Die Zeit Wissen - 01.2020 - 02.2020

(Barry) #1


Die stillen Aufträge


der Familie


Text Sven Stillich Fotokonzept Doris Pahl


Kinder spüren sehr genau, was von ihnen erwartet wird.


Manche arbeiten sich ein Leben lang an den Träumen ihrer


Eltern ab. Und geben sie an die nächste Generation weiter


D


ie meisten Eltern wünschen ihren
Kindern nur das Beste. Dass sie glück-
lich werden, gesund bleiben, vielleicht
sogar erfolgreich sind. Dass sie einen
Platz finden in der Welt, der ihnen
behagt. Das ist gut, und das ist schön.
Doch das kann auch gefährlich werden. Wenn es näm-
lich eigentlich darum geht, dass die Eltern sich zwar das
Beste erhoffen – aber für sich selbst. Wenn aus den tief
empfundenen Wünschen für die Töchter oder Söhne
hohe Erwartungen werden und aus Erwartungen
schließlich Aufträge, die von den Kindern zu erfüllen
sind. Damit sie dazugehören, damit sie geliebt werden.
Wenn es gefährlich wird, haben die Eltern den Platz in
der Welt, der ihren Kindern gefallen soll, bereits ge-
bucht – sie dürfen ihn nicht mehr selbst suchen, son-
dern ihn nur noch einnehmen. Die Mädchen und
Jungen spüren früh, dass Vater und Mutter etwas von
ihnen wollen. Und sie versuchen, so gut es geht, ihre
jeweiligen Aufträge zu erfüllen. Schließlich hat die
Familie Macht. Sie schafft Geborgenheit und Aus-
schluss. Innen und außen. Wir und die anderen. Und
die Kinder ahmen nach. Oder sie brechen aus. Und
doch spiegelt sich oft noch als Erwachsene ihr Leben in
dem der Eltern: Mutter, bin ich liebenswert, so wie ich
bin? Oder: Vater, was muss ich dafür tun?
Bei Franz Kafka zum Beispiel war das so: Sein
Vater hatte sich aus ärmsten Verhältnissen emporgear-
beitet und erwartete von seinem Sohn, sein Leben so zu
führen, dass die Familie nicht wieder in Armut geraten
würde. Sein Auftrag lautete: Lebe bürgerlich, verdien
immer gutes Geld – such Sicherheit und nicht Schrift-
stellerei. Franz Kafka war gefangen in dem Zwiespalt
zwischen seinem eigenen Streben und dem Auftrag des
Vaters. Die Familie war für ihn bis zu seinem Lebens-


ende »ein speziell für mich installierter Kerker, der umso
härter ist, da er einer bürgerlichen Wohnung gleicht und
von niemandem – außer von mir – als ein Gefängnis
erkannt wird. Dadurch schwinden auch alle Ausbruchs-
versuche.« Auch David Garrett kennt das gut. Eigentlich
wollte sein Vater Geiger werden. Doch dessen Traum
blieb unerfüllt – dafür gab er den Auftrag an seinen Sohn
weiter. Mis sion: Wunderkind. Mit vier Jahren bekam
der kleine David eine Geige. Später musste er täglich
acht Stunden üben, statt draußen mit Freunden zu
spielen. »Es war ein Leben im goldenen Käfig«, erinnert
er sich, »es hieß immer nur: Du musst!« Du musst meinen
Traum leben. Du bist das Werkzeug, mit dem ich mich
voll ende. Du musst allen beweisen, was in unserer
Familie steckt. »Nichts hat einen stärkeren psychischen
Einfluss auf die Kinder als das ungelebte Leben der
Eltern«, fasst der Psychologe C. G. Jung das Familien-
drama zusammen.
Viele Aufträge klingen erst einmal harmlos, als
seien sie mit nur ein wenig Anstrengung erfüllbar.
Aber: »Schon der elterliche Leistungsauftrag ›Bring
gute Noten nach Hause‹ kann sich im Laufe der Zeit
wandeln in den Auftrag ›Sei erfolgreich, sonst wirst du
nicht geliebt!‹«, sagt die Psychologin Sandra Konrad,
Autorin des Buches Das bleibt in der Familie. Worum
es in den Familienaufträgen wirklich geht, wird selten
explizit ausgesprochen. In den wenigsten Fällen sitzt
der Familienrat zusammen wie in einer Vor abend serie
und fordert vom Sohn, dass er als einziger Stammhalter
die väterliche Firma übernehmen müsse. Aufträge
werden viel öfter durch Verhalten erteilt – eher durch
Vorleben und Vormachen also als durch Vorschriften.
Denn vor allem kleine Kinder lernen schnell, welches
Verhalten ihnen die Aufmerksamkeit und Zuneigung
der Eltern sichert – und wofür sie Zurückweisung oder
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