Frankfurter Allgemeine Zeitung - 19.02.2020

(ff) #1

D


er Stellungskrieg in der Ost-
ukraine hat sichamDienstag
wieder zugespitzt:Ausgerech-
netnahe einer der Endevori-
genJahres entmilitarisierten Zonen, bei
Solote,haben sichRegierungstruppen so-
wie dievonRussland unterstütztenKämp-
ferstundenlang gegenseitig beschossen.
Dabeisind nachAngabendes KiewerVer-
teidigungsministeriums ein Soldatgetötet
und vierverletzt worden, auf dergegneri-
schen Seitewurden nach diesen Angaben
vier Kämpfergetöt et und sechsverwundet.
NachAngaben des ukrainischen Militärs
begannen dieKämpfe amfrühenDienstag-
morgengegenfünf Uhr damit,dassdiepro-
russischenKämpferukrainische Beobach-
tungspostenbeschossen. Laut ukraini-
scher Armee haben die separatistischen
Kämpfer120-Millimeter-Mörser,Granat-
werfer und schwereMaschinengewehre
eingesetzt, die nachder Waffenstillstands-
vereinbarung nicht in diesem Gebietsein
dürfen.DieSeparatistenhättenineiner Of-
fensiveversucht, dieTrennliniezwischen
den Gebietenbeider Seiten zu überschrei-
ten. Gegen Mittagwaren dieKämpfe wie-
der beendet.
Derukrain ische PräsidentWolody myr
Selenskyjbezeichnete den Beschuss durch
die Kämpfervoreiner Sitzung desNationa-
len Sicherheitsrats als eine„zynische Pro-
vokation“ ,die of fenbar bewusstzum fünf-
tenJahrestag derSchlachtvon Debalzewe
gestartet worden sei,einer derverlust-
reichs tenSchlachtendieses Krieges.ImFe-
brua r2015 hatten die Separatistenmit Un-
terstützung desrussischen Militärsden
strategisc hwichtigen Eisenbahnknoten-
punkt Debalzeweerobert, obwohl einige
Tage zuvor in Minsk inVerhandlungenim
sogenanntenNormandie-Format zwischen
Bundeskanzleri nAngel aMerkel, Frank-
reichs PräsidentFrançois Hollande,dem
ukrainischen PräsidentenPetroPoroschen-
ko unddem russischen Präsidenten Wladi-

mir PutineineWaffenruh evereinbartwor-
denwar. Die damals erzieltenVereinbarun-
gensindbis heutedie GrundlageallerBe-
mühungen um eineFriedensregelung.
„Dasist einVersuch, denFriedenspro-
zessimDonbasszutorpedieren, dermit
kleinen, aber unaufhaltsamen Schritten be-
gonnen hat“,sagteSelenskyj. DerKurs
des Landes „auf eine Beendigung des Krie-
gesund dieVerpfl ichtungauf die interna-
tionalenVereinbarungen“ blieben unver-
ändert, ebensodie Entschlossenheit,auf
„alleErscheinungen einer bewaffnetenAg-
gressio ngegen die Ukraine“ zu antworten.
„Nur mit einerstarkenArmee kann man
sichanden Verhandlungstisch setzen.“Se-
lenskyj bemüht sichseit seinem Amtsan-
tritt imFrühlingvorigenJahres um eine
Wiederbelebung des Friedensprozesses.
Im DezemberkamesinParis zum ersten
Gipfel imNormandie-Formatseit drei Jah-
ren. Ein nächstesTreffen warfür April in
Berlinvorgesehen.Vonrussischer Seite
wirddieser Plan jedochmit der Begrün-
dung inFragegestellt, die Ukraine habe

keine Fortschrittebei derVerwirklichung
der VereinbarungenvonMinsk gemacht.
Der Sprecher desrussischen Präsidenten
Wladimir Putinreagier te am Dienstagzu-
nächs tzurückhaltend auf die Eskalationin
der Ostukraine: Manwarteauf genauere
Informationen, bevorman Schlussfolge-
rungen ziehe.Staatlicherussis cheMedien
zitier tenjedochAbgeordnete,nun sei ein
Normandie-Gipfel im April nochunwahr-
scheinlicher geworden. EinVertreterder
Separatistensagte, als Ersteseien ukraini-
sche Soldatenvorgerück t. Er sprachvon ei-
nem verwundetenZivilis ten.
In den vergangenen Wochen hatte
nichts darauf hingedeutet,dassder vor
sichhin köchelndeStellungskrieg eskalie-
renkönnte. Die jüngsten Tagesberichte
der Beobachter der OSZE,etwa der vom
Montag, hatten nur dasÜbliche vermel-
det: Entlang der gut 400 Kilometerlangen
Frontlinie durchdie östliche Ukraineregis-
triertendie OSZE-Leuteund ihrefestin-
stallier tenKamerasbinnen 24Stunden
Hunderte vonfliegenden Geschossen, Ex-

plosionen und Mündungsfeuer.Auf beiden
Seiten der Linie habe manWaffen an Or-
tenregistriert,wo sie eigentlichnicht sein
dürften. Außerdem hätten dieKämpfer–
wie oft–die Beobachterini hrer Bewe-
gungsfreiheitbehindert, es sei wieder ein-
mal eineOSZE-Beobachtungsdrohne
nahe dem Separatistengebietbeschossen
worden. Ein Sprecherder EU-Kommissi-
on sagte, dieAngriff eseitens der „bewaff-
netenEinheiten widersprechenvollends
den vereinbartenWaffenstills tandsbedin-
gungen“. Man erwarte, das sRussland „sei-
nen Einflu ss auf die bewaffnetenEinhei-
tenvoll und schnell zur Geltungbringt“,
damit dieMinskerFriedensregelungenwie-
der eingehalten würden.

Foto Reuters

Zumdritten Mal innerhalbweniger Mona-
te sind mutmaßlich interneRegierungsdo-
kumenteüber dieUmerziehungslager in
Xinjiang anwestliche Medien durchgesto-
chen worden. Wieschon in den ersten bei-
den Fällen vervollständigen sie das Bild
eines totalitären Unterdrückungsappa-
rats, in dem Muslimewegennichtiger
Gründe interniertund einer Gehirnwä-
sche unterzogenwerden.
Zu diesen Gründenkann es zum Bei-
spiel gehören, mehr Kinder zu haben, als
die Geburtskontrollpolitik desStaates er-
laubt.Aucheine Jahrezurückliegende
Spende an eine Moschee kann ausrei-
chen, um ins Lager zukommen. Oder die
Beantragung einesReisepasses, ohne an-
schließend insAusland zureisen.
Das neu enthüllteDokument, dasvon
mehreren Medien ausgewertetund am
Montag inTeilen veröffentlicht wurde,
umfasst 137 Seiten. InTabellenformsind
darin Informationen über 311 internierte
Personen zusammengetragen: Angaben
über das Lager,indem sie einsitzen, das
Datum, an dem sie eingeliefertwurden,
die Gründe,warumsie festgehaltenwer-
den, Angaben zu ihrenFamilienangehöri-
genund ihrem sozialenUmfeld sowie
Empfehlungen, ob sie entlassenwerden
sollen oder nicht.Schon die bürokrati-
sche Gründlichkeit, mit der hier menschli-
cheSchicksale verwaltet werden, lässt
den Leser erschauern. Alle Betroffenen
stammen aus dem LandkreisKarakaxim
RegierungsbezirkHotan im Südenvon
Xinjiang, in dem mehr als 90 Prozent der
Bewohner Uiguren sind.

Willkürliche Gründe, krude Logik

Das Dokument trägt in dreierlei Hinsicht
zu einem umfassenderenVerständnis der
Unterdrückungspolitik in Xinjiang bei.
Erstens geht daraus klarer als aus bisher
bekanntenPapieren hervor, welche Ver-
haltensweisen zu einer Internierung füh-
renkönnen. Zweitens gibt das Dokument
Einblicke in de nbürok ratischen Entschei-
dungsprozess, der einer Entlassung aus
dem Umerziehungslager zugrunde liegt.
Drittens bestätigt es dieVermutung, dass
eine Entlassung nicht das Ende derVer-
folgung bedeutet.
Mehr Kinder als erlaubt zu haben istin
der „Karakax-Liste“der am häufigstenge-
nannteGrund für eine Internierung. Da-
mit widerlegt das Dokument abermals die
Behauptung derchinesischen Regierung,
die Lager dienten demKampfgegen Ter-
rorismus und Separatismus. Gewöhnliche

islamische Glaubenspraktiken wie zufas-
ten, nach Mekkazupilger noder zu Hause
zu be tenwerden in einer eigenen Spalte
aufgelistet, als handle es sich um kriminel-
les Verhalten.Viele dergenannten Inter-
nierungsgründe erscheinenextrem will-
kürlich. Sowerden Personen als „nichtver-
trauenswürdig“ eingestuft,weil sie häufig
außerhalb des Landkreisesgearbeitet ha-
ben,so wie einFernfahrer .Ina nderenFäl-
len reichtedas Fehlen bei dertäglichen
Zeremonie zum Hissen der Landesflagge,
um Verdacht zuwecken. Ebenso wie„Ver-
wandteimAusland“ oder „das unbeab-
sichtigteAnklickeneines Linkszueiner
ausländischen Website“. Offenbar liegt
diesenKategorien eine krude Logikvon
vorausschauenderPolizeiarbeit (Predic-
tivePolicing) zugrunde.
Über dieFreilassung einer internierten
Person entscheidetdem Dokument zufol-
ge nicht nur ihr eigenesVerhalten, son-
dernauchdas ihrerVerwandten. Das sei
in fast 60 Prozent derFälle vonden Ent-
scheiderneinbezogenworden, schreibt
der deutsche Wissenschaftler Adrian
Zenz, der dieUnterlagen ebenfalls ausge-
wertet hat.Erforscht an derVictims of
Communism Memorial Foundation in
Washington (Gedenkstiftung für die Op-
ferdes Kommunismus).Ausden Eintra-
gungengeht außerdem hervor, dassein
Lageraufenthaltvonnicht weniger als ei-
nem Jahrvorgesehen ist. Nach der Entlas-

sung stehen die Betroffenen weiter unter
Observation, wörtlich„Management und
Kontrolle“, in ihrer lokalen Gemein-
schaf t. In mehrerenFällen istexplizitvon
einer Entlassung in Beschäftigung die
Rede. Das scheint die TheseAdrian Zenz’
zu bestätigen, wonachamEnde derUmer-
ziehung häufig eineForm der unfreiwilli-
genArbeit steht.
Bemerkenswertist die Enthüllung
nochaus einem anderen Grund: ImÜber-
wachungsstaat Chinakommt es selten
vor, dassRegierungsdokumente,die
nicht für die Öffentlichkeit gedacht sind,
den Medien zugespieltwerden. Es muss
eine undichteStelle imRegierungsappa-
ratgeben, die mit derUnterdrückungspo-
litik nicht einverstanden ist.Für di ePer-
son oder diePersonen, die das Material
ins Auslandgebracht haben, mussdies
mit extremen Gefahrenverbundengewe-
sen sein.

Uigurische AktivistenimAusland
Offenbar warenmehrer eMittelsper-
sonen beteiligt.Die „FinancialTimes“ er-
hielt dieUnterlagen nacheigenen Anga-
ben vondem uigurischen AktivistenAbu-
dewliAyup, der inNorwegen im Exil le-
ben soll.Adrian Zenz schreibt, er habe sei-
ne Version vonAsiyeAbdulaheb bekom-
men, die in den Niederlanden lebt. Siehat-
tesichzuvor schon alsVermittlerin der
früheren Enthüllungen zu erkennen gege-
ben und damitgezielt die Öffentlichkeit
gesucht .Begründethat Abdulaheb das
mit der Hoffnung, dassihreBekanntheit
die chinesischen Behörden davonabhal-
tenkönnte, ihr oder ihrerFamilieetwas
anzutun.
Die „Karakax-Liste“wurde vonmehre-
renSeiten auf ihreEchtheit überprüft.
Die „FinancialTimes“ gibt an, sie habe
die Informationen mit Hilfevon Angehö-
rigender Betroffenen abgeglichen, die im
Ausland leben. DerWissenschaftlerZenz
hat nacheigenen Angaben die Identitä-
tenvon 337 dergenanntenPersonen veri-
fiziert, indemersie mit anderenDatensät-
zen verglichen hat.ZumBeispiel mit je-
nen, diebei einem Datenleck der Überwa-
chungsfirma Sensenets an die Öffentlich-
keit gelangt waren.

Eskalationin der Ostukraine


Verurteilt Angriff:Selenskyj beimTreffendes Nationalen Sicherheitsrats am DienstaginKiew FotoReuters

Die Brüsseler Gespräche über diekünf-
tigen Handelsbeziehungen sollen erst
im Märzbeginnen, aber diesmal tritt
London andersauf als in den „Schei-
dungsverhandlungen“ und bemüht
sich, frühzeitig in die Offensivezukom-
men. Am Montag schicktedie britische
Regierung ihren Chefunterhändler Da-
vid Frostindie Höhle des Löwenund
ließ ihn einenVortrag in Brüssel hal-
ten. VorStudenten definierte Frostdie
Ziele seinerRegierung und drohteim-
plizit, die Gespräche aufzukündigen,
solltedie EuropäischeUnion nichtvon
ihrenForderungen nachRegelübernah-
me ablassen.
Die Positionwarnicht ganz neu–Pre-
mierministerBoris Johnson hattesie
kür zlich in einerRede umrissen.Aber
Frosttrat mit derAutoritätdes Fach-
manns auf und ließ es nicht an Klarheit
mangeln. Er hobhervor, dass dasKönig-
reichnicht mehr als einenFreihandels-
vertrag (nachdem MusterKanadas) an-
strebe und keinesfalls „EU-Aufsicht“
akzeptierenwerde. Londonkönne die
Regeln der EU nicht übernehmen und
auchnicht der Harmonisierung aller
Wettbewerbsstandards, also dem
Schutz dergleichenWettbewerbsbedin-
gungen, zustimmen.Werglaube, derar-
tigeForderungenkönntenvonGroßbri-
tannien akzeptiertwerden, „missver-
steht schlichtweg den Punkt dessen,
waswir tun“, sagteFrost.„Dies istnicht
einfacheine Verhandlungsposition, die
unter Druckgeräumtwerden könnte–
es is tder Punkt desgesamten Projekts.“
Immer wiederkamFrost darauf zu
sprechen, dasssichdas „unabhängige“
Königreichund die EU als „Gleiche“
begegnenmüssten. „Wie käme das bei
Ihnen an, würde dasVereinigteKönig-
reichfordern, dassdie Europäische
Union zu unserem Schutz eine dynami-
sche Harmonisierung mit unseren, in
Westminstergemachten Gesetzenein-
gehen musssowie mit unserenAuf-
sichtsbehörden und Gerichten?“Frost
wiederholtedas Argument Johnsons,
dassdie Briten in einigen Bereichenhö-
hereStandards als die EU hätten, des-
halb aberkeine AnpassungenvonBrüs-
sel verlangten. Allerdingsstellte er in

Aussicht, dasssichdas Königreich
durchaus bilateral aufgemeinsame Ni-
veaus beimUmweltschutz, in sozialen
Fragen oder bei denStaatshilfen eini-
genkönnte. Diessei ja auchBestand-
teil anderer Freihandelsverträge, die
Brüssel mit Drittstaatenabgeschlossen
habe.
Anders als unter Theresa Mayhält
die Regierung Johnson nicht in der
Schwebe,wassie in Brüssel erreichen
will. Sie spricht auchoffen über den
Preis, der für eine souveräne Handels-
politik zu entrichten seinkönnte,etwa
künftig eKontrollen imWarenv erkehr.
Vorallem abergeht dieRegierungvor-
bereit et,einigund koordiniertin die Ge-
spräche.Abweichende Meinungen über
dasZiel derVerhandlungen sind im neu-
en Kabinett vonJohnson nicht be-
kannt.Das gilt auch
für den Zeitplan.
Frostbekräftigtein
Brüssel,dassseine
Regierung nichtvon
der Möglichkeit Ge-
brauc hmachenwer-
de, dieVerhandlun-
genund damit die
sogenannteÜber-
gangsphase zuver-
längern. In dieser Phase, die am 31. De-
zember ausläuft, bleibt dasVereinigte
KönigreichMitglied des Binnenmark-
tesund derZollunion. Erst danach, sag-
te Frost, werdedas Land seinevolle Un-
abhängigkeit wiedererlangen.„Warum
sollten wir das herauszögernwollen?“,
fragteer.
Auch wenn Frosts Äußerungen in
starkemKontrastzuden bisher in Brüs-
sel erhobenen Forderungen stehen,
wurden seineÄußerungen imKönig-
reichnicht als dramatisch bewertet.
Warnungen wie die des französischen
Außenministers Jean-Yves Le Drian,
dasssichdie Verhandlungspartner „ge-
genseitig zu zerreißen“ drohten, sind
nicht zu hören. Eher spricht manvom
gutenWillen, der auf beiden Seiten des
Verhandlungstisches zu beobachten
sei, und derÜberbrückbarkeit der Ge-
gensätze. „Die Quadratur des Kreises
kann und solltegelingen“, schrieb die
„Times“ am Dienstag.

Inte rniert wegenKinder reichtums


Weiter eErkenntnisse zu Chinas LagerninXinjiang /VonFriederik eBöge, Peking


Verdächtig:Ein UigureinUrumqi Fotodpa

PräsidentSelenskyj


bezeichnet denBeschuss


durchSeparatistenals


„zyni sche Provokation“.


UndRusslandstellt den


nächstenUkraine-Gipfel


in Frage.


VonGerhar dGnauck,


Warschau


Genau dasist der Punkt


Londons Brexit-Chefunterhändler zieht in Brüssel


klareGrenzen /VonJochenBuchsteiner,London


DavidFrost

Gastgeber In Kooperation mit

Veranstalter: FRANKFURTBUSINESSMEDIA GmbH–Der F.A.Z.-Fachverlag,Frankenallee68–72, 60327FrankfurtamMain

Wir bedanken uns herzlich bei allen Referenten,
über 200Teilnehmernund denKooperationspartnern
für spannende Diskussionen zur Zukunft der Mobilität
in Städten und Ballungsräumen!

MOBILITÄT IN DEUTSCHLAND –


Städtischer Verkehr erfindet sich neu


FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik MITTWOCH, 19.FEBRUAR2020·NR.42·SEITE 5

Free download pdf