Die Zeit - 30.01.2020

(Tina Sui) #1

... waren sie unsere Feinde, ja. Und wir sollten herausfinden,
wo ihre Maschinengewehre stehen, von wo der Nachschub
kommt, von wo die Verstärkung. Wo ist die zweite Panzer-
division, die »zwote PD«? Unser Problem über Monate. Die
Nazis waren stolze Soldaten, stolz auf ihr Soldatentum. Im
Gegensatz zu uns, wir waren nur verkleidete Zivilisten.
Haben Sie Ihre Fähigkeit, etwas über andere Menschen
herauszufinden, indem Sie ihnen Fragen stellen, in dieser
Zeit gelernt?
Die Grundlagen bestimmt. Als was trittst du dem ande-
ren gegenüber? Mit welcher Einstellung kannst du den
anderen davon überzeugen, dass es jetzt Zeit ist, mit der
Wahrheit herauszurücken? Das musste ich lernen, es war
schwer. Anfangs dachte ich, dass der deutsche Soldat mir
in jedem Moment sagen würde: Jude, hau ab! Aber nichts
dergleichen passierte.
Man hielt Sie für einen Amerikaner.
Für einen Deutsch sprechenden Amerikaner, die Uniform
hat natürlich auch geholfen. Wie oft wurde ich mit dem Satz
konfrontiert: »Sie sprechen ja fast perfekt Deutsch.« Später,
nach Kriegs ende, als ich in München war, wurde es noch
dreister. Da hörten wir Sprüche wie: »Ihr seid ja alle abge-
hauen mit euren Millionen, während wir hier die Bomben-
nächte ertragen mussten!« Dieses wahnsinnige Selbstmitleid.
Es war eine Selbststilisierung zum Opfer.
Vor allem die Österreicher konnten das, »Hitlers erste Op-
fer« – von wegen. 99 Prozent hatten 1938 für den »An-
schluss« gestimmt, wenn auch unter Druck.
Sie kamen im April 1945 nach München, Sie gehörten zu
den Ersten, die nach Dachau gefahren sind, direkt nach
der Befreiung des KZs.
Drei Tage danach war ich da, ja. Erst die Hitler-Wohnung
am Prinzregentenplatz, dann die Eva-Braun-Wohnung,
dann Dachau, das haben wir alle gemacht. Die Hitler-
Wohnung war erstaunlich groß, mit Balkon, voller Karl-
May-Bände und Briefe. Ich fand ein Blatt, ich glaube,
nach dem gescheiterten Putsch verfasst: »In dieser schwe-
ren Stunde, mein Führer, versichern wir Sie unserer ewi-
gen Freundschaft und Ergebenheit«, unterzeichnet von
Göring, Goebbels, Himmler. Das Blatt habe ich meinem
Vater nach Amerika geschickt, und er hat es für 25 Dollar
verkauft. »Diesen Scheiß will ich nicht in meinem Haus
haben«, hat er gesagt. Die Eva-Braun-Wohnung war in
Bogenhausen, sehr schön, bour geois, mit einem Panzer-
schrank, den die G. I.s natürlich schon aufgebrochen hat-
ten. Darin lagen in einem hübschen Ledereinband Mor-
gensterns Galgenlieder, offenbar von Hitler geschenkt.
Habe ich liegen gelassen.
Und dann fuhren Sie nach Dachau ins KZ.
Es sah wirklich auf den ersten Blick so aus, als seien Puppen
auf dem Gelände verteilt worden.
Sie meinen, es wirkte wie eine Inszenierung?
Ja. Erst dann merkte ich: Das sind alles meine Leut’. Da
war ein Zug mit offenen Waggons, innen lagen die ge-
stapelten Leichen, alle verhungert und verdurstet, es war


furchtbar. Die haben ein an der das Blut abgezapft, um was
zu trinken zu haben. Entsetzlich. Ich bin nie wieder in das
Lager gefahren. Damals sind die Münchner von den Ame-
rikanern da rausgebracht worden, damit sie das sehen.
Und immer wieder hieß es: Das haben wir nicht gewusst,
das haben wir nicht geahnt! Dabei war das Lager offen,
von allen Seiten einsehbar.
Wie haben Sie auf solche Aussagen reagiert?
Wir waren fassungslos. Die Verhöre mit den Soldaten
waren übrigens auch aus einem anderen Grund wichtig
für mich. Ich musste dafür meine eigene Rolle im Leben
finden: Wer bin ich eigentlich, der diesen jungen deut-
schen Nazis gegenübertritt? Bin ich nun Ami? Bin ich
Deutscher? Hätte ich eigentlich bei ihnen kämpfen sollen?
Selbst diese Frage habe ich mir gestellt.
Auf der Seite der Deutschen?
Ich bin wahrscheinlich der einzige amerikanische Soldat,
der mit Nietzsches Buch Also sprach Zarathustra im Gepäck
in den Krieg gezogen ist – auf Deutsch. Ich habe auch mein
Kriegstagebuch auf Deutsch geschrieben. Hätten mich die
Amis dabei erwischt! Tagebuch schreiben war ohnehin ver-
boten, damit keine Informationen an die Feinde geraten
konnten – und dann auch noch auf Deutsch. Später war
diese innere Zersplitterung aber sehr fruchtbar.
Inwiefern?
Die Frage »Wer bist du eigentlich?« reicht für ein Lebens-
werk.
Sie haben in Ihren etwa 1500 Interviews diese Frage immer
wieder gestellt, Ihren Gegenübern – und damit im Grunde
auch sich selbst.
Ich wollte wissen, wie man so bedingungslos zu sich selbst
steht wie die Leute, die ich interviewt habe. Mir selbst war
diese Gabe nicht gegeben. Ich fragte mich immer: Wer
zum Teufel bin ich? Habe ich eine Lebensberechtigung als
der, der ich bin? Typisches Emigranten-Syndrom.
Fragen, die sich viele Holocaust-Überlebende stellen.
Ja. Darf ich mein Leben gerettet haben gegenüber den Mil-
lionen, die es nicht konnten? Und dann auch die Frage, zu
welcher Gesellschaft ich gehöre. Vom deutschen Fernseh-
publikum wurde ich jahrelang für einen Elsässer gehalten
oder einen Franzosen, der wohl eine deutsche Mutter ge-
habt haben muss. Ich habe dem auch nie widersprochen.
Sie haben erst ganz spät öffentlich gesagt, dass Sie Jude sind.
Eine der ersten Reaktionen, die ich in den Sechzigerjahren
auf meine Fernsehbeiträge bekam, war ein Brief, in dem
stand, man könne aus Paris mit einem französischen oder
mit einem deutschen Akzent berichten, aber auf keinen
Fall mit einem wienerischen. Das musste ich mir ganz
schnell abtrainieren, daher diese neutrale Sprache, die ich
jetzt draufhabe.
Aber man hört doch das leicht Wienerische.
Sagen Sie das nicht! Das beleidigt mich!
Sie müssen lachen.
Man hört es natürlich heraus, die Donau-Färbung ist im-
mer noch drin. Damals musste ich wirklich darauf ach-

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