portunismus, dort Automaten im Dienst einer
Wissenschaft, die den Menschen angeblich befrei
en will. Wollen Sie all das als politischen Kommen
tar verstanden wissen?
Dabos: Ich habe überhaupt keine Affinität zur
Politik, sehe mir nicht mal die Nachrichten an. Ich
lebe in einer Art Gegenwelt und bekomme aktuelle
Ereignisse eher beiläufig mit: durch meinen Le
bensgefährten, der mir erzählt, was in der Welt los
ist, durch Leute, die ich auf der Straße sehe. Ich
interessiere mich auch sehr für Geschichte, viel
leicht weil man historische Ereignisse durch die
größere Distanz besser begreifen kann als den All
tag. All das ist wohl unbewusst in die Spiegelreisende
eingeflossen.
ZEIT: Gibt es für Ihre Heldin Ophelia ein leben
des Vorbild? Ähnelt sie Ihnen vielleicht selbst?
Dabos: Ich glaube, Ophelia ist mein Spiegelbild –
in seitenverkehrt. Sie ist klein und fragil, jedoch
nicht empfindlich. Ich dagegen bin eine Bohnen
stange und lasse mich schnell verunsichern. Aber
eine Sache haben Ophelia und ich gemeinsam:
Wir sind beide kurzsichtig und tollpatschig.
ZEIT: Die Menschen der Archen haben unter
schiedliche Gaben und Fähigkeiten: Ophelia kann
durch Spiegel gehen und die Geschichte von
Gegenständen lesen, ihr Verlobter Thorn hat ein
phänomenales Gedächtnis und schlägt mit unsicht
baren Krallen schreckliche
Wunden. Welche Gabe ist
Ihnen von allen die liebste?
Dabos: Am ehesten finde
ich mich in den Fähigkeiten
der Miragen wieder: Sie
schaffen Trugbilder, ähnlich
wie ich es beim Schreiben
tue. Mich fasziniert die Illu
sion, die Frage, worin sich
das Falsche vom Wahren
unterscheidet. Die Illusion
ist etwas Vergängliches – ein
beunruhigender Gedanke.
Wenn sie nicht mehr da ist,
was bleibt dann? Wenn ich
nicht mehr schreibe, wer
bin ich dann? Deshalb ist sie
auch die Fähigkeit, die mir
am meisten Angst macht.
ZEIT: Ophelia hat einen
treuen Begleiter, einen be
seelten Schal, der mal schüt
zend, mal erzürnt um ihren
Hals liegt. Haben Sie auch
einen Gegenstand, der Sie
überallhin begleitet?
Dabos: Es ist paradox, aber
ich mache mir absolut nichts
aus Dingen. Ein Gegenstand
und seine Geschichte kann
mich bezaubern – seine
Form, sein Material, seine
Farben –, trotzdem verspüre ich nicht den Wunsch,
ihn in meiner Nähe zu haben.
ZEIT: Mit dem vierten Band der Spiegelreisenden
endet Ophelias Reise. In Deutschland müssen wir
noch bis Mai darauf warten, aber können Sie uns
schon etwas über Im Sturm der Echos erzählen?
Wird der Schal das Ende erleben?
Dabos: Ich schweige wie ein Grab, wenn es um
mein Schreiben geht. Mir gefällt es, wenn die
Geschichte sich von selbst erzählt, in ihren eigenen
Worten, ohne dass ich zwischen Lesern und Buch
vermitteln muss. Aber ja, der Schal wird da sein.
ZEIT: Und wie geht es danach weiter? Es gibt noch
viele Archen, auf denen man Abenteuer erleben
kann. Planen Sie, die Saga weiterzuschreiben, in
welcher Form auch immer?
Dabos: Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, die
Spiegelreisende zu schreiben. Ich habe so viel ge
lernt! Aber für die Chris telle von heute ist dieses
Kapitel abgeschlossen. Es stimmt, das Universum
der Spiegelreisenden ist riesig, und ich lasse viele
Schattenbereiche zurück. Wenn es den Lesern
Spaß macht, meine Fantasiewelt mit ihrer zu
verbinden und an Orte zu reisen, an denen ich
nicht war, wünsche ich ihnen viel Vergnügen!
Die Fragen stellte Katrin Hörnlein.
Aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke
- MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12 KINDER & JUGENDBUCH 51
DIE ZEIT: Frau Dabos, Ihre Saga Die Spiegelreisende
erzählt von einer zerfallenden Welt, intriganten
Familienclans und einem zerstörerischen Gott,
dem Sie eine tollpatschige, zierliche Heldin entge
genstellen: Ophelia. Wann kam Ihnen die Idee zu
dieser Geschichte?
Christelle Dabos: Die ist sozusagen vom Himmel
gefallen. Im Sommer 2007 versuchte ich einen
Roman zu schreiben und kam einfach nicht weiter.
Je mehr ich mich anstrengte, desto mehr ver
krampfte ich mich. Eines Morgens ging ich in ei
nem Wäldchen spazieren. Es war schönes Wetter,
ich fühlte mich wohl, und da tauchte Ophelia auf.
Ich sah, wie ein Gesicht aus einem Spie
gel herauskam. Ich sah
einen sehr langen
Schal, Gegenstän
de, die sich bewegten,
eine Welt, die in Stücke
zersprungen war. Inner
halb weniger Stunden waren
das Universum und die Men
schen der Spiegelreisenden da. Ich
warf meinen angefangenen Roman in die
Ecke und stürzte mich Hals über Kopf in diese
neue Geschichte.
ZEIT: Sie haben also schon zuvor geschrieben?
Dabos: Als ich noch studierte, legte ich in einem
neuen Taschenkalender zum Spaß eine fiktive
Bibliografie an, darauf standen lauter komische
Romantitel, alle Bücher angeblich von mir ver
fasst. Eine Freundin entdeckte diese Liste, fand
sie lustig und gab mir ein Blatt, auf dem nur ein
Titel und die Worte »Schreib die Fortsetzung!«
standen. Das habe ich getan, zunächst, um meine
Freundin zum Schmunzeln zu bringen. Aber
dann ist etwas passiert, was ich noch nie erlebt
hatte: Das Schreiben war wie ein Schauder. Eine
Art Trance. Beinahe eine Notwendigkeit. Seitdem
habe ich nicht mehr damit aufgehört.
ZEIT: Das Universum der Spiegelreisenden ist rie
sig: Es gibt 21 größere Archen, jede ist eine eigene
kleine Welt, mit eigenen Bewohnern und Geset
zen. Wie finden Sie sich darin zurecht? Hängt an
Ihrer Wand eine gigantische Übersichtskarte?
Dabos: Ich habe eigentlich ein schlechtes Gedächt
nis – ich könnte Ihnen nicht sagen, was ich gestern
gegessen habe. Erstaunlicherweise ist es beim
Schreiben anders: Ich weiß genau, in welchem
Band ein bestimmter Satz steht. Es scheint, als
hätten sich dafür alle meine Neuronen in einer
Region meines Gehirns versammelt. Deshalb gibt
es an meinen Wänden keine großen Poster mit
Orten, Figuren und anderen Details. Aber für den
Fall, dass meine Schusseligkeit die Oberhand ge
winnt, habe ich für mich Notizen gemacht.
ZEIT: Welche Art von Literatur haben Sie in Ihrer
Kindheit und Jugend besonders gern gelesen?
Dabos: Ich habe Comics verschlungen: Tim und
Struppi, Asterix, Yoko Tsuno, Gaston, Pierre Tombal.
Meine Eltern hatten für meinen Bruder, meine
Schwester und mich französische Li te ra tur maga
zi ne für Jugendliche abonniert, J’aime Lire, Astrapi,
Je Bou quine, aber ich stürzte mich immer auf die
Comics in der Mitte. Ich las alles, solange es
Bilder hatte!
ZEIT: Und wieso schreiben Sie dann nun selbst
solche dicken Wälzer? Die Bände haben mehr als
500 Seiten!
Dabos: Meine ersten Texte waren nur drei oder
vier Seiten lang, sie entstanden an einem Tag.
Irgendwann habe ich die Harry Potter-Bücher gele
sen und mich an der Fanfiction versucht – und das
hat mir die Hemmungen genommen. Das Resul
tat war unbeholfen und klischeehaft, aber ein
Riesenspaß! Ein Damm war gebrochen.
ZEIT: Im Internet geben Sie Ratschläge zum
Schreiben. Einen davon könnte man so zusam
menfassen: »Kenn den Anfang und das Ende!«
Halten Sie sich selbst daran?
Dabos: Ich wäre meinen Ratschlägen gern gefolgt.
Aber wie die Spiegelreisende enden würde, wusste
ich erst, als ich mich an den letzten Band machte.
Sagen wir es so: Ich weiß zwar, »wer« etwas »warum«
tut, aber nicht, »wo«, »wann« und »wie«. Die
Geschichte enthüllt sich auch mir erst beim
Schreiben.
ZEIT: Ihre Archen sind extrem unterschiedlich:
hier ein königlicher Hof voller Intrigen und Op
»Mich fasziniert
die Illusion«
Eine zersplitterte Welt, ein tobender Gott und Menschen mit übersinnlichen Kräften:
Die vierteilige Saga »Die Spiegelreisende« spielt in einem schillernden FantasyKosmos
- und ist ein Debüt! Fragen an die französische Schriftstellerin Christelle Dabos
Bevor Christelle
Dabos, geboren 1980
an der Côte d’Azur,
das Schreiben zum
Beruf machte,
arbeitete sie in Belgien
als Bibliothekarin.
Nebenbei veröffent
lichte sie Teile ihres
späteren Debüts
»Die Spiegelreisende
- Die Verlobten des
Winters« im Internet
und hatte dort schnell
viele Fans. Die Tetra
logie wurde in Frank
reich zum Bestseller
und ist inzwischen in
16 Sprachen über
setzt. Auf Deutsch er
scheint der vierte und
letzte Band im Mai
Schwindelgefahr: Die Himmelsburg
auf der eisigen Arche Pol
Illustration: Gallimard Jeunesse; kl. Foto: Catherine Hélene/Édition Gallimard
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Helsin ist klein und immer gut gelaunt. Sie
hat nur ein winziges Problem: Manchmal,
wenn ihr etwas nicht passt, bekommt sie
einen Wutausbruch, einen »Spinner«. Wie
an dem Tag, als Louis neu in die Klasse
kommt und dieses »Helsin, Apelsin,
Apfelsine« murmelt. Da klaut Helsin
einfach seinen Fidschileguan, was für sie
zu einem dicken Problem wird. Wie soll sie
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