könnte verdeutlichen, wie weit die zutiefst poli-
tische Verantwortung der Wissenschaft reicht.
Arendt war skeptisch, was die Frauenbewegungen
betrifft, die sie kennenlernte, aber sie war genuin
feministisch in der möglichst vorurteilsfrei
gleichen Wahrnehmung von Menschen. Eine
Hannah-Arendt-Hochschule müsste eine ganz
neue Hochschule sein. Wir haben nicht zu viele,
sondern zu wenige Einrichtungen für die Wis-
sensgesellschaften der Zukunft! Es wäre eine
Hochschule mit einem Bachelor der vielen
Fächer als Studium generale und mehreren drei-
bis vierjährigen Masterstudiengängen für die
Spezialisierung. Kernaufgabe dieser Hochschule
müsste es sein, eine Orientierung im Wissen
und Denken zu vermitteln (ganz Arendt!), wozu
auch gehört, sehen, hören und wirklich lesen zu
lernen, Bewegung, Bilder und Biografien zu ver-
stehen und alle denkbaren Formen von Kom-
mu ni ka tion einzuüben.

Caroline von Humboldt:
Intellektuelle und Ehefrau
Wilhelm von Humboldts

Christiane Erxleben:
Erste promovierte
deutsche Ärztin

Emmy Noether:
Mathematikerin
und Professorin

Hildegard von Bingen:
Universalgelehrte und
Klostervorsteherin

Abb.: bpk (o.), Ullstein (2); SPL (2. v. u.)

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  1. APRIL 2020 · MÜNCHEN


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