Die Zeit - 12.03.2020

(backadmin) #1
Regisseur
Woody Allen, 84

Unter Dauerverdacht


Die Memoiren von Woody Allen sollen nicht erscheinen, fordern prominente Schriftsteller. Der Regisseur habe


seine Adoptivtochter missbraucht. Ist der Vorwurf berechtigt? VON MARTIN EIMERMACHER UND ADAM SOBOCZYNSKI


In diesen Tagen, da selbst Donald Trump merkt,
dass ihm im Coronavirus ein Gegner erwachsen
ist, den er nicht weglügen kann, setzen die Behör-
den weltweit darauf, die Ausbreitung der Seuche
wenigstens zu drosseln. Für alle Bereiche des
Schaugeschäfts bedeutet das: Menschenansamm-
lungen »mit risikogeneigter Zusammensetzung«
(so die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen)
zu vermeiden. In NRW werden die Behörden seit
dem 10. März »Veranstaltungen mit mehr als 1000
zu erwartenden Besucherinnen und Besuchern
grundsätzlich absagen«. Das bedeutet beispiels-
weise, dass das blühende Kölner Literaturfestival
lit.cologne, welches mit 100.000 Besuchern rech-
nete, wenige Stunden vor Eröffnung abgesagt wur-
de. Von zu schließenden Theatern ist in NRW bis
zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe – später
Dienstagabend, 10. März – keine Rede gewesen,
wohl aber andernorts.
In Berlin hat Kultursenator Klaus Lederer ent-
schieden, dass »in den staatlichen Theatern, Opern
und Konzerthäusern die geplanten Veranstaltungen
in den Großen Sälen (...) vorerst bis zum Ende der
Osterferien, also bis zum 19. April 2020, nicht mehr
stattfinden«. Er empfiehlt auch den großen Privat-
theatern, so zu verfahren. Aus Wien erreicht uns die
Nachricht, dass das größte Theater Europas, das
Burgtheater, bis mindestens 31. März nicht mehr
spielt – ebenso wie die Staatsoper und andere große
Bühnen. In Bayern werden das Münchner Residenz-
theater und die Bayerische Staatsoper bis 19. April
nicht öffnen. Dasselbe gilt fürs Staatstheater Nürn-
berg. Der Bühnenbetrieb in anderen Bundesländern
ging, zumindest bis zum Abend des 10. März, laut
Auskunft des Deutschen Bühnenvereins seinen ge-
wohnten Gang; dies könne sich aber täglich ändern.
Die Bayerische Staatsoper teilt mit, sie werde in
den nächsten Tagen versuchen, »einzelne Vorstellun-
gen als Live-Stream oder als Video-on-Demand zur
Verfügung zu stellen«, und möglicherweise wird
diese Strategie richtungsweisend sein: Der Applaus
könnte sich von der Darbietung scheiden; die Büh-
nenkünstler würden ihr Publikum dann für längere
Zeit nicht mehr sehen und hören – jedenfalls nicht
in »risikogeneigter Zusammensetzung«.
Im Fußball ist diese bittere Erkenntnis schon
angekommen: Viele große Spiele werden in nächster
Zeit sogenannte Geisterspiele sein – man wird sie
ohne Publikum austragen, sodass man die Stimmen
der berühmten Spieler, wie beim Dorfkick, im Sta-
dion hören wird. Die Fußballgeldmaschine wird
weiter auf Hochtouren laufen, wenn auch Beckett-
artig, als luxuriöses Endspiel, im Leeren.
Im Theater wird das vermutlich anders sein:
Wie lang können sich Bühnen halten, die auf be-
zahlende Zuschauer angewiesen sind? Die Per-
spektiven sind düster, und das einzig irgendwie
Erheiternde ist die Theatervision, dass selbst Do-
nald Trump künftige Wahlkampfauftritte even-
tuell in leeren Hallen abhalten und streamen wird;
mit Beifall, der vom Tonband zugespielt werden
muss. PETER KÜMMEL

A http://www.zeit.deeaudio

Der Berliner Rapper Patrick Losensky alias Fler
zählt schon lange zu den Avantgardisten seiner
Zunft. Mit seinem Album Neue deutsche Welle aus
dem Jahr 2005 machte er das Genre Straßenrap
auch für patriotisch veranlagte deutsche Hörer in-
teressant, die sich bis dahin an den dominanten mi-
grantischen Einflüssen gestört hatten; er bedrohte,
darin großen US-amerikanischen Vorbildern gleich,
nicht nur andere Rapper, sondern auch Journalis-
ten, deren Schaffen ihm unbotmäßig erschien, und
gilt als ein Wegbereiter für sogenannte Trap Musik
in Deutschland – eine Hip-Hop-Spielart, die ur-
sprünglich aus dem Süden der USA stammt. In den
letzten Wochen verschaffte Fler zudem einer Kam-
pagne namens #un hate women große Aufmerksam-
keit, die sich gegen Sexismus im Hip-Hop wendet


  • indem er einer der Unterstützerinnen auf In sta-
    gram das Angebot unterbreitete: »Ich kann ja mal
    Täter werden, wenn du mir weiter auf die Eier
    gehst.« Ergänzend setzte er ein Kopfgeld auf sie aus.
    Seither wird so ernsthaft und anhaltend über die
    Misogynie im deutschen Rap diskutiert wie noch
    nie. Fler hat der Eman zi pa tion im Pop also zu ei-
    nem Erfolg verholfen. Und könnte auch als Künst-
    ler davon profitieren: Weil er ein Fernsehteam atta-
    ckierte, das ihn wegen seiner Äußerungen zu befra-
    gen versuchte, wurde Patrick Losensky am Dienstag
    verhaftet und könnte sich in Zukunft wohl länger
    dort befinden, wo in den letzten Jahrzehnten ver-
    lässlich einige der besten Hip-Hop-Alben entstan-
    den – im Knast. JENS BALZER


A


m 7. April soll im Rowohlt Verlag
die Autobiografie des Regisseurs
Woody Allen mit dem schönen,
etwas koketten Titel Ganz neben-
bei erscheinen. Noch vor wenigen
Jahren wäre es kaum denkbar ge-
wesen, dass irgendjemand darüber
debattiert, ob ein solches Buch erscheinen dürfe;
dieses Mal jedoch wird von Schriftstellerinnen und
Schriftstellern des Rowohlt Verlags wie Sascha Lobo,
Kathrin Passig, Margarete Stokowski, Giulia Becker,
Kirsten Fuchs und Till Rae ther in einem offenen
Brief gefordert, die Pu bli ka tion bei Rowohlt zu un-
terbinden. Sie beklagen unter anderem, dass der Ver-
lag »einen Mangel an Interesse für die Belange der
Opfer sexueller Übergriffe« zeige. Zuvor hatte Allens
amerikanischer Verlag Hachette das Buch, das in den
USA zeitgleich erscheinen sollte, zurückgezogen. Seit
den frühen Neunzigerjahren gibt es Vorwürfe gegen
Woody Allen, er habe seine Adoptivtochter Dylan,
damals sieben Jahre alt, sexuell missbraucht.
Es waren vor allem jüngere Mitarbeiterinnen, die
bei Hachette vorige Woche gegen das Buch protes-
tierten. Ebenso empört war aber auch Ronan Farrow,
der vielleicht Allens Sohn ist, vielleicht aber auch
nicht (Allens ehemalige Lebensgefährtin, die Schau-
spielerin Mia Farrow, deutete einmal an, der leibliche
Vater könne ihr Ex-Mann Frank Sinatra sein). Nun
ist der 32-jährige Ronan Farrow nicht nur ein be-
rühmter Anwalt, Journalist und Aktivist. Er hat
durch seine Recherchen auch einen maßgeblichen
Anteil an der Weinstein-Enthüllung, und gleich
mehrmals hat er in den vergangenen Jahren geäußert,
dass seine Schwester Dylan durch Woody Allen miss-
braucht worden sei. Auch das erklärt wohl die Wucht,
mit der nun die alten Vorwürfe aktualisiert werden,
obwohl in der Sache seit den Neunzigerjahren nichts
Neues herausgekommen ist.
Seit einigen Jahren erst wenden sich zahlreiche
Schauspieler von Woody Allen ab, der die Vorwürfe
von Beginn an bestritten hat. Seine letzten Filme, die
er in schöner Regelmäßigkeit herausbringt, finden in
den USA keinen Verleih mehr. Jahrelang lieferte sich
Allen einen Rechtsstreit mit Amazon, wo man einen
Vertrag mit ihm über vier Filme mit Verweis auf die
Missbrauchsvorwürfe aufgelöst hatte. Und nun steht
auch hierzulande erstmals die Frage im Raum, ob
man aus moralischen Gründen eines seiner Werke in
einem großen Verlag wie Rowohlt noch veröffentli-
chen dürfe (genau wie die ZEIT gehört Rowohlt zur

Verlagsgruppe Georg von Holtz brinck; Florian Illies,
Rowohlt-Verleger, ist Mitglied im Herausgeberrat
der ZEIT).
Was kann man, was sollte man über die Vorwürfe
gegen Woody Allen wissen? Der Missbrauch, der ihm
zur Last gelegt wird, soll sich am 4. August 1992
ereignet haben. Obwohl damals die Beziehung von
Allen und Mia Farrow bereits Monate zuvor in hefti-
gem Streit aus ein an der ge gan gen war, besuchte Allen
weiterhin, wenn auch unregelmäßig, die gemeinsa-
men Kinder (neben Ronan und Dylan den gemein-
samen Adoptivsohn Moses). Als sich Allen an jenem
Augusttag in Farrows Landhaus in Connecticut auf-
hielt, schaute er im Wohnzimmer mit ihnen den Film
Falsches Spiel mit Roger Rabbit; währenddessen ging
seine Ex-Partnerin Farrow mit ihrer Freundin Casey
zum Shoppen, derweil blieben Caseys drei Kinder
genau wie zwei Nannys und eine Französischlehrerin

der Farrows bei Allen. Am nächsten Tag, so gibt Far-
row an, habe Dylan ihr anvertraut, dass Woody Allen
sie auf den Dachboden gelockt und zwischen ihre
Beine gefasst habe, während er ihr versprochen habe,
sie mit nach Paris nehmen und zum Star in seinen
Filmen machen zu wollen. Außerdem habe er, darauf
drängend, dass es ihr gemeinsames Geheimnis blei-
ben müsse, einen Finger in ihre Vagina eingeführt.
Schnell wurden Farrows Vorwürfe bekannt. Und
rasch wurde daraus eine Skandalgeschichte von inter-
nationalen Ausmaßen. Die Aus ein an der set zung zwi-
schen Woody Allen und Mia Farrow, in der viele
Wahrheiten mit ein an der rangen, von denen aber nur
eine stimmen kann, beherrschte nun Titelseiten,
Nachrichtensendungen, Pressekonferenzen.
Farrow machte bekannt: Allen war bereits vor dem
vermeintlichen Übergriff in psychologischer Behand-
lung, weil er, so die Worte seiner Therapeutin, gegen-
über der Adoptivtochter Dylan »unangemessenes Ver-
halten« gezeigt habe. Und auch folgende Anekdote

gehört zu jenem bis heute verbreiteten Bild, in dem
Allens angeblicher Übergriff so ausgemalt wurde, als
folge er einem Muster: Anfang 1992, ein halbes Jahr
vor dem angeblichen Missbrauch auf dem Dach-
boden, war Farrow in Allens New Yorker Apartment
zufällig auf Nacktfotos ihrer Tochter Soon-Yi gesto-
ßen, versteckt unter einer Taschentuchpackung.
Soon-Yi war zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt; Farrow
hatte sie 1978 zusammen mit ihrem damaligen Ehe-
mann, dem Pianisten André Previn, adoptiert.
Allen räumte ein, die Nacktfotos angefertigt zu
haben, und gestand, bereits seit einigen Wochen
eine Affäre mit Soon-Yi zu unterhalten. Damit war
die Beziehung zwischen Allen und Farrow implo-
diert, die während ihres Bestehens schon deshalb als
unkonventionell galt, weil Allen, so erzählte es auch
Farrow, in den zwölf gemeinsamen Jahren so gut
wie nie bei der Familie übernachtet hatte. Meist
kam er erst morgens in Farrows Wohnung, brühte
Kaffee auf und las am Frühstückstisch die Washing-
ton Post. Wenn Farrow im Sommer mit den Kindern
in ihr Landhaus fuhr, blieb Allen in der Regel mona-
telang allein in der Stadt zurück.
1997 heirateten Allen und Soon-Yi, später adop-
tierten sie zwei Kinder. Ein 56-Jähriger, der anfängt,
mit der Adoptivtochter seiner Lebensgefährtin zu
schlafen? Kein Wunder, könnte man meinen, dass
Allen vielen mindestens als creep galt und gilt, als
Widerling, dem man auch den Missbrauch seiner
kleinen Tochter zutrauen würde. Ein Artikel der
New York Times reihte Allen gar als »Monster« neben
Sexualstraftätern wie Harvey Weinstein oder Roman
Polanski ein. Allerdings: Anders als man bis heute
regelmäßig in Zeitungsartikeln und den sozialen
Medien lesen kann, ist Soon-Yi eben weder Allens
Stieftochter noch seine Adoptivtochter – und die
beiden lernten sich überhaupt erst richtig kennen,
als Soon-Yi bereits 20 war, so hat es auch Farrow be-
zeugt. Auch wenn man die Beziehung anstößig fin-
den sollte, sei es wegen des Altersunterschieds oder
wegen Allens Rolle als ehemaliger Lebensgefährte
der Adoptivmutter Soon-Yis: Als Indiz für seine
Schuld taugt sie kaum.
Mittlerweile spricht auch Moses Farrow über je-
nen Tag, an dem seine Schwester missbraucht wor-
den sein soll. Als »Mann des Hauses«, bereits 14 Jah-
re alt, habe ihm seine Mutter, genau wie dem Perso-
nal, damals aufgetragen, Allen im Blick zu behalten.

Beginnt nun das


Geistertheater?


»Ich kann ja mal


Täter werden«


Erste große Bühnen in Deutschland
und Österreich schließen

Der Musiker Fler greift ein
TV-Team an und wird verhaftet

Fortsetzung auf S. 54

53


In der »New York


Times« wurde


Woody Allen schon als


»Monster« bezeichnet


Foto: Arnaud Journois/Maxppp/dpa

FEUILLETON



  1. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12

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