Die Zeit Wissen - 01.2020 - 02.2020

(Barry) #1


Tränen erkundet auch, wovon die chemi-
sche Zusammensetzung einer Träne ab-
hängt, welches Tier sich von Elefantenträ-
nen ernährt und wie Schauspieler auf
Anhieb weinen: Shirley Temple wurde bei
Dreharbeiten erzählt, ihre Mutter sei gekid-
nappt worden – damit sie vor der Kamera
weinte. Jakob Wittmann
Hanser Verlag, 192 S., 19 €


Lehrstück vom gejagten Koloss
Andreas Tjernshaugen: »Von Walen und
Menschen«
Kleine Warnung für Zartbesaitete: Hinter
dem hübsch gestalteten Einband und dem
etwas harmlosen Titel Von Walen und Men-
schen verbirgt sich ein Bericht, der von Blut
durchtränkt ist. Geradezu minutiös zeich-
net der norwegische Soziologe Andreas
Tjernshaugen nach, wie seine Landsleute
erst vor der heimischen Küste, dann im
Nordpolarmeer und schließlich weltweit
Jagd auf das massivste Lebewesen machten,
das je auf der Erde gelebt hat: den Blauwal.
Die Kombination aus Dampfschifffahrt
und Sprengharpunen machte es von 1865
an möglich, die bis zu 30 Meter langen und
über 100 Tonnen schweren Tiere zu töten
und zum »Abspecken« an Land zu schlep-
pen. Durch immer ausgefeiltere Technik
gelang es den Jägern schließlich, die Mee-
resriesen direkt auf hoher See abzuschlach-
ten und zu wertvollem Tran einzukochen.
Die von Tjernshaugen befragten histori-
schen Quellen bezeugen eindrücklich, wie
wenig sich die Walfänger aus Nachhaltig-
keit machten: Lieber nahmen sie die Aus-
rottung des Blauwals in Kauf – und damit
den Tod ihres Gewerbes –, als die Gewinne
der wachsenden internationalen Konkurrenz
zu überlassen. Die Geschichte des indus-
triellen Walfangs, wie Tjernshaugen sie
erzählt, ist ein schockierendes, aber sehr
lesenswertes Lehrstück über einen global
entfesselten Kapitalismus. Parallelen zur
aktuellen Klimaschutzdebatte drängen sich
unweigerlich auf. Und hier wie da kann nur
eine globale Einigung Rettung bringen.
Für die Blauwale kam sie gerade noch recht-
zeitig: Als die Internationale Walfangkom-
mission die Meeressäugetiere 1966 endlich
unter Schutz stellte, war weniger als ein
Prozent ihres weltweiten Bestandes übrig.
Aber immerhin: Es gibt sie noch. Bis zum
heutigen Tag. Magdalena Hamm
Residenz Verlag, 230 S., 22 €


Die Zeit, die große Künstlerin
Thomas Windisch/Thomas Macho/Ilija Troja-
now: »Wer hat hier gelebt?«
Was ist hier wohl geschehen? Wo sind all
die Menschen hin? Wer hat hier gelebt?
Das sind Fragen, die sich beim Anblick der
Fotos von Thomas Windisch stellen. Tape-
ten blättern von Wänden, Licht fällt auf
Rost, Fetzen, wucherndes Grün. Es gibt in-
zwischen viele Bücher über lost places, aber
diese »Augenreise zu verlassenen Orten« ist
eine besondere – der Wucht des Abgebilde-
ten und der beiden Autoren wegen. Der
Philosoph Thomas Macho schreibt unter
anderem über Spukhäuser und Geisterstäd-
te, denkt sich hinein in eine menschenlose

Zukunft und wirft einen »beunruhigen den
Blick auf eine Welt, die ohne uns alle aus-
zukommen vermag«. Das steht gut bei den
Fotos von Verfall und Blüte. Noch besser
sogar passen die Motive zur Science-Fic-
tion-Kurzgeschichte, die sich Ilija Trojanow
ausgedacht hat. Außerirdische Touristen
besuchen in ihr die menschenleere Erde.
»Der ganze Planet: ein einziges Museum!«,
lautete der Werbeslogan. Doch still steht
hier nichts, denn die Zeit – die große
Künstlerin –, sie lässt vergehen und wachsen.
Die Erzählungen des Reiseführers »bevöl-
kerten jeden verlassenen Raum – so sehr,
dass uns die Abwesenheit von Menschen,
die uns anfänglich noch irritiert hatte, nicht

mehr als Mangel erschien«. Nun, ohne den
Menschen, sind die Dinge frei von ihm, frei
von Nutzen. »Sie sind jetzt schöner, als sie
es je zuvor waren.« Es ist ein Buch, das den
Blick auf Vergängliches lenkt, ohne dabei
sentimental zu werden. Sven Stillich
Brandstätter Verlag, 216 S. mit zahl. Fotos, 45 €

Lies Bücher, keine News!
Rolf Dobelli: »Die Kunst des digitalen Lebens«
Rolf Dobelli liest seit zehn Jahren keine
News mehr und wurde dafür mit mehr Zeit,
Glück und Weisheit belohnt – er schrieb in
dieser Zeit Bestseller wie Die Kunst des klugen
Handelns. In seinem neuen Buch stellt er
Argumente für eine News-Diät zusammen.
Mit News sind tagesaktuelle Kurznachrich-
ten gemeint: Polizist schießt auf Demons-
trant, Weltkonzern feuert CEO, Mann er-
sticht Großmutter. Für das, was im Leben
wirklich zählt, sind News irrelevant, meint
Dobelli. Für das Verständnis der Welt auch.
Selbst wer jeden Tag die Nachrichten über
den Syrien-Krieg verschlinge, werde diesen
Krieg nicht verstehen. News machen passiv:
»99 Prozent von allem, was in den News
steht, können Sie nicht beeinflussen.« In
kurzen Kapiteln mischt er Anekdoten, For-
schungsergebnisse und Handlungsanleitun-
gen und plädiert für totale News-Abstinenz
(»die erste Woche wird die schlimmste
sein«). In der gewonnenen Zeit sollen wir
(Sach-)Bücher lesen, eins pro Woche, gute
Bücher zweimal. Kleiner Trost für uns Jour-
nalisten, deren News keiner mehr liest: Arti-
kel, »die die Komplexität der Welt erklären«,
sind noch erlaubt. Max Rauner
Piper, 246 S., 20 €

Die Rezensenten
Magdalena Hamm liest »Umkämpfte Zone«
von Ines Geipel und begreift jetzt die ganze
Absurdität des Konstruktes DDR.
Hella Kemper genießt das »Fallobst« von
Hans Magnus Enzensberger.
Max Rauner liest das Anti-Rassismus-Buch
von Alice Hasters und hört den NDR-Podcast
»180 Grad: Geschichten gegen den Hass«.
Sven Stillich spielt gerade »Death Stranding«,
eines der besten Games dieses Jahrhunderts.
Silke Weber liest alles von Eva Illouz, die
das Gefühlsleben im Kapitalismus erforscht.
Sophie Weller ist auf den letzten Seiten von
Maggie Nelsons »Bluets« angelangt.
Jakob Wittmann hört begeistert Sufjan
Stevens’ Album »The Decalogue«.

DAS LESEN
NOBELPREIS TRÄGER

Horst Fuhrmann:
Ȇberall ist Mittelalter. Von der Gegen-
wart einer vergangenen Zeit«
»Das Buch beleuchtet die politische und
kulturelle Situation im Mittelalter und wie
diese in der Gegenwart reflektiert wird.
Ich war gut mit dem Autor befreundet.«

C. H. Beck Verlag, 330 S., 12,95 €

Robert Huber,
Chemie-Nobel preis 1988
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