Die Zeit - 12.03.2020

(backadmin) #1

  1. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12


JA ZZ

Jazz it yourself


Kleidung entwerfen, Labels betreiben, Festivals gründen – warum viele exzellente Musiker


inzwischen alles selber machen und wie sie damit klarkommen VON ULRICH STOCK


D


ie Posaune im Glissando, das
groovende Piano und dann
der warm schwingende Kon-
trabass. Achtung, Trommel-
wirbel: Trompetensolo! Die
fünf Musiker, die in diesem
Text auftreten, haben nie zu-
sammen auf der Bühne gestanden, obwohl sie es
könnten. Sie müssten sich nur irgendwo treffen.
Ohne große Vorbereitung ginge es los, da sie alle-
samt geübte Improvisatoren sind. Es sind Nils
Wogram und Nik Bärtsch, beide aus Zürich, Lukas
Kranzelbinder aus Wien, Chris tian Lillinger aus
Berlin. Sie bildeten eine alpenländisch-deutsche
All-Star-Band und nähmen ein Nachwuchstalent
in ihre Mitte, den Hamburger Philipp Püschel.
Aber hier, an dieser Stelle, spielen sie nicht.
Denn der Jazz, der gerade überall in Europa und
Amerika neu erblüht, will nicht immer nur ge-
spielt sein, er muss auch mal hinterfragt werden.
Da drängt sich als Thema ein Phänomen auf, das
seit einiger Zeit kaum zu übersehen ist: Mehr und
mehr exzellente Musiker machen alles selber – jazz
it yourself.
Sie buchen ihre Termine selber, sie führen ei-
gene Labels, sie vereinen sich zu Kollektiven, grün-
den Festivals. Dem Klischee erfolgreicher Künstler,
denen alles abgenommen wird, damit sie sich zur
Freude des Publikums ganz ihrer Kunst widmen
können, entsprechen sie so gar nicht.
Eher sind diese Musiker fünfhändige Alleskön-
ner, die neben dem Drücken von Tasten und Ven-
tilen You Tube- Videos drehen, Fotosessions orga-
nisieren, Plattencover oder sogar Bühnenbilder
entwerfen, Spotify, Face book, Sound Cloud und
Bandcamp beliefern, Transportfragen lösen, Cock-
tailrezepte testen und zudem vielleicht noch an
einer Hochschule unterrichten. Warum machen
sie das? Wie schaffen sie das? Und hält ihre Musik
dieser Rundumbeanspruchung stand?
»Do it yourself – das klingt nach Großroman-
tik, vom Tellerwäscher zum Millionär«, sagt der
Berliner Schlagzeuger Chris tian Lillinger und
kann sich ein Lachen nicht verkneifen. »Das ist
nicht der Fall. Hier geht es eher um Visionen. Des-
to mehr Musiker es gibt, desto schwerer ist es für
den einzelnen, überhaupt rauszukommen. Und
ich lass mir doch nicht diktieren von einem Label-
chef X, wer gut ist und wer nicht gut ist. Oder wer
Potenzial hat, die Festivals zu bespielen oder nicht.
Das sehe ich überhaupt nicht ein.«
Und damit sind wir schon mittendrin: Lillin-
ger, 35, als Schlagzeuger so virtuos wie rebellisch,
entwickelt in seinen verschiedenen Projekten eine
Musik, die im Grenzbereich zwischen Jazz und
Neuer Musik weltweit zum Innovativsten zählt.
Damit möchte er sich eine Hörerschaft erschlie-
ßen, die von ihrem Glück noch nichts weiß. Eine
erste Hürde hat er genommen: selber über das zu
entscheiden, was von ihm auf den Markt kommt.
Welche Platten er in welchem Abstand veröffent-
licht und wie die beschaffen sind. Zu diesem
Zweck hat er Plaist gegründet, sein eigenes Label.
Kein Plattenboss bremst ihn jetzt mehr aus. Weder
wird er proactiv gezwungen, Coverversionen auf-
zunehmen, noch kann ein Produzent Hall in seine
Stücke blasen, um sie weicher zu machen. Er ist
sein eigener Herr.

S


eine Platten erscheinen in verschiede-
nen Formaten, digital, als CD und –
sehr edel – limitiert auf Vinyl. Open
Form For Society zum Beispiel, ein hap-
tisches Doppel-LP-Werk in rauer Pappe
mit Prägedruck, lehmige Farbigkeit. Da wird die
Musik schon vor dem Hören zum Ereignis. 300
Exemplare, handnummeriert, und wenn die weg
sind, kommt eine unlimitierte Auflage. »Das ist
dann nicht mehr das Original«, sagt Lillinger. Ein
Galerieansatz gewissermaßen.
Die grafische Gestaltung macht er mit seiner
Frau, einer angehenden Ärztin. In die Rillen ein-
geschrieben sind seine Kompositionen – oder soll-
te man sagen: Verfahrensweisen –, die alles Fest-
gelegte aufbrechen, ohne dass es formlos würde. Es
ist eine fantastisch ungewöhnliche Musik, kantig,
verblüffend, energetisch, passend zur irren Zeit, in
der wir leben, unerhört im besten Sinne.
Das sagt die Kritik. Das Publikum, bei bislang
nur zwei Auftritten vergangenen Herbst, auf dem
Jazzfest Berlin und den Donaueschinger Musikta-
gen, reagiert begeistert. Das Frage ist jetzt: Wie be-
kommt er weitere Auftritte für ein immerhin
neunköpfiges Ensemble? Und wie bekommt er die
Platte unter die Leute?
Große Labels verfügen über Marketingabteilun-
gen, die es verstehen, in einem rückläufigen Markt
noch einen gewissen Absatz sicherzustellen. Lillinger
muss die Kommunikation selber in den Blick neh-
men. Seine potenzielle Kundschaft zu erreichen ist
wesentlich schwerer, als eine noch so interessante
Platte aufzunehmen. Werbung kostet Geld, und sei
es nur, ein neues Werk an Hunderte Multiplikatoren
in Presse, Funk und Fernsehen verschicken zu lassen.
Das Echo ist eher dürftig, weil die Musik eher schwie-
rig und das Angebot so groß.
Kein Lamento. Was musste ein Neuerer wie der
Saxofonist Or nette Cole man über sich hören in
den 1960er-Jahren! Sein Ensemblespiel sei schlam-
pig, der Klang ein Quaken und Quietschen, das
Ganze ein chaotischer, unzusammenhängender
Anti-Swing. Später wurde er gefeiert, nach seinem
Tod vergöttert.
Jazz ist komplex und braucht Zeit, die heute
noch knapper ist als ehedem. Der Hamburger

Redaktion der Fachzeitschrift Jazz thing wählte das
dritte Album Gris Gris im Januar 2020 zur »Lieb-
lingsmusik« des zurückliegenden Jahres. Auf dem
Januar-Titelbild des Magazins Jazzthetik steht ver-
sonnen der Bandleader Lukas Kranzelbinder und
hält einen unsichtbaren Kontrabass, der den Blick
auf sein schwarz-golden gestreiftes Hemd freigibt.
Die Farbkombination ist von Anbeginn an das
Markenzeichen der Band. Sieben Musiker treten
schwarz-golden gekleidet vor den schwarz-golde-
nen Bühnenhintergrund, den sie selber mitbrin-
gen. Sie lassen goldenes Licht aufleuchten; sie ver-
schießen bei Gelegenheit goldenes Lametta. Ist es
das Schwarz Afrikas, sind es unsere goldenen Mo-
mente? Die Musik ist erdig, strahlend, besinnungs-
los-rhythmisch, und die endlosen Stücke mäan-
dern zwischen gekonnter Improvisation und er-
gebe ner Trance. Wien ist die Hauptstadt von Ma-
rokko, Österreichs Almen laufen aus in der Sahara.
Wenn das Venue, in dem sie spielen, eine schö-
ne Bar hat, lässt Kranzelbinder, 32, nach eigenem
Rezept Cocktails mixen, die beim Auftritt ge-
schlürft werden können. Das Publikum von Shake
Stew: Es wird geschüttelt und gerührt.
»Der wichtigste Faktor beim Musikmachen ist
das Konzerterlebnis«, sagt Kranzelbinder. Alle sei-
ne Ge stal tungs ideen dienen der Intensivierung
dieses Erlebnisses. Die Band umgibt sich mit einer
visuellen Sphäre, die jeden Raum durchdringt –
ob sie nun beim Hamburger JazzLab spielen, beim
Bonner Jazzfest oder in der Münchner Unterfahrt.
Das Publikum wird unterschwellig eingestimmt,
auch die Band selber: »Wir tauchen schneller ein.«
Anders als die Hamburger Raketenmänner,
deren blaue Maurerkluft noch sehr an die unend-
lichen Weiten von Baumärkten erinnert, schaffen
es Shake Stew, ihre visuelle Ästhetik in einer
Schwebe zu halten, die der Musik entspricht.
Freilich bringt der ästhetische Mehrwert auch
Zwänge hervor: »Man kann nicht zehn Jahre im
selben Look arbeiten«, sagt Kranzelbinder. Und so
haben sie, nach langem Herumüberlegen, ihre
schwarz-goldenen Streifen in eine neue Form
überführt, indem sie sich, alle sieben in ihren
Hemden, im Kreis auf dem Boden liegend haben
fotografieren lassen. Die Striche bilden jetzt einen
Kreis: Diese Musik will keinen Anfang und kein
Ende mehr haben.

E


in völlig anderes Raumkonzept verfolgt
der Schweizer Pianist Nik Bärtsch,
dessen Band Ronin, emporgehoben
vom Label ECM, rund um die Welt
spielt; in der Elbphilharmonie waren
sie auch schon. Bärtsch hat sich mit Partnern in
Zürich einen Club gekauft, das Exil. Jeden Montag
spielt seine Band hier, wenn sie nicht auf Tour ist.
Letztens wurde das 777. Montagskonzert gefeiert.
Bärtsch kombiniert eigenes Tun mit fremdem
Geld. Er hat einen Kreis von zehn Gönnern um sich
herum aufgebaut, bestehend aus wohlhabenden
Freundinnen und Freunden des Jazz, welche die
Musik so lieben, dass sie die auch unterstützen wol-
len. Die Gönner tragen die Montagskosten, die Band
revanchiert sich mit permanentem Performen. 60 bis
100 Leute kommen jede Woche bei 20 Franken Ein-
tritt, Studenten 10; längst ist der Abend ein Treff-
punkt kultureller Aktivisten. »Es geht um Kontakte,
Entwicklung und Innovation«, sagt Bärtsch. Die
Inspiration ist allseitig. Mit den üblichen Popkon-
zepten hat das nichts mehr zu tun. Inzwischen wür-
den viele junge Musiker vorbeischauen, um zu er-
kunden, wie sie sich eine Zukunft aufbauen können.
Bärtsch, 48, rät zu Kraft, Hingabe und Geduld,
»sauber arbeiten, langfristig denken«. Und er rät zum
Tätigwerden: »Du darfst nicht warten.«
Seine Band Ronin kombiniert fernöstliche
Kampfkunstideale mit Schweizer Feinmechanik:
Es geht um minimale Verschiebungen, die maxi-
male Wirkungen auslösen. Längst ist sein Zen-
Funk eine Marke geworden.
Der deutsche Posaunist Nils Wogram, der in
der Schweiz verheiratet ist, drei Kinder, findet all
die visuellen und räumlichen Ansätze interessant,
verzichtet aber selber darauf. Der Eigensinn des
47-jährigen Virtuosen mit vier Bands beschränkt
sich auf nWog, das Label, das er aus Verdruss über
existierende Plattenlabel gegründet hat – ähnlich
wie Chris tian Lillinger, nur Jahre vorher. Der ris-
kante Schritt habe sich gelohnt, sagt er. Da er
Helfer beschäftige, schreibe das Label nur eine
schwarze Null, aber seine Musik sei verfügbar, alle
Rechte lägen bei ihm, und er müsse sich nicht är-
gern. Inzwischen gibt er auch jungen Musikern die
Chance, bei ihm zu veröffentlichen. Sie müssen
die Kosten selber tragen, dürfen dafür die Gewin-
ne mitnehmen. Wogram nennt das »ein genossen-
schaftliches Modell«; er fühlt sich wohl damit.
Somit sind ihm die Früchte des Eigensinns sehr
vertraut. Andererseits ist er kritisch und erfahren
genug, Schattenseiten der Autonomie zu sehen.
»Die zunehmende Abgabe von Verantwortung an
die Ausübenden ist problematisch«, sagt er. Je-
mand spiele irgendwo, der Andrang sei mau, und
dann bekomme der Musiker vom Veranstalter zu
hören: »Der Saal ist leer, wo ist dein Publikum?
Hast du keine Werbung gemacht über deine Ka-
näle, dann bist du selber schuld!«
So ist der Jazz eingeklemmt zwischen Pop und
Klassik. Der Pop spielt sein Geld selber ein, die
Klassik ist institutionell gut versorgt. Keiner der
befragten Jazzer klagt darüber. Sie begegnen den
Defiziten mit Erfindungsreichtum und freuen sich
an der musikalischen Freiheit, die sie genießen.
Ein paar mehr Gönner könnte es geben.

Trompeter Philipp Püschel, 29, weiß um die
schwindende Bedeutung der einst so wichtigen La-
bels und um das, was an ihre Stelle tritt: das Netz.
»Beim Streaming eines Musikstückes kommt es
darauf an, User in den ersten 30 Sekunden zu
überzeugen, damit sie nicht weiterschalten«, sagt
er. Nichts für ihn. »Ich will keine Musik schreiben,
die unter der Dusche oder beim Joggen gut klingt.«
Sich als Jazzmusiker solcher Verpoppung anzupas-
sen, finde er »wahnsinnig gefährlich«. Von den
mageren Erlösen nicht zu reden: »Für 3000 Klicks
im Monat gibt es acht oder neun Euro.«
So hat er mit befreundeten Musikerinnen und
Musikern in Hamburg das JazzLab gegründet, ein
Kollektiv, das ihnen helfen soll, sich in einem
schwierigen Umfeld zu eta blie ren. »Es ist nichts
Besonderes mehr, Jazz zu machen«, sagt er. »Nie-
mand wartet auf die Musik. Das Publikum ist kein
Tigerkäfig, in den ein Stück Fleisch hineingewor-
fen wird.« Man müsse sich etwas einfallen lassen.

Das JazzLab veranstaltet in einem technoiden
Club eine monatliche Konzertreihe, die inzwi-
schen das jüngste Jazzpublikum in Deutschland
hat, Durchschnittsalter 25. JazzLab bringt Platten
heraus, unterstützt Mitglieder beim Beantragen
von Fördergeld, organisiert Festivals. Das feel.jazz-
Festival Ende Januar im Hamburger Hafenklang
hatte zehn Bands und dazu noch DJs; es kamen
1300 Leute an zwei Tagen – »hippe Typen unter
35«, sagt Püschel, »es ging bis vier Uhr morgens,
und viele hatte ich noch nie beim Jazz gesehen«.
Das ist die neue Lust am Hören, wie schön.
Weniger Freude machen die Finanzen. »Zahl, was
es dir wert ist«, hatte es am Eingang geheißen, um
das Angebot niedrigschwellig zu halten. Auch wer
so zial schwach ist, sollte sich dem Jazz nähern kön-
nen. Allen anderen galt die ausgehängte »Spenden-
empfehlung«: 15 Euro. Gezahlt wurde im Schnitt
die Hälfte. »Es gibt Leute, die werfen uns fünf
Euro hin und bestellen dann zehn Bier an der Bar«,

sagt Püschel. »Vielen scheint nicht ansatzweise klar
zu sein, was so eine Veranstaltung kostet.«
Er beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie
anspruchsvolle Musik zu fairen Preisen verkauft
werden kann. Das Arbeiten unter prekären Bedin-
gungen darf kein Dauerzustand werden. Marken-
bildung scheint ihm ein Schlüssel zum Erfolg zu
sein. Manche Jazzgewissheit muss dafür über Bord
geworfen werden. So spielt er mit dem befreunde-
ten Saxofonisten Lasse Golz nicht etwa in einer
Band, die nach alter Sitte Lasse Golz Sextett hieße,
sondern sie haben einen eigenen, nach oben stre-
benden Namen: Rocket Men. Die Raketenmänner
werfen sich in astronautenartige Overalls und be-
gleiten ihre Bühnenshow mit Weltraumprojektio-
nen; ihre jüngste Platte erinnert an das Jahr der
Mondlandung: Since 1969. Die Musik allein wäre
zu wenig; es braucht heute mehr.
Meister auf diesem Gebiet ist die Wiener Band
Illustration: Bráulio Amado für DIE ZEIT Shake Stew, die europaweit Furore macht. Die


61

Free download pdf