Neue Zürcher Zeitung - 18.02.2020

(Darren Dugan) #1

Dienstag, 18. Februar 2020 SCHWEIZ 13


In den USA sind neue brisante Hinweise


zum Swissair-Absturz vor 50 Jahren aufgetaucht SEITE 14, 15


Der Anteil der Privatpatienten


ist bei den Hirslanden-Kliniken stark gesunken SEITE 17


Effizientere Verbrechensbekämpfung


Staatsanwälte wollen ihren Einfluss auf die Gesetzgebung stärken


Sollen DNA-Profile auch bei


harmlosen Delikten erstellt und


gespeichert werden dürfen? Um


solcheFragen geht es bei der


Revision der Strafprozessordnung.


DANIEL GERNY


An einem Sommertag ertappt die Aar-
gauerPolizei auf frischerTat einen Mann
beimAufbrechen einesAutos. Routine-
mässig erstellt sie ein DNA-Profil und
speichert es in der zentralenDatenbank
ab. Weil eskeine Hinweise auf weitere
Delikte gibt, erwarten die Strafverfol-
ger nicht viel. Doch dann erhalten sie
eine schockierendeTr effermeldung: Die
DNA desAutodiebs entspricht präzise
jener eines unbekannten Sexualtäters,
der wenigeWochen zuvor innert kurzer
Zeit zwei Mädchen zwischen 10 und 13
Jahren vergewaltigt und sexuell genötigt
und dies bei einem dritten Opfer ver-
sucht hat. 18 Jahre liegt derFall zurück.


Nachharmlosem Autodiebstahl


Das Verbrechen beschäftigte damals
die Öffentlichkeit stark – nicht zuletzt
wegen der brutalenVorgehensweise des
Täters: Die Mädchen wurden in einen
Keller verschleppt und «feige, rück-
sichtslos und gefühllos» vergewaltigt,
wie es der Richter im Prozess später for-
mulierte. Zwei der Opfer stecktensich
gar mit einer Krankheit an. Der Mann,
der als stark rückfallgefährdet einge-
schätzt wurde, wurde schliesslich zu 16
Jahren Gefängnis undeinerVerwahrung
verurteilt.Dass es überhaupt zum Straf-
prozesskommenkonnte, ist allerdings
nur der DNA-Untersuchung nach einem
harmlosenAutodiebstahl zu verdanken.
Doch sollen DNA-Profile auch bei
harmlosen Delikten erstellt und gespei-
chert werden dürfen? Die Staatsanwälte
befürworten dies und verweisen auf sol-
cheFälle. Rechtsanwälte warnen da-
gegen vorsogenannten «fishing expe-
ditions»: Planloskönnten DNA-Profile
aus nichtigem Grund erstellt werden, in
dervagen Hoffnung, einenseltenen Zu-
fallstreffer zu landen. Das passe nicht zu
einemRechtsstaat. Mit solchenFragen
muss sich dasParlament demnächst be-
schäftigen. Die Schweizerische Strafpro-
zessordnung wirdrevidiert – eine juris-
tisch hochtechnische Angelegenheit.


Es geht darum, eine möglichst effi-
ziente, aber rechtsstaatlich korrekte
Strafverfolgung zu ermöglichen. Am
Donnerstag befasst sich dieRechts-
kommission des Nationalrats erstmals
damit. Für Strafverteidiger und Staats-
anwälte ist die trockene Materie enorm
wichtig. Es ist deshalbkein Zufall, dass
die Schweizerische Staatsanwälte-Kon-
ferenz (SSK) ihr Sekretariat auf Anfang
Jahr ausgebaut und professionalisiert
hat. Bisher organisierte sich die SSK im
Milizsystem: Die Staatsanwälte in den
Kantonenbefassten sich imTurnus und
eher nebenbei mit gesamtschweizeri-
schen Belangen.
Jetzt leitet FlorianDüblin das Sekreta-
riat – einJurist,der sich zuvor bei derKon-
ferenz der kantonalenJustiz- undPoli-
zeidirektoren (KKJPD) und beim basel-
städtischenJustiz- und Sicherheitsdepar-
tement (JSD) um politische Geschäfte
gekümmert hat.DieRevision der Straf-
prozessordnung (StPO) zeige beispielhaft,

weshalb die SSK mehrPower benötige,
erklärt der Leitende Oberstaatsanwalt
des Kantons Zürich, Beat Oppliger, der
dieKonferenz derzeit präsidiert.Weil das
Straf- und das Strafprozessrecht politisch
stark imFokus stehen, sind die Staats-
anwälte häufiger mitkomplexen undko-
ordinationsintensiven Gesetzesvorhaben
konfrontiert. Um Einfluss auf die Ge-
setzgebung nehmen zukönnen,müssten
Positionen frühzeitig festgelegt und abge-
stimmt werdenkönnen, so Oppliger.
Wenn wichtige Geschäfte von den
Kommissionen und demParlament be-
handelt würden, sei es zentral,rasch auf
die Debatte zureagieren. «Die Staats-
anwälte müssensichauch auf Bundes-
ebene mehr Gehör verschaffenkön-
nen», erklärt Oppliger. DieseForderung
widerspiegelt eine Entwicklung, die seit
Jahren zu beobachten ist:Während bei
der Strafverfolgung früher die einzelnen
Kantone tonangebend waren, spielt die
gesamtschweizerischePerspektiveheute

eine immer grössereRolle. So trat die
StPO, die nunrevidiert wird, erst 2011
in Kraft.Vorher kannte jeder Kanton in
vielen Belangen seine eigenenRegeln.

Ringenum jede Formulierung


Die Kriminalität orientiert sich heute
immer weniger an territorialen Grenzen.
Die Bekämpfung moderner Kriminali-
tätsformen erfordert deshalb auch techni-
sches Spezialwissen und Untersuchungs-
instrumente, die in kleineren Kantonen oft
nur ungenügend vorhanden sind. Gleich-
zeitig ist ein enorm hohesTempo gefragt:
Die Täter passen sichrasant an neue Ent-
wicklungen an undreagieren sofort, wenn
die Strafverfolgungsbehörden aktiv wer-
den.Das erfordert kurzeWege. Auch in
diesem Bereich will die SSK eine stär-
kereRolle spielen. Sie ist zwar nicht ope-
rativ tätig und übernimmtkeineKoor-
dinationsaufgaben in einzelnenFällen.
Doch sie versteht sich als Gremium, das

Plattformen zurVerbesserung der Zusam-
menarbeit– etwa im Bereich Cybercrime


  • weiterentwickelt und gesamtschweizeri-
    sche Empfehlungen erarbeitet.
    Ob sich die Staatsanwälte bei derRevi-
    sion der Strafprozessordnung durchsetzen
    können,istaber noch völlig offen. Ge-
    mäss Bundesgericht darf ein DNA-Pro-
    fil schon heute erstellt werden, um mög-
    liche zukünftige und eventuell bereits be-
    gangene, aber bisher noch nicht bekannte
    Straftaten aufzuklären – und zwar dann,
    wenn eine «gewisseWahrscheinlichkeit»
    bestehe, dass eine beschuldigtePerson in
    andere Delikte verwickelt seinkönnte.
    Die SSK unterstützt dies. GemässVo r-
    schlag des Bundesrates soll ein DNA-Pro-
    fil jedoch nur «aufgrundkonkreter An-
    haltspunkte» erstellt werden dürfen. Straf-
    verteidiger sind dagegen der Meinung,
    auch eine solcheRegelung führe zu weit.
    Doch das ist nicht das einzige An-
    liegen der Staatsanwälte. Sie stört, dass
    Beschuldigte und ihre Anwälte heute
    beiVerfahren mit mehrerenVerdächti-
    gen vom ersten Moment an bei derVer-
    nehmung sämtlicherVerfahrensbeteilig-
    ten anwesend seinkönnen.Bandenmit-
    gliederkönnten ihreAussagen deshalb
    aufeinander abstimmen. Die geltende
    Rechtslage wirkesich somit nicht nur
    negativ auf dieVerurteilungsquote aus,
    sondern sie habe auch zu einer deut-
    lichen Zunahme der Arbeitslast bei-
    getragen. Die künftigeAusgestaltung
    der StPO habe deshalb einen direkten
    Einfluss auf denAufwand der Strafver-
    folger und somit auch auf dieVerfah-
    rensdauer, argumentiert Oppliger.
    Der Bundesrat will dasTeilnahmerecht
    einer beschuldigtenPerson deshalb so
    lange einschränkenkönnen, bis sich diese
    gegenüber den Strafverfolgern selber ge-
    äussert hat. Strafverteidiger befürchten
    allerdings, dass damit dieRechte der Be-
    schuldigten aufKosten der Effizienz dezi-
    miert werden. Sie sehen gar Ansätze zu
    einer Art Geheimjustiz, mit dem Ziel, den
    Druck auf die Beschuldigten zu erhöhen.
    Es sei zwingend, dass die Beschuldigten
    und ihreVerteidiger bei derRekonstruk-
    tion des Sachverhalts von Anfang an da-
    bei seien – weshalb dieTeilnahmerechte in
    der heutigenForm bestehen bleiben müss-
    ten.Für sie ist die Gleichung einfach:Je
    schwächer die Stellung derVerteidigung
    sei, destoeffizienter werde die Arbeit für
    die Ermittler – bloss gehe dies aufKosten
    derRechtsstaatlichkeit.


GemässVorschlag desBundesrates dürfte ein DNA-Profil nur«aufgrund konkreter Anhaltspunkte» erstelltwerden. THOMAS KIENZLE/ AP

Atomstrom fliesst vermehrt ins Ausland


Im Somme r produzieren die AKW Überschüsse, im Winter sind sie unentb ehrlich


HELMUTSTALDER


Der Strommix, den dieKonsumenten in
der Schweiz geliefert bekommen, wird
vonJahr zuJahr grüner, vor allem weil
dieWasserkraft zulegt. Dies geht aus
denneusten Zahlen des Bundesamt
für Energie (BfE) für 20 18 hervor. Der
Anteil des im Inland gelieferten Atom-
stroms hingegen liegt gerade noch bei
17 Prozent. Gleichwohl hatten die fünf
Schweizer AKW 20 18 einen Anteil an
der Produktion von 36 Prozent.


Politik müsse Anreize setzen


Dies bedeutet:Rund die Hälfte des
Stroms aus den Schweizer AKW fliesst
übers ganzeJahr gerechnet in den Export,
wie dasBfEbestätigt.Vor allem im Som-
mer, wenn dieWasserkraft und die Solar-
energie viel Strom liefern, produzieren
dieKernkraftwerke nahezu ausschliess-
lich für den Export. Umgekehrt ist es
imWinterhalbjahr. Dann wird fast die


ge samte Produktion aus den Schweizer
AKW im Inland verbraucht.
Für Felix Nipkow von der atomkriti-
schen Schweizerischen Energiestiftung
(SES) ist dieskeine Überraschung. Die
beiden grossen AKW Leibstadt und
Gösgen produzierten bereits auf der
für den Export geeigneten Spannungs-
ebene und seien auf den internationalen
Markt ausgerichtet. «Für dieVersorgung
brauchen wir die AKW eigentlich nicht»,
sagte Nipkow. Im europäischen Strom-
verbund spiele eskeineRolle, ob sie lie-
fen oder ob man sie abschalte. Was es
für dieVersorgung im Inland hingegen
brauche, sei mehr Solarstrom mit Anla-
gen mit einem hohen Produktionsanteil
imWinter, also einenAusbau vonAnla-
gen im Hochgebirge und senkrecht ste-
hendenPanels, derenAusbeute imWin-
ter hoch sei. DiePolitik müsse entspre-
chende Anreize setzen, dass solche An-
lagen gebaut würden.
Natürlich werde im Sommer Strom
aus Kernkraftwerken exportiert. Im

Winter hingegen sei die Schweiz extrem
importabhängig, sagteTobias Kistner
von der Axpo, welche die AKW Beznau I
und II sowie Anteile am AKW Leibstadt
besitzt. Photovoltaik undWind lieferten
imWinter einen verschwindend kleinen
Teil des Stroms, und auch dieWasserkraft
reiche nicht aus. «Die Schweizkönnte
mit Blick auf dieVersorgungssicher-
heit schlecht aufKernenergie verzich-
ten, solange derAusbau der Erneuer-
baren noch nicht so weit ist», sagte Kist-
ner. Auch die Bezugsrechte für Strom aus
französischenKernkraftwerken kämen
derVersorgungssicherheit zugute, sagte
Kistner. Keine Differenz gebe es mit
BlickaufdenAusbau der neuen erneuer-
baren Energien für denWinter. Auch die
Axporealisiere solche Projekte, wie die
grosse Photovoltaikanlage an der Stau-
mauer des Muttsees – falls der Bund
die wirtschaftlichen Bedingungen dafür
schaffe und mitfinanziere.
Insgesamt wurde der gelieferte
Strommix 20 18 viel grüner, wie aus den

Zahlen des BfE hervorgeht. Der Strom
stammte zu dreiVierteln aus erneuer-
baren Quellen. Zwei Drittel lieferten
Grosswasserkraftwerke,die gegenüber
demVorjahr um 5,5 Prozentpunkte zu-
legten. 8 Prozent stammten aus Photo-
voltaik,Wind, Kleinwasserkraft und
Biomasse, die um 0,65 Prozentpunkte
zulegen.

Kaum CO 2 -las tiger Strom


Deutlich wird der Umbau der Strom-
versorgung auf erneuerbareEnergie im
Mehrjahresvergleich. 2011 machte die
Wasserkraft im Liefermix erst 41 Pro-
zent und die neuen Erneuerbaren erst
2,2 Prozent aus, während dieKernkraft
noch 41,5 Prozent beisteuerte.
Nicht bestätigt hat sich laut BfE,
dass der meiste Importstrom CO 2 -lasti-
ger Strom aus Kohle und Gas ist. Nur 1,
Prozent des gelieferten Stroms stamm-
ten aus fossiler Quelle, undeklariert sind
noch6 Prozent.

So setzt sich
der gelieferte Strom zusammen
Anteile der verschiedenen Energieträger
am Strom, wie erin der Schweiz
aus den Steckdosen kommt, in Prozent

Wasserkraft
Übrige Erneuerbare
Geförderter Strom
Kernenergie
Fossile Energieträger
Abfälle
Unbekannte Energieträger
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