Dienstag, 18. Februar 2020 UNTERNEHMENSPRAXIS 23
Stupsen statt Zwingen
Bei der Klimadebatte geht es unter anderem um die Frage, w elche Mittel er forderlich sind, um Treibhausgasemissionen zu verringern.
Braucht es gesetzliche Regelungen, oder kann die Umweltbelastung auch mit weniger harten Methoden reduziert werden? Reicht es beispielsweise,
wenn man die Menschen mit einem sa nften Stups zu klimaf reundlicheremVerhalten animiert?
Kantinen bekämpfen den Klimawandel
Personalrestau rants haben ihre Gäste mit einem Experiment zu einer CO 2 -ärmeren Ernährung gestupst
Die Ernährung ist in der Schweiz
für rund einenViertel der
CO 2 -Emissionen verantwortlich.
Vor diesem Hintergrund haben
sechsPersonalrestaurants in
Zürich ein Projekt durchgeführt,
das die Gäste zu CO 2 -reduzierten
Mahlzeiten motivieren will.
SERGIO AIOLFI
Weder Zwang noch unbegrenzteFrei-
heit – der Mittelweg heisst Nudging. Das
Konzept des Stupsens, das bei Ökono-
men undPolitikern derzeit grosse Be-
achtung findet, fusst auf der Annahme,
dass man einePerson zu einem vorher-
sehbarenVerhalten animieren kann,
ohne sie mitVerboten in ihren Hand-
lungsoptionen einzuschränken oder
ihre ökonomischen Anreize zu verän-
dern.Auf Nudginggreift man etwa zu-
rück, wenn es darum geht, Individuen
von ihren schlechten Gewohnheiten
abzubringen; mit einem kleinen Stups
bringt man sie dazu, auf ihr schädliches
Tun (rauchen, zu viel essen, wenig bewe-
gen) zu verzichten und sich für einen ge-
sünderen Lebenswandel zu entscheiden.
Weniger Rind, mehrOlivenöl
Dieses Prinzip kam auch in einem Pro-
jekt der Energieforschung Stadt Zürich
zur Anwendung, das im Spätsommer
2017 unter Mitwirkung vonPersonal-
restaurants städtischer Betriebe durch-
geführt wurde. In diesemFall ging es
allerdings nicht nur um dieVerbesse-
rung des persönlichenWohlbefindens,
sondern auch um die Schonung eines
weltumspannenden öffentlichen Guts,
des Klimas. Man wollte herausfinden,
inwieweit es mithilfe von Nudging
möglich ist, Kantinenbesucher zu einer
Essweise anzuregen, deren CO 2 -Bilanz
günstiger ausfällt. –Jetzt, wo die Klima-
diskussion besonders heftig geführt
wird,lohntes sich, diesesFeldexperi-
ment nochmals genauer zu betrachten.
Dabei stellt sich dieFrage, ob die An-
wendung von Erkenntnissen derVerhal-
tensökonomie – wie eben das Stupsen
- im Kampf um dieRettung des Kli-
mas eine Alternative bietet zu Zwangs-
massnahmen via Gesetz.
Die Übungsanlage war wie folgt:
Sechs städtische Personalrestaurants
verpflichteten sich, während einerTest-
zeit von achtWochen ihren Gästen
klimaschonende Mahlzeiten anzubie-
ten.Das bedeutete im Einzelnen, dass
man das Angebot an umweltbelasten-
dem Fleisch beschränkte; es gab weni-
ger Rind, mehr Geflügel. BeimKochen
reduzierte man zudem den Einsatz von
tierischem zugunsten von pflanzlichem
Fett; statt Butter undRahm verwendete
man vermehrt Olivenöl.
Dazu kamen Massnahmen auf der
Nachfrageseite, um dasVerhalten der
Gäste zu ändern. An derThekekonn-
ten sie neu zwischen Menus mit unter-
schiedlicher Klimabelastung wählen.
Nebst dem herkömmlichenTeller (mit
etwasreduziertem CO 2 -Gehalt) gab es
auch ein «Menu plus», das gegenüber
dem gewohnten ein deutlich vorteilhaf-
teres CO 2 -Profil aufwies und auchals
klimafreundlich gekennzeichnet war.
DieRestaurantbetreiber machtenauf
die Neuerungen mittels Plakaten und
Flyern aufmerksam.Auf Massnahmen,
um die Leute direkt zurWahl des Menu
plus zu bewegen, wurde indes verzich-
tet. Man legteWert aufFreiwilligkeit,
nicht zuletzt im Bewusstsein, dass sich
in einem sensiblen Bereich wie dem Es-
sen niemand gerne bevormunden lässt.
Auch gab eskeinen preislichen Anreiz,
das klimafreundliche Essen zu bevor-
zugen; die vorhandene Preisstruktur
wurde beibehalten. Insgesamt blieben
die Massnahmen somit minimalinvasiv.
Spielend zum Ziel
Offen kommuniziert wurde jedoch,
dass das Projekt alsWettbewerb zwi-
schen den sechsPersonalrestaurants an-
gelegt war. Es ging darum, zu ermitteln,
welche Kantine denrelativen CO 2 -Ge-
halt ihrer Mahlzeiten am meisten sen-
kenkonnte. Mit diesemKonkurrenz-
anreiz wurde auch sichergestellt, dass
die Besucherfrequenz auf dem gewohn-
ten Niveau blieb. Das war nicht zuletzt
für den Erfolg desVorhabens entschei-
dend; ein klimafreundliches Menu-An-
gebot allein hätte wenig bewirkt, wäre
die Gästeschar geschrumpft und die
Nachfrage zurückgegangen.
DerWettbewerb warTeil des Gami-
fication-Ansatzes, wie Luca Geisseler,
Partner beiFehrAdvice, es nennt; die Be-
ratungsfirma, die am Projekt mitgewirkt
hat, ist darauf spezialisiert, Erkenntnisse
aus derVerhaltensökonomie in unter-
nehmerischeKonzepte umzusetzen. Die
spielerischeKonkurrenz war dazu be-
stimmt, den Besuch derPersonalrestau-
rants zu «emotionalisieren» und unter
den Gästen einWir-Gefühl zu kreieren.
Dass das tatsächlich funktionierte, be-
stätigtPeterKoller, ChefdesPersonal-
restaurants Lindehöfli der Stadtpolizei
Zürich,einerder sechs teilnehmenden
Kantinen:«Während desWettbewerbs
kamen viele Angestellte speziell, um uns
zu unterstützen, und wählten dann das
Menu plus. Sie wollten, dass wir mög-
lichst gut abschneiden.»
Eine zweite Gamification bestand
aus einem unter den Kantinengästen
durchgeführten Gewinnspiel; nach dem
Kauf des Menu pluskonnten sie ihre
Quittung (versehen mit ihrer E-Mail-
Adresse) in eine Urne werfen und so an
einerAuslosung teilnehmen. Zu gewin-
nen gab es wöchentlich eine Gratismahl-
zeit inklusiveDessert und Kaffee – auch
das ein eher minimalinvasiver Anreiz.
Es funktioniert
Der Erfolg derachtwöchigen Aktion
war beeindruckend. Sie stiessbei den
Besuchern auf hohe Akzeptanz (70%
beurteilten dasProjektin einer Um-
fragealsgutbis sehrgut),und der
CO 2 -Ausstosssank verglichen mit der
Zeit vor demWettbewerb imDurch-
schnitt um19%. Gewinner war das
Personalrestaurant der Elektrizitäts-
werkeZürich, das ein Minus von 42%
erreichte. Das Menu plus erfreute sich
hoherPopularität und war nach der
Darstellung von KantinenchefKoller
nur an jenenTagen weniger gefragt,
an denen als Alternative Schnitzel und
Pommes frites oder Cordon bleu ange-
boten wurden. Gegen solcheVerlockun-
gen war selbst mit den besten Klima-
schutzargumenten nichts auszurichten.
Der Erfolg des Projekts stelltkeine
Überraschung dar und entspricht dem,
was empirische Untersuchung andern-
orts bereits ermittelt haben. So zeigt
eine Metastudie, die 20 16 im«British
Journal of Nutrition» publiziert wurde,
dass im Bereich derAusserhausverpfle-
gung Nudging-Methoden – etwa die An-
ordnung von Menus, so dass gesündere
Gerichte prominenter platziert sind als
weniger gesunde – dieWahl derKonsu-
menten beeinflussenkönnen. NachDar-
stellung der Studienautoren ist aller-
dings nicht nachgewiesen, dass es mit
Stupsengelingt, den Lebensstil derKon-
sumenten nachhaltig zu ändern. Bezieht
man das auf das Zürcher Projekt, stellt
sich dieFrage, ob ein achtWochen dau-
erndesExperiment mit Nudging-Metho-
den einen Beitrag zur dauerhaften Sen-
kung des CO 2 -Ausstosses leisten kann.
Eine erste Antwort lieferten die Be-
treiber des Experiments selber. Sieben
Monate nach Endedes Wettbewerbs
nahmen sie eine Nachmessung vor und
stellten fest, dass der CO 2 -Gehalt der
verkauften Menus zwar noch immer
unter demVor-Wettbewerbs-Niveau lag.
Das Minus betrug aber nur noch 9%,
hatte sich gegenüber derTestphase also
halbiert. Man kann das als Erfolg wer-
ten, da die klimaschonenden Mahlzei-
ten auch ohne stützende Massnahmen
immer noch Anklang fanden. Die opti-
mistische Annahme wäre, dass es gelun-
gen ist, dieKunden mit minimalemAuf-
wand an eine klimafreundlichere Ernäh-
rungsweise zu gewöhnen.
Wie dauerhaft ist der Effekt?
ObdieAnnahme auchfürdie längere
Frist gilt, ist aber ungewiss, da man nicht
weiss, wie sich die CO 2 -Bilanz der Kanti-
nen heute präsentiert; nach 20 18 gab es
keine Nachmessung mehr. Denkbar ist
somit, dass die CO 2 -Einsparwerte wei-
ter gesunken sind. Zur völligen Elimi-
nierung des Effekts dürfte es dennoch
nicht gekommen sein.Wie PeterKol-
ler erklärt, ist das einstrestriktive Rind-
fleischregime inzwischen zwar gelockert
worden; aber gekocht wird immer noch
mit mehr Olivenöl und weniger Butter
undRahm als zuvor, und das Menu plus
hat sich als Standard etabliert.
Zur Gesamtbeurteilung des Projekts
wäre auch zu klären, ob es das Essver-
halten der Kantinenbesucher im Priva-
ten beeinflusst hat. Gästebefragungen,
die von den Projektveranstaltern (nicht
systematisch) durchgeführt wurden, er-
gaben, dass sowohl die positiven wie
auch die negativen externen Effekte ge-
ring waren:Das Essen zu Hause wurde
alsFolge desWettbewerbs nicht klima-
schonender zubereitet. Und umgekehrt
liess sich auch nicht feststellen, dass die
Gäste den Fleischverzicht beim Mittag-
essen mit einem übermässigen Fleisch-
verzehr beim privaten Abendessen
kompensiert hätten. – Unter dem Strich
könnte man also annehmen, dass das
Zürcher Projekt zu einer CO 2 -Reduk-
tion geführt hat, die langfristig je-
doch bescheiden ausgefallen ist. Hoch-
gerechnet auf die vielen Kantinen in der
Schweiz liesse sich dennoch ein spürba-
rer Effekt erzielen.
Um klimaschonende Mahlzeiten anzubieten,werden vermehrt pflanzliche statt tierische Produkte verwendet. CHRISTIAN BEUTLER / KEYSTONE
ZAHL ZUM THEMA
28%
Nach den Angabendes Bundesamts
für Umwelt gehenin derSchweiz
28% derTreibhausgasemissionen
auf das Konto der Ernährung.Damit
figurieren die Essgewohnheiten noch
vor demWohnen(24%) undder
Mobilität (12%).Als r elativ klima-
belastendgilt Fleisch; diePro duktion
von 50 kg Fleisch, derMenge,die
hierzulande dem durchschnittlichen
Konsumpro Kopf undJahrent-
spricht, hatden Ausstossvon
500 kgCO 2 zur Folge.
«Wir sind in
einem Dilemma»
Irgendwie wird immer gestupst
Herr Netzer, Kantinenwollen mit Nud-
ging zu klimafreundlicher Ernährung
anregen. Ist das eine gute Idee?
Durch die Präsentation der Menus kann
dasVerhalten beeinflusst werden. Beim
Klima sollte man aber direkter eingrei-
fen. Hier geht es um Externalitäten: Die
Leute essen Fleisch, das führt zu CO 2 -
Ausstoss, Klimawandel und öffentlichen
Kosten.Das ist ein Marktversagen und
rechtfertigt Staatseingriffe, etwa über
Lenkungssteuern.
Nudging reicht also nicht.
Nein, Nudging verzichtet auf Zwang,
man kann jederzeit ausweichen.Das ist
gut, wenn Nudging paternalistisch be-
gründet wird, wenn man also die Men-
schen zu einemVerhalten anstossen
will, das besseristfür derenWohlerge-
hen. Doch beim Klima geht es um ein
öffentliches Gut, nicht um persönliches
Wohlergehen. Ich sehe nichtein, warum
man hier nur sanftstupsen soll und jede
Person weiterhin frei entscheiden darf,
ob sie die Umwelt belasten will.
Wenige Monate nach dem Kantinen-
Experiment liess der Effekt starknach.
Die Leutekehrten zurück zu eher klima-
schädlichen Menus. Überrascht?
Es überrascht nicht, dass der Effekt mit
der Zeit abnimmt oder verschwindet.
VieleVerhaltensänderungen aufgrund
von Nudging sind nicht so stabil, wie das
dargestellt wird. Oftkommt es auch zu
Kompensationen. Eskönnte also sein,
dass die Leute mittags in der Kantine
weniger Fleisch, abends zu Hause aber
mehr davonessen.
Kann man Leute mit Nudging zu Ent-
scheiden in deren Interesse bringen?
Das ist eineFrage des Menschenbildes.
Brauchen die Menschen solche An-
stösse? Machen sie sonstFehler?Da
gibt eskeine einfache Antwort. Man
müsste die Bedürfnisse jederPerson
kennen, um zu wissen, ob das Nudging in
ihrem Interesse ist. Doch wie findet man
Bedürfnisse heraus? Anhandkonkreter
Entscheidungen. Doch weil diese Ent-
scheidungen manipulierbar sind, etwa
über Nudging, kann man das nicht ohne
weiteres. Wir sind in einem Dilemma.
Wieso Dilemma?
Weil eskein Nicht-Nudging gibt. In der
Kantine muss das Essen irgendwie prä-
sentiert werden. Entweder der Salat
vorne oder das Steak vorne. Das beein-
flusst dasVerhalten.Auch wenn man
Nudging kritisch beurteilt, darauf ver-
zichten kann man nicht. Irgendwie muss
ein Standard gesetzt werden. Man stupst
immer in eine Richtung.
Wieso ist der Standardso wichtig?
Leute wissen oft nicht, was richtig ist.
Also glauben sie, dass jener, der den
Standard definiert, mehr weiss, und sie
nehmen das alsRatschlag. Zudem ver-
ursacht esKosten, wenn man aktiv eine
andere Entscheidung treffen will.Wer
etwa in der Schweiz seine Organe spen-
denwill,muss seine Zustimmung schrift-
lich abgeben, weil man standardmässig
davon ausgeht, dass die Menschenkeine
Organe spenden wollen.Ferner denken
viele Leute nicht gerne über bestimmte
Entscheidungen nach. Also macht man
das, was als Default definiert ist.
Interview:ThomasFuster, Sergio Aiolfi
Nick Netzer
Verhaltensökonom an
PD der Universität Zürich