ich Ihnen, dass man um die Welt reisen
kann und so ziemlich überall auf der Welt
dieselbe Art von Freundschaft findet. Die
Struktur sozialer Netze ist überall gleich.
Manche Ethnologen suchen in menschli-
chen Gesellschaften nach universellen
Merkmalen und haben lange Listen auf-
gestellt. In allen Kulturen finden sie
Schamgefühle, Waffengebrauch, Körper-
schmuck, Musik, Tanz ...
Ich habe meine eigene Liste. Sie hat acht
Merkmale, die evolutionär entstanden sind
und eine zentrale Rolle für unser Zusam-
menleben spielen: persönliche Identität,
Liebe, Freundschaft, soziale Netzwerke,
Kooperation, Bevorzugung der eigenen
Gruppe, schwache Hierarchie und von ein-
an der lernen. Ich nenne diese acht Merk-
male die »soziale Ausstattung«.
Gibt es eine Genmutation, die den Men-
schen kooperativ werden ließ und zur
Freundschaft befähigte?
Für einige Eigenschaften haben wir bereits
Beweise auf genetischer Ebene. Zum Bei-
spiel für Freundschaft oder Gesichtsmor-
phologie. Für Kooperation wissen wir noch
nicht, welche Gene am wichtigsten sind.
Das sind sehr komplexe Eigenschaften, die
sich darauf beziehen, wie das Gehirn auf-
gebaut ist. Aber es ist klar, dass die Evo lu-
tion eine Rolle gespielt haben muss.
Behaupten Sie, dass Gene menschliche
Gesellschaften prägen?
Ein wahnsinniger Wissenschaftler, der diese
Idee testen wollte, würde eine Gruppe von
Babys auf einer einsamen Insel aussetzen
und hoffen, dass sie irgendwie erwachsen
werden. Und dann würde er zurückkom-
men, um zu sehen, welche Art von Gesell-
schaft entstanden ist. Würde es Freund-
schaft geben? Liebe? Hierarchien? Würden
die Menschen sich gegenseitig Dinge bei-
bringen? Ich behaupte: Ja, all das gäbe es.
Aber so ein Experiment darf man natürlich
nicht machen.
Die Ethikkommission Ihrer Universität
hätte vermutlich etwas dagegen.
Wir nennen es das verbotene Experiment.
Ich habe stattdessen versucht, natürliche
Experimente auszuwerten. Ein Beispiel sind
Schiffbrüchige. Ich habe mir Aufzeichnun-
gen von etwa 9000 Havarien zwischen den
Jahren 1500 und 1900 angeschaut, als die
Europäer die Welt erkundeten. Ich stieß auf
20 Fälle, in denen mindestens 19 Schiff-
brüchige mindestens zwei Monate lang fest-
saßen. Ich habe alle verfügbaren Aufzeich-
nungen und archäologischen Ausgrabungen
ausgewertet. Gab es Hinweise auf Hierar-
chien, zum Beispiel getrennte Wohnungen
für die Offiziere und die Besatzung? Gab es
Hinweise auf eine Zusammenarbeit, zum
Beispiel um einen Brunnen zu graben?
Lassen Sie mich raten. Sie haben Freund-
schaften und Kooperationen gefunden.
Viele dieser Schiffbrüchigen, vor allem die
erfolgreichen Gruppen, haben sich gemäß
der sozialen Ausstattung organisiert. Ähn-
lich wie Kommunen im 19. Jahrhundert in
den USA; Kibbuzim in Israel; Forschungs-
teams, die in der Südpolstation überwin-
tern. Für alle gibt es im Grunde nur einen
Weg, soziale Gemeinschaften zu bilden.
Menschen schließen Freundschaften, aber
sie machen sich auch Feinde und bilden
Cliquen. Wenn man nicht zu ihrer Gruppe
gehört, können sie ziemlich fies sein.
Ich habe das bisher ignoriert, weil es sehr
deprimierend ist. Man kann einen Haufen
Kleinkinder per Los in zwei Gruppen ein-
teilen und der einen Gruppe blaue T-Shirts,
der anderen gelbe T-Shirts anziehen. Und
von diesem Moment an mögen sie die
Nicholas Christakis erforscht
Freundschaftsnetzwerke in
aller Welt. Er leitet das Human
Nature Lab an der Yale Univer-
sity und ist ein Grenzgänger
zwischen Medizin, Soziologie
und Evolutionsbiologie. Das
»Ti m e M a g a zine« zählte ihn
zu den 100 einflussreichsten
Menschen des Jahres 2009. Sein
neues populärwissenschaftliches
Buch »Blueprint – Wie unsere
Gene das gesellschaftliche
Zusammenleben prägen« ist
bei S. Fischer erschienen
Kinder der anderen Gruppe plötzlich nicht
mehr und geben ihnen kein Spielzeug ab.
In einem anderen Experiment wurden Er-
wachsene gefragt, ob sie Kandinsky oder
Klee bevorzugen. Es gibt keinen großen
Unterschied zwischen diesen beiden Malern,
aber in dem Moment, in dem man dieses
Gefühl auslöst – ich bin eine Kandinsky-
Person, ich bin eine Klee-Person –, setzt die
Ablehnung der anderen ein. Das ist doch
verrückt. Warum hat die Evolution uns
nicht das Bedürfnis mitgegeben, unsere ei-
gene Gruppe zu lieben und gegenüber an-
deren neutral zu sein? Warum müssen wir
die anderen hassen? Warum müssen wir sie
in Gaskammern schicken?
Müssen wir andere hassen, um Freund-
schaften zu schließen?
Es gibt tatsächlich Experimente, die zeigen,
dass Gruppen mit höherer Wahrscheinlich-
keit zusammenarbeiten, wenn sie einen ge-
meinsamen Feind haben. Eine der Erklä-
rungen, warum das gesellschaftliche Klima
in den USA rauer wird, lautet, dass es nach
dem Zerfall der Sow jet union keinen ge-
meinsamen Feind mehr gibt.
Kann die Evolutionssoziologie Donald
Tr u m p e r k l ä r e n?
Ich glaube nicht. Aber Donald Trump nutzt
viele unserer negativen Eigenschaften aus,
zum Beispiel die Neigung, andere schlecht-
zumachen. Es braucht nicht viel, um eine
Gruppe von Leuten dazu zu bringen, einer
anderen Gruppe die Schuld für die eigenen
Probleme zu geben. Viele Autokraten ma-
chen sich das zunutze – für ungute Zwecke.
Außerdem tendieren wir dazu, Menschen
zu respektieren, die von anderen respektiert
werden. Diese Eigenschaft nutzen Politiker
aus, indem sie sich von großen Menschen-
ansammlungen bejubeln lassen. Denken
Sie an den Personenkult um Kim Jong Un
in Nordkorea. Man sieht diese Massen und
akzeptiert unwillkürlich, dass eine Person,
die dermaßen bewundert wird, schon die
richtige sein wird. Es gibt noch viel mehr
Aspekte der menschlichen Natur, die bös-
willige Anführer ausnutzen können.
Wenn Sie das soziale Miteinander mithilfe
der Genetik erklären, geraten Sie auf den
gefährlichen Pfad des Sozialdarwinismus,
der zur Rechtfertigung von Eugenik, Ras-
sismus und Nazi-Ideologie führt.
Nein, Sozialdarwinismus und Evolutions-
soziologie haben nichts mit ein an der zu tun.
Dafür muss man verstehen, dass wir Men- Foto
Demetrius Freeman
/ Th
e New York Times
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/ laif