Wenn Frida Nilsson eine Pause vom Schreiben braucht, lässt sie sich von ihren Hündinnen über den Acker zerren
Foto: Evelina Carborn für DIE ZEIT
Fridas fabelhafte Welt
Die schwedische Autorin Frida Nilsson hat mit »Sasja und das Reich jenseits des Meeres« das beste Kinderbuch des Jahres 2019
geschrieben – findet die Jury des LUCHS-Preises. Ein Besuch auf Mörkö, der dunklen Insel VON KATRIN HÖRNLEIN
W
er Frida Nilsson treffen will,
muss zwar keinen Ozean über-
queren wie der Held ihres Ro-
mans Sasja und das Reich jenseits
des Meeres. Es fühlt sich trotz-
dem an wie eine Reise ans Ende der Welt, wenn
man mit der schwedischen Autorin über die
immer schmaler werdende Straße zu ihrem gelben
Haus auf der Insel Mörkö rumpelt. Hier, gut
60 Kilometer südwestlich von Stockholm, hat
Frida Nilsson vor sechs Jahren eine neue Heimat
gefunden – und ihre Freiheit zurückerobert.
Ein kleiner Kalkberg, Wald, Wiesen und Felder,
der Sund nur ein paar Hundert Meter den Weg hi-
nab, dazwischen in die Landschaft gestreute Häuser,
zu wenige, um als Dorf durchzugehen: Viele würden
Nilssons Zuhause eine Einöde nennen, einen Ort,
an dem es nichts gibt. Für die Autorin aber ist dieses
Nichts alles: Freiraum, den sie mit ihren Geschichten
füllen kann. Freiraum, den sie braucht, damit über-
haupt Geschichten in ihrem Kopf entstehen.
Seit 20 Jahren schreibt Frida Nilsson für Kinder,
anfangs Theaterstücke und kleine Texte fürs Radio,
2004 dann erschien ihr Romandebüt über eine
Krähe und ein Mädchen, die per Anhalter nach
Norwegen reisen. Es folgten zehn Romane, in denen
das schräge Tierpersonal zu einem ihrer Marken-
zeichen wurde. Ganz selbstverständlich lässt Nilsson
Ratten, Gorillas und Hunde ebenbürtig mit ihren
Menschenfiguren zusammenleben – »einfach weil
es so lustig ist, von Tieren zu erzählen, die Hosen
tragen«, sagt Frida Nilsson.
Da schlüpft ein geschasster Bankangestellter, der
des Millionenraubs beschuldigt wird, bei einer Ratte
auf einer Müllhalde unter, und ein Waisenmädchen
wird von einer Gorilladame adoptiert, die einen
Schrottplatz betreibt. Auch die Autorin, deren Kopf
all diese Charaktere und Geschichten entsprungen
sind, scheint eine sehr lustige Person zu sein: wenn
sie nachspielt, wie sie jedes Jahr für ihre Kinder den
leicht hinkenden Weihnachtsmann gibt, oder wenn
sie, seltsame Laute von sich gebend, mit ihren Hun-
den umhertollt. Denn natürlich lebt Frida Nilsson
mit Tieren zusammen. Nia und Ida, die beiden
braun-weißen Basset-Hündinnen würden sich mit
ihren langen flauschigen Ohren, den hängenden
Augenlidern und den Zwergenbeinen perfekt in
einem Nilsson-Roman machen.
Sie seien die Einzigen, die sie bei der Arbeit nicht
stören, sagt die Autorin. In ein an der verknautscht
liegen sie im Körbchen, wenn Frauchen am Küchen-
tisch tippt. Sie dürfen mit ins Bett, wenn Nilsson
dort am Laptop arbeitet. »Und wenn ich eine Pause
brauche, gehe ich mit ihnen spazieren«, sagt Nilsson.
Das sei in der Stadt, wo sie viele Jahre unglücklich
lebte, nicht möglich gewesen. »Sobald ich mit den
Hunden auf der Straße war, wurde ich angequatscht:
›Oh, sind die niedlich!‹ – ›Was ist denn das für eine
ulkige Rasse?‹ – ›Darf ich die mal streicheln?‹« Wenn
die lebhafte Frau von Erlebnissen wie diesen erzählt,
spürt man, wie sehr sie selbst die Ruhe braucht.
Aufgewachsen ist die 41-Jährige auf dem Land,
in Hardemo, als Einzelkind, das die Nachmittage
allein in der Natur und mit Tieren verbrachte. Als
sie nach dem Abitur mehr als zehn Jahre lang in
Stockholm wohnte, sei sie einfach nicht sie selbst
gewesen. Da half es wenig, im Sommer in eine ein-
fache Hütte im Wald zu flüchten.
Auf Mörkö sei sie endlich wieder bei sich. Wäh-
rend sie am Küchentisch sitzt und erzählt, schaut sie
oft aus dem Fenster, hält inne, schweigt. Um dann,
nach einer Pause, den Gesprächsfaden wieder auf-
zunehmen. Die Welt sei so schnell, so laut, so for-
dernd; in den Städten seien
zu viele Menschen, zu viele
Bilder, Geräusche, Eindrü-
cke. »Ich mag es, in meinen
Büchern eine Welt zu bauen,
eine zeitlose Welt mit eige-
nen Gesetzen und Wesen«,
sagt Frida Nilsson.
Hier draußen, so scheint
es, versucht sie, sich ihre
eigene kleine Welt in der
großen zu erschaffen. Dass
die ihren beiden Söhnen,
neun und sechs Jahre alt,
manchmal zu klein, zu still,
zu einsam ist, weiß sie, sagt aber sofort: »So abge-
schieden ist es hier gar nicht. Dort, wo ich auf-
gewachsen bin, fuhr nur dienstags und donnerstags
ein Bus. Hier fährt viermal am Tag einer.«
Trotzdem ist das Landleben nicht nur unbe-
schwert. Die Bewohner der kleinen Siedlung auf
Mörkö haben in den vergangenen Jahren viel Zeit
damit verbracht, ihre Freiheit einzuzäunen. Auch
Fridas Haus ist von Maschendraht umspannt. Das
Auto schließt sie nicht ab, das Hoftor schon. »Siehst
du die aufgewühlte Erde überall?«, fragt sie und zeigt
im großen Bogen über die Felder, die aussehen, als
habe sich eine gigantische Maulwurfsippe hindurch-
gegraben. »Wildschweine«, erklärt Nilsson. »Ohne
Zäune würden sie bis an die Hauswände kommen.«
Mörkö heißt auf Deutsch »dunkle Insel«. Düster
und deprimierend war auch für Frida Nilsson die
erste Zeit hier. Ihr großer Sohn war drei Jahre alt, der
kleine vier Monate. Während ihr Mann jeden Tag
zur Arbeit in die Stadt fuhr, saß Nilsson, die sich so
aufs Leben in der Natur gefreut hatte, in dem alten
Haus, das sich noch gar nicht wie ein Zuhause an-
fühlte. Lange hatte das Gebäude leer gestanden, war
ausgekühlt. Als die Familie einheizte, erwachten
Aberhunderte Fliegen in den Holzdecken und sirrten
durch die Räume. »Mein großer Sohn hat geschrien
vor Angst, der kleine brüllte, sobald ich ihn nicht
mehr auf dem Arm hatte«, erinnert sich Nilsson.
Ständig habe sie den Älteren vertrösten müssen, eine
traumatische Erfahrung nennt sie es heute: »Es f ühlte
sich an, als würde ich mein Kind verlassen.«
Eine Mutter, die von ihrem Kind getrennt wird
- das machte sie zum Thema ihres Romans Sasja und
das Reich jenseits des Meeres, den die ZEIT und Radio
Bremen mit dem Jahres-LUCHS als bestes Kinder-
buch des Jahres 2019 auszeichnen. Nilsson schickt
darin einen Jungen ins Reich des Todes, aus dem er
seine Mutter zurückholen will. Auf seiner Reise stellt
sie ihm drei menschliche Tierkinderfreunde an die
Seite, mit denen er den tor-
tenfutternden, dandyhaften,
selbstverliebten Herrn Tod
überlisten wird.
Sasja und das Reich jenseits
des Meeres ist für Frida Nils-
son in vielerlei Hinsicht be-
sonders: Es ist mit knapp 500
Seiten nicht nur ihr umfang-
reichstes Buch, es ist auch das
erste, das in ihrem neuen Zu-
hause entstanden ist. Schrei-
bend hat sie ihr Trauma über-
wunden und zugleich den
Ort und die Erlebnisse in die
Geschichte gewoben. Ihr gelbes Haus, der Kalkberg,
der Bootssteg des Nachbarn, der kleine Strand und
die Insel, zu der man hinüberwaten kann, die See-
adler, die Schweine, ja sogar Frida Nilssons Hunde
und die Fliegen, die einst ihren Sohn so ängstigten:
Alles hat sie in diesem vielschichtigen Roman unter-
gebracht. Man kann ihn lesen als große Abenteuer-
reise, als Freundschaftsgeschichte, als eine Parabel
aufs Verlassen- und Gefundenwerden, als ein Mär-
chen über den Tod.
»Seitdem ich Mutter bin, sind meine Bücher
dunkler geworden«, sagt Frida Nilsson. Sie sorge sich
mehr und grüble viel: warum die Starken die Schwa-
chen unterdrücken; welchen Erwartungen Kinder
gerecht werden sollen; warum die Kindheit für Er-
wachsene so oft eine Zeit ist, die es möglichst schnell
zu überwinden gelte. »Andere Mütter treffen sich
zum Kaffee und teilen ihre Sorgen mit Freundinnen.
Das tue ich so gut wie nie«, sagt Nilsson. »Ich wälze
all das in meinem Kopf und schreibe darüber.«
In Sasja und das Reich jenseits des Meeres behaup-
ten sich die Kleinen gegen die Großen, und sie tun
etwas, was nur Kinder so leidenschaftlich können:
Sie spielen und spielen und spielen. Nilsson erinnert
sich genau, wie sie selbst als Mädchen im Spiel dieser
Welt entfliehen konnte. »Es war die beste Zeit mei-
nes Lebens«, sagt sie, »alles war so leicht. Ich war
stark, mutig und glücklich, glaubte, alles zu können,
und habe mir selbst genügt.« Natürlich wisse sie, dass
diese Zeit vorüber ist, doch sie stecke irgendwie in
ihrer Kindheit fest. Vielleicht sei das der Grund,
warum sie nie, wirklich niemals Bücher für Erwach-
sene machen wolle.
Frida Nilsson hat nach dem Gymnasium nicht
studiert. Sie wollte schreiben – und hat es getan.
Einfach so. »Anfangs war es die reine Freude«, erzählt
sie. »Ich habe Seite um Seite gefüllt, war begeistert
von mir selbst und dem, was ich da schuf: Schaut
alle her, ich schreibe ein Buch!« Elf Romane und
bald 20 Jahre später wirkt Frida Nilsson nicht mehr
gelöst, wenn sie von ihrer Arbeit erzählt. Inzwischen
kämpfe sie um jedes Wort. »Ich will, dass der Text
den genau richtigen Rhythmus hat, die Melodie
jedes Satzes stimmt. Manchmal sitze ich einen
ganzen Tag an vier Zeilen. Man muss aufpassen, dass
man nicht durchdreht!«
Ein großer Teil ihrer Arbeit ist unsichtbar. Nils-
son läuft nicht mit einem Notizbuch durch die Welt,
in das sie Ideen kritzelt. Sie skizziert keinen Hand-
lungsverlauf auf Poster, schreibt keine Charakter-
steckbriefe. Sie denkt und denkt und denkt, starrt
auf die zerwühlten Felder vor ihrem Haus, denkt
weiter. Und wenn die Geschichte in ihrem Kopf
gereift ist, beginnt sie zu tippen. Zweieinhalb Jahre
habe sie an Sasja gearbeitet. An ihrem neuen Roman,
der in Schweden im Herbst erscheinen soll, ebenso
lange, dabei habe der viel weniger Seiten.
Immer wieder wird Frida Nilsson mit Astrid
Lindgren verglichen. Ihr Werk wurde vielfach aus-
gezeichnet, und kürzlich hat der schwedische Staat
ihr ein Stipendium auf Lebenszeit bewilligt, mit dem
eine kleine Zahl an Künstlern gefördert wird. Doch
mit wachsendem Erfolg steigen für Frida Nilsson
auch der Druck, die Ansprüche an die eigene Arbeit
und die Selbstzweifel. Wenn es mit dem Schreiben
irgendwann nicht mehr klappen sollte, würde sie
eben als Landbriefträgerin arbeiten, sagt sie und
lacht. In einem Postauto übers Land juckeln und
Briefe und Pakete an entlegene Orte bringen; zu
Menschen, die der Einsamkeit so viel abgewinnen
können wie sie selbst. Den meisten erfolgreichen
Schriftstellern würde man bei solchen Sätzen Koket-
terie attestieren. Frida Nilsson glaubt man, dass sie
allein auf den schmalen Straßen glücklich wäre.
KINDER
- & JUGENDBUCH SPEZIAL^49
- MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12
Die LUCHS-Bücher
des Jahres 2019
Jeden Monat zeichnen die ZEIT und Radio Bremen
ein Buch mit dem LUCHS-Preis aus.
Aus den zwölf Titeln wird der Jahressieger gekürt.
Januar
Ein kleiner Roman über das
Großwerden und die ewige
Frage: Was ist gerecht?
Ingrid O. Volden: Unendlich
mal unendlich mal mehr
Thienemann; ab 11 Jahren
Juli
Ein unvergesslicher
Freibadsommer für eine
Familie, in der das Geld
immer knapp ist
Will Gmehling: Freibad
Peter Hammer; ab 10 Jahren
April
Die erste Liebe und die
Tücken der Sprachlosigkeit
- erzählt mit genau den
richtigen Worten
Tamara Bach: Wörter mit L
Carlsen; ab 11 Jahren
Oktober
Die Zerreißproben des
Erwachsenwerdens
erzählt als Graphic Novel
Mariko Tamaki/
Jillian Tamaki (Ill.): Skim
Reprodukt; ab 14 Jahren
Februar
Vom Abenteuer des
Verschwindens und vom
Glück, gefunden zu werden
Marian De Smet:
Hendrik zieht nicht um
Gerstenberg; ab 6 Jahren
August
Drei Romane erzählen von
starken Jugend lichen
zwischen Gewalt und
Gang-Rivalitäten
Alex Wheatle:
Crongton-Trilogie
Kunstmann; ab 14 Jahren
Mai
Leuchtende Bilder, schräger
Humor: Ein Buch übers
Abschiednehmen,
Weiterleben und Erinnern
Werner Holzwarth/Mehrdad
Zaeri (Ill.): Mein Jimmy
Tu l i p a n ; ab 5 Jahren
November
Aufklärung im besten
Sinne: Ein verblüffendes
Sachbuch über die
Menstruation
Lucia Zamolo:
Rot ist doch schön
Bohem; ab 10 Jahren
März
Leidenschaftlich sachlich
und aufreizend lapidar:
60 Infografiken zu Europa
Susan Schädlich/
Gesine Grotrian (Ill.):
Fragen an Europa
Beltz & Gelberg; ab 12 Jahren
September
Ein fantastisches und
unglaublich heiteres
Abenteuer im Reich des
Todes. Ein Meisterstück!
Frida Nilsson: Sasja und das
Reich jenseits des Meeres
Gerstenberg; ab 11 Jahren
Juni
Die Highschool-Queen,
der nerdige Außenseiter
und sieben Trennungen
Don Zolidis: Dies ist
keine Liebesgeschichte
Dressler; ab 14 Jahren
Dezember
Rhythmus ja, Reimzwang
nein: Kinderlyrik ohne
altbackenen Muff
Arne Rautenberg/Katrin
Stangl (Ill.): Vier Kerzen, drei
Könige, zwei Augen, ein Stern
Peter Hammer; ab 5 Jahren
Ehre ohne Feier
Frida Nilsson und ihre Übersetzerin
Friederike Buchinger sollten am
vergangenen Mittwoch in Leipzig
mit dem Jahres-LUCHS geehrt
werden. Nachdem die Buchmesse
wegen des Coronavirus abgesagt
worden war, haben wir entschieden,
auch die feierliche Verleihung aufs
nächste Jahr zu verschieben. DZ