4 POLITIK 30. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6
Bye-bye, Britannia
Was wird sich ändern?
Was geschieht jetzt?
Am 31. Januar 2020 tritt Großbritannien formell
aus der Europäischen Union aus. Die zunächst
sichtbarste Folge: Vom 1. Februar an werden sich
die Briten aus allen EU-Institutionen zurückzie-
hen. Die 73 britischen Abgeordneten werden das
EU-Parlament verlassen, die britischen Beamten
scheiden aus den verschiedenen EU-Behörden aus,
etwa aus der Europäischen Arzneimittel-Agentur,
deren Sitz bereits von London nach Amsterdam
verlegt worden ist.
Was ändert sich nicht?
Alles andere bleibt zunächst gleich. Am 1. Februar
beginnt eine vertraglich vereinbarte Übergangs-
frist, die bis Ende 2020 dauert. Erst danach wird
sich Großbritannien komplett aus dem EU-Bin-
nenmarkt und der Europäischen Zoll union zu-
rückziehen. Bis dahin soll ein neues Abkommen
zwischen der EU und Großbritannien verhandelt
werden, das die künftigen Beziehungen regelt.
Die britische Regierung hat die Möglichkeit,
bis zum 1. Juli 2020 eine Verlängerung dieser
Übergangsfrist um ein bis zwei Jahre zu beantra-
gen. Premierminister Boris Johnson allerdings hat
betont, dass er davon auf keinen Fall Gebrauch
machen will.
Johnsons Terminplan ist allerdings sehr ambi-
tioniert, um nicht zu sagen: unrealistisch. Frei-
handelsabkommen sind äußerst komplex und
brauchen auch deshalb viel Zeit. Kanada und die
EU zum Beispiel benötigten sieben Jahre, bis sie
sich auf ein unterschriftsreifes Abkommen einigen
konnten. Dabei haben Kanada und die EU ein
sehr freundschaftliches Verhältnis. Die Beziehung
zwischen der EU und Großbritannien ist im Ver-
gleich dazu schwierig. Sprich: Man wird viel härter
um die Einigung ringen, das wird mehr Zeit kos-
ten, viel mehr, als Johnson veranschlagt.
Die EU-Kommission hat verlauten lassen, dass
die Zeit ihrer Einschätzung nach zu knapp bemes-
sen sei. Sie glaubt allerdings, dass man sich bis zum
Ende der Übergangsfrist auf einige Grundlagen
wird einigen können. Im Austrittsabkommen
haben die EU und Großbritannien ja bereits drei
wesentliche Punkte geklärt. Die vor dem Austritt
eingegangenen finanziellen Verpflichtungen Groß-
britanniens bleiben bestehen. Die Rechte der EU-
Bürger in Großbritannien und die der britischen
Bürger in der EU bleiben gewahrt, sofern sie sich
vor dem Ende der Übergangsfrist niedergelassen
haben. Und Nordirland bleibt mindestens bis zum
Ende der Übergangsfrist Teil des Binnenmarktes.
Auf diese Weise soll verhindert werden, dass eine
sogenannte harte Grenze zwischen Nordirland
und Irland entsteht, die womöglich zu einem Wie-
deraufflammen des nordirischen Bürgerkrieges
führen könnte.
Parallel zum Austrittsabkommen haben sich die
EU und Großbritannien in einer politischen Erklä-
rung über die Grundzüge der künftigen Beziehungen
verständigt. Sie definiert eine Reihe von Prinzipien,
aus denen nach Ende der Übergangsfrist die Details
der Kooperation entwickelt werden sollen. Das aller-
dings kann dauern, da nach Ende 2020 keine Fristen
mehr festgelegt wurden.
Worüber wird jetzt noch verhandelt?
Die Scheidung – das Austrittsabkommen – ist
festgelegt, es geht nun um die Scheidungsfolgever-
einbarung. In den nächsten Monaten wird vor
allem über die künftigen Handelsbeziehungen
verhandelt werden. Welche Waren und Dienst-
leistungen dürfen zu welchen Bedingungen expor-
tiert beziehungsweise importiert werden? Es geht
aber auch um eine Reihe anderer Themen: um die
künftige Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich,
beim Daten- und Informationsaustausch, um
Standards und Regeln für den Flugverkehr, um
die Lizenzierung von medizinischen Produkten,
um Fischereirechte. Letztere sind von besonderer
Relevanz. Obwohl die Fischer für die Gesamtwirt-
schaft Großbritanniens von geringer Bedeutung
sind, waren sie während der Brexit-Kampagne
eines der Symbole der Brexiteers. Die Insel Groß-
britannien will die Kontrolle über die Meere
ringsum zurückgewinnen: Das war ein sehr
schlagkräftiger Slogan.
Kann man sich einigen?
Die EU-Kommission hat deutlich gemacht, dass
sie britischen Waren und Dienstleistungen nur
dann den Zugang zum Binnenmarkt gestatten
wird, wenn diese den Standards der EU ent-
sprechen und sich ihren Regeln unterwerfen.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
stellte den Briten kürzlich bei einer Rede in Lon-
don Wirtschaftsbeziehungen »ohne Zölle, ohne
Dumping, ohne Quoten« in Aussicht. Allerdings
müsse es dafür gleiche Wettbewerbsbedingungen
bei Steuern, Arbeit, Umwelt und staatlichen Bei-
hilfen geben. Wenn nicht, dann werde es auch
keinen »gleichwertigen Zugang« zum EU-Bin-
nenmarkt geben. Boris Johnson dürfte das nicht
gefallen. Er hat seinen Wählern versprochen, dass
beides möglich sei, völlige Freiheit, in Großbri-
tannien nach eigenen Standards und Regeln zu
arbeiten und zu produzieren – und gleichzeitig
aus Großbritannien in den Europäischen Bin-
nenmarkt exportieren zu können. Um es am
Beispiel der Fischerei deutlich zu machen: Die
Briten wollen den Fisch in ihren Gewässern selbst
fangen und ihn gleichzeitig nach Europa ex-
portieren. Ja, sie müssten das sogar tun. So viel
Fisch, wie sie in ihren großen Gewässern fangen,
essen die Briten nicht. Im Gegenzug wird die EU
wohl verlangen, dass auch Fischer aus europä-
ischen Staaten weiter in britischen Gewässern
fischen können.
Das alles ist auch deshalb eine schwierige
Übung, weil der Brexit stark politisiert und extrem
emotionalisiert ist. Ein Scheitern der Gespräche ist
nicht ausgeschlossen. Dann käme der sogenannte
Hard Brexit, der Austritt Großbritanniens ohne
jedes Abkommen. ULRICH LADURNER
Eine Trennung in Zahlen
Die EU verliert 66.647.112 Bürger
und schrumpft um 248.527,8 km^2
16.141.241 Briten wären lieber in der
EU geblieben. 17.410.742 wollten raus
Allein 24 EU-Gipfel
beschäftigten sich mit dem Brexit
Das Europaparlament verliert
73 britische Abgeordnete
Zwei Premierminister mussten gehen
Im Mai 2012 tauchte das Wort
»Brexit« zum ersten Mal auf,
in einem englischen Blogbeitrag
Oktober 2017: Auch ein Jahr nach dem Referendum sind viele Briten immer noch fassungslos
Fotos: Dinendra Haria/dpa (o. l.); Alamy/Mauritius (r.); Kirsty Wigglesworth/Empics/action press (u.)
Sitzung um Sitzung: Parlamentarier in der Endlosschleife
Mai 2019: Wenige Wochen vor dem Rücktritt von Theresa May