36 FEUILLETON Dienstag, 18. Februar 2020
Lieber Vielfalt
als Inhalt
Eine Initiative an der Berkeley-
Universität fordert Diversität
MARC NEUMANN,WASHINGTON
Ein sogenannter Rubric, ein Bewer-
tungsschema, sorgt derzeit in akade-
mischen Kreisen derVereinigten Staa-
ten fürroteKöpfe. DerRubric ist zen-
tralerTeil der «Initiative zur Erhöhung
von Diversität, Gerechtigkeit und Inklu-
sion unterFakultätsmitgliedern». Diese
wurdevergangenesFrühjahr ander Uni-
versität Berkeley in Kalifornien lanciert.
Das tönt zunächst einmal harm-
los. Für Unis ist eineVielfalt von wis-
senschaftlichen Standpunkten, gewon-
nen aus einerVielzahl kulturellerPer-
spektiven, grundsätzlich wünschenswert,
meint man.
Bei genauerer Betrachtung des un-
längst erschienenen Erfahrungsberichts
beginnen indes dieKöpfe zurauchen.
Denn erstensbedeutet Diversität von
Menschen bezüglich Hautfarbe,Her-
kunft oder sexueller Orientierung nicht
unbedingt Vielfalt der Perspektiven.
Und zweitens wird Diversität schlicht
zum entscheidenden Kriterium bei der
Anstellung.
Das neue Dogma
Dabei geht es nicht um obligatorische,
unterschriebene Bekenntnisse zu Diver-
sität undToleranz. Diese – wie Sensibi-
litätstrainingszum Umgang mitThe-
men wieRasse, Geschlecht oder sexu-
eller Belästigung – sind an amerikani-
schen Unis gang und gäbe.
Neu kam bei der Bewertung der
Qualifikationen von Kandidaten für
akademischeJobs ein dreiteiligesVe r-
fahren zum Einsatz. In besagtem Be-
wertungsschema mussten Bewerber ihre
Diversitätskenntnisse, ihre Erfahrung in
derFörderung von Diversität undkon-
kret ergriffene Massnahmen dazu bele-
gen. Versäumten Kandidaten, dieFörde-
rung vonRassen- und Gender-Diversi-
tät explizitzuerwähnen, oder äusserten
sie Kritik an der forcierten Diversitäts-
erhöhung, gab es Punktabzüge – ohne
ihrWissen.
Das Resultat: Durch das Diversitäts-
sieb schrumpfte der Kandidatenpool für
eine Life-Sciences-Professur von 89 4
auf 214.Waren anfänglich drei von fünf
Kandidaten weiss und männlich, stellten
sie zum Schluss eine Minderheit dar. Be-
werber mit latein- oder afroamerikani-
schem Hintergrund erhöhten ihrenrela-
tiven Anteil um denFaktor drei bis vier
- AffirmativeAction in Aktion.For-
schungsleistung wird dabei allerdings
zur Nebensache.
Das zog bald Kritik nach sich. Im
«Wall StreetJournal» wies Professorin
AbigailThompson darauf hin, dass die
Diversitätsinitiative den Statuten der
UniversityofCalifornia zuwiderlaufe.
«Kein politischerTest darf bei der Be-
rufung oder Beförderung vonFakultäts-
mitgliedern oder Universitätsangestell-
ten in Betracht gezogen werden», heisst
es da.Auch andereKommentatoren er-
achteten den Diversitäts-Rubric als poli-
tischen Gesinnungstest und nannten
die Initiative einen neuen «McCarthy-
ismus». Joseph McCarthy war ein Sena-
tor, der in den1950erJahrenTausende
von US-Bürgern als mutmasslicheKom-
munisten strafrechtlich verfolgte.
Kein Sensoriumfür Talent
Pointiertere Kritik kam vonDaniel
Ortner von derPacific LegalFounda-
tion. Wenn die wichtigste Qualifika-
tion für eine akademische Anstellung
dieFörderung von Diversität, Gleich-
heit und Inklusion sei, laufe dieWissen-
schaft Gefahr, dass ihr der nächste Al-
bert Einstein durch dieLappen gehe.
Stimmt.
Die Diversitätsförderung gefähr-
det dieForschungsqualität insgesamt.
Gegenüber dem Magazin«T he College
Fix» sagte Ortner, dass er die Praxis für
di skriminierend und verfassungswidrig
halte und eine Klage in Betracht ziehe.
Insofernkönnte die Diversitätsförde-
rung für Berkeley und die University of
California nicht nur den wissenschaft-
lichenTalentpool trockenlegen, sondern
auchkostspielig werden.
Öderlands Axt trifft in Basel
Stefan Bachmann rehabilitiert Max Frischs Stück mit blutigem Spass
DANIELE MUSCIONICO,BASEL
Was ist das denn eigentlich, kaum hat
man Zürich imRückspiegel? Es sind
bisBasel nicht einmal hundertAuto-
bahnkilometer, dieStaumeldung opti-
mistisch ignoriert, docham Ziel ange-
langt weiss man, was Klimawandel auch
sein kann: Es ist der gefühlteTempera-
turanstieg, den man imTheaterBasel
erlebt.Wenn es um Begeisterungsfähig-
keit fürKunst geht, scheint die Stim-
mung am Rhein wärmer und warm-
herziger, als man sie gemeinhin erlebt.
Unverhohlene Neugierde herrscht
allenthalben, das Haus scheint für sein
Publikum auch eine Art Zuhause zu
sein – an der Premiere einer Inszenie-
rung von StefanBachmann ist das aller-
dingskeine Überraschung. Der Zür-
cherBachmann,seit 2013 Intendant
am SchauspielKöln, hat seine ersten
Schritte in der Institution Stadtthea-
ter hierabsolviert. Alser1998 in sein
Amt gewählt wurde, durfte er von sich
behaupten, mit zarten 32Jahren der
jüngste Schauspieldirektor in der Ge-
schichte des Hauses zu sein. AlsSym-
pathiebonus funktionierte die Ansage
allerdings nicht lange.
Ein Theater der Offenheit
Erfahren in der freien Szene, fegte er
kurzerhandetliche Stadttheater-Tabus
im Umgang mit Hierarchie auf die
Strasse. Diese künstlerischeRemedur
nahm ihm die Stadt denn auch bald
übel. Ein offenes Haus war dasThea-
terBasel zwar nun plötzlich, doch das
Stammpublikum fühlte sich bisweilen
unbehaust. Dies änderte sich nach einer
mehr oder weniger kurzen Anwärm-
phase; man begann Saison um Saison
mehr wertzuschätzen, was man auf der
Bühne an unbekanntemFormenreper-
toire zu sehen bekam.
Auch weiter nördlich am Rhein,in
Köln, woBachmannsVertrag kürzlich
bis 2023 verlängert wurde, trieb und
treibt derregieführende Intendant die
Öffnung der Institution voran. 202 3
soll die Bühne am Offenbachplatz, in
der Stadtmitte, endlich saniert sein, bis
dahin bespielt dasTheater eine Inte-
rimsspielstätte im Carlswerkrechts des
Rheins – im übel beleumundetenTeil
der Stadt. Doch der Publikumserfolg so-
wie die nachbarschaftliche Akzeptanz
der türkischen Szene sind derart gross,
dass man mitFug von einerKölner Er-
folgsgeschichtereden kann.DassBach-
mann die Stückebisweilen auch in tür-
kischer Sprache übertiteln lässt, ist nur
einevon vielenrespektvollen Gesten.
Als letzteKölnerTat hin zu einem
offenenTheaterbegriffgelang es ihm,
denTanz innerhalb der Sparte Schau-
spiel zu stärken. Ermöglicht hat dies
eineFinanzspritze desLandes in der
Höhevon fast einer Million Euro; der
kulturpolitische Entscheid kann auch
als Anerkennung undTr euebonus an
den Intendanten verstanden werden:
Der internationalrenommierte Cho-
reograf Richard Siegal wird mit seiner
Kompanie ein festes Ensemble inner-
halb des Hauses aufbauen.
Max Frisch fürdie Zukunft
Für das Denken jenseits von Sparten-
grenzen istBachmann bekannt, natür-
lich auch inBasel. Dort herrscht, und
der jüngste Premierenabend zeigte es,
bis heute eine Art Mythos um ihn,ein
Gerüchlein desRevoluzzers, das ihn
umgibt.
Er war ja damals nicht nur der
jüngste Schauspieldirektor, erwar auch
jugendlich unbekümmert und stellte
das Haus von denFüssen auf denKopf.
Doch einerlei, welches Stück sich der
Regisseur vornimmt,stets liefert er
kluge Unterhaltung und stilsichere
Konzepte gleichermassen.
Und just diese Punktesindauch die
Stärken des «Grafen Öderland» von
MaxFrisch. Die Inszenierung ist eine
Koproduktion mit demResidenzthea-
ter München und bildet imJuli den
Abschluss von Andreas Becks erster
Münchner Spielzeit.
Und München darf sich freuen, es
wird ausBasel mit einer Überraschung
beschenkt. «Graf Öderland»(in der
Titelrolle ein irritierend irritierter
Thiemo Strutzenberger) ist die Ge-
schichte um einen Schweizer Staats-
anwalt, der mit der Axt in derHand
durch dasLandgeht und wahllos–
und scheinbar unmotiviert, frei von
jeder Ideologie – mordet.Öderland
nämlich will seinem durchorganisier-
ten, sinnfreien Alltag entrinnen. Diese
Suchbewegung nun beschreibtRegis-
seurBachmann frei von jeder zeitkriti-
schen Anzüglichkeit.
Der Premierenapplaus war schier
endlos, derJubel in denRängen laut.
Doch was tat er, dem die Begeisterung
als Erstes galt? StefanBachmann be-
schwichtigte bescheiden und dankte
dem Publikum mit einemLächeln in
den Mundwinkeln. Die grosse Menge
an Applausreichte er weiter an die Be-
teiligten. Olaf Altmann vor allem, ihm
gebührte die Begeisterung, der Dresd-
ner ist der Bühnenbildner der Stunde.
Altmann hat für MaxFrischs mär-
chenhafte Moritat in zwölf Bildern eine
riesigeRaumskulptur entworfen. Es ist
einTr aumtrichter, in den die winzigen
Menschlein durch eine kleine Öffnung
stürzen und haltlos in dieTiefe fallen.
Dem Publikum kullern sie direkt vor
dieFüsse. In diesemKunstraum wird
jede noch so kleine Geste, präzise ge-
setzt, in ihrerWirkung überdimen-
sional. Und wie artistisch und sportiv
dem Ensemble dasTasten undTappen,
das Suchen nach Halt und Haltung im
freienFall glückt!
HarteLandung
Doch AltmannsRaum ist böse; hier
können Menschen nur böse sein oder
es werden. DerTr ichter und seine halb-
rundenWändesindauch ein kritisches
Bild für die Glätte des Gesellschafts-
parketts. Das Personal, die «Herren der
Lage», ob Staatsanwalt oderPolizei, ob
treue oder untreue Ehefrau, obRevo-
luzzer oder Mitläufer, oben an derTr ich-
termündung noch manierlich inPositur,
sie enden unten allesamt als lächerliche
Figuren – hart auf dem Boden und auf
ihrem Hintern, pardauz.
Das alles ist grossesTheater, gross
in seinerWirkung und gross imVe r-
zicht auf jedwede Mittel, die nicht der
Mensch und seinKörper sind; die blu-
tigen Eingeweide eingeschlossen, die
«Öderlands» Opfern als Schlachtplatte
aus demBauchraum quellen.
Bachmanns formal starke Inszenie-
rung ist gleichsam einWendepunkt in
derRezeption des ungeliebten Stücks,
dem seit seiner Uraufführungam Zür-
cher Schauspielhaus1952 der Erfolg
versagt blieb. DieBasler Lesart und
ihr effekt- und stilsicherer Zugriff ma-
chen es fürkommende Generationen
wieder spielbar. Denn hier wird nicht
eine nationale Befindlichkeit –Frischs
Schweiz-Kritik, zum Beispiel –verhan-
delt, sondern dasWesen von Existenz
überhaupt.
Rammstein bei den Kanalratten
Bachmanns Graf ist weder ein aktuel-
lerTyrann, und seine Gefolgschaft sind
nicht Mitglieder derPegida, noch kämp-
fen sie für den IS. DieRegie spielt mit
filmischen Zitaten,kennt etwa seinen
«Dritten Mann» und dessen Unterwelt
der Kanalisation; sie bedient sich auch
einerVorlage vonFrisch aus dem epi-
schenTheater, des Stücks «Unaufhaltsa-
merAufstieg des Arturo Ui» von Brecht.
WennBachmann zu einem späte-
ren Zeitpunkt des Stücks den Anhän-
gern des «Öderland», den Kanalratten,
Musik vonRammstein vorspielt, ist das
zwar nicht zwingend, doch anschaulich
und anspielungsreich.
SeineParabel nämlich erzählt die
Entwicklung vom Menschen zum
Monster, die zwischen denTextzeilen
liegt. Dass zwischen Monster und
Mensch nur dieFirnis der Zivilisation
liegt, macht Strutzenbergers durchlässi-
ger Graf schmerzhaft bewusst:Bach-
mann verfolgt die Karriere eines unbe-
scholtenen Bürgers zumTyrannen wi-
derWillen. Die Masse hat auf einen wie
ihn gewartet, auf ihren märchenhaften
Messias, Rächer oder ebenPolitiker für
ihre Sache.
Mit diesem «Öderland» erlebt die
Saison inBasel ein ganz besonderes
Glück. Dieses Glück wird dieWelt zwar
nichtretten, es kann aber anderes: Es
rettet dieKunst und die Literatur.
Der Staatsanwalt(Thiemo Strutzenberger)haut sic h am TheaterBasel die Ordnung eigenhändig zurecht. BIRGIT HUPFELD