Süddeutsche Zeitung - 19.03.2020

(Nancy Kaufman) #1
Obwohl zwischen Literatur undsocial dis-
tancingtraditionell ein besonderer Zusam-
menhang besteht, bringt die Corona-Pan-
demie auch die Literaturbranche in exis-
tenzielle Schwierigkeiten. Betroffen sind
Verlage, Autoren, Buchhandlungen, Litera-
turhäuser, Festivalveranstalter. Am härtes-
ten trifft es die Vertriebsinfrastruktur: Die
Buchhandlungen sind weitestgehend ge-
schlossen, und bei Amazon ist die Nachfra-
ge nach Lebensmitteln und Toilettenpa-
pier so groß, dass Bücher von der wichtigs-
ten Warenkategorie in die zweitwichtigste
hinabgestuft wurden, was sowohl die
Verfügbarkeit der Bücher mindert als auch
dieAuslieferungszeiten verlängert. Damit
sind die beiden wichtigsten Vertriebskanä-
le für Bücher entweder komplett ver-
schwunden oder zumindest eingeschränkt.
Die Verlage schieben Titel auf, die im April
erscheinen sollten, um das Risiko zu
vermeiden, dass ihre Bücher vor den
Türen geschlossener Buchhandlungen
vermodern.
Welchen Anteil Lesungen und Podien in
der Mischkalkulation eines literarischen
Autors haben, hängt indes nicht nur von
den Verkaufszahlen ab, sondern ist auch
stark saisonal bedingt. Am heftigsten trifft
es Autoren, die in diesen Tagen ein Buch
veröffentlichen und eigentlich eine Leserei-
se hätten antreten sollen. Ihnen fallen
nicht nur die Verkäufe weg, sondern auch
die Lesungshonorare und die Aufmerksam-
keit, die sich aus diesen Lesungen ergeben
und wiederum weitere Verkäufe nach sich
gezogen hätte. Schriftsteller, die in dieser
Saison keinen neuen Roman veröffentlicht
haben, kommen glimpflicher davon: Ohne
neues Buch gibt es in der Regel auch weni-
ger Lesungen, weshalb der Ausfall sämtli-
cher Lesungen in diesem Frühling insge-
samt die Veranstalter in größere Schwierig-

keiten bringt als den durchschnittlichen
Schriftsteller.
Ein Großteil der Lesungen, Festivals und
Podien findet in Literaturhäusern statt, die
nur zum Teil staatlich finanziert werden,
oder in unabhängigen Buchhandlungen,
die in der Regel gar keine staatliche Hilfe er-
halten. Dort sieht man in diesen Tagen

gleich mehreren Einkommensquellen
beim Verschwinden zu: Die Eintrittsgelder
für Lesungen und Festivals fallen genauso
weg wie die Mieteinnahmen für externe
Veranstaltungen und die Erlöse durch den
Buchverkauf. Einige Buchhandlungen wis-

sen schon jetzt, dass sie ohne staatliche
Hilfe nicht einmal die nächsten vier Wo-
chen überleben werden. Sollten ihre Ge-
schäfte gar bis August geschlossen bleiben,
steht mit einiger Wahrscheinlichkeit eine
landesweite Schließungswelle bevor.
Damit würde genau jene Infrastruktur
verschwinden, die Autoren auch dann eine
gewisse Plattform bietet, wenn das nächs-
te kommerziell erfolgreiche Buch gerade
nicht in Sicht ist. Vor allem Autoren, die
nicht alle zwei Jahre einen Weltbestseller
veröffentlichen, sind auf das engagierte
Netzwerk aus kleinen Buchhandlungen,
Literaturhäusern, Festivals dringend ange-
wiesen. Für diese Autoren, zu denen im
Regelfall auch die kommenden Büchner-
und Nobelpreisträger zählen, gilt: Wenn
auf einmal eine gesamte Saison ausfällt,
könnte es der eigenen Autorenkarriere im
schlimmsten Fall genauso gehen.
Aber selbst wenn alle unabhängigen Au-
toren die kommenden Monate überstehen
sollten, droht eine systemische Verände-
rung: Die großen Buchhandelsketten könn-
ten die insolventen unabhängigen Buchlä-
den ohne größere Widerstände schlucken,
ihre Vertriebsmacht gegenüber den Verla-
gen auf diese Weise weiter stärken, deren
Margen weiter drücken und es damit noch
unwahrscheinlicher machen, dass diese in
Literatur investieren, die sich nicht unmit-
telbar rechnet. Der eigentliche Schaden
entstünde langfristig. Diese Entwicklung
gibt es in der Branche ohnehin, doch die
Pandemie könnte hier wie ein Brandbe-
schleuniger wirken. Während unabhängi-
ge Buchhandlungen also um ihre Existenz
kämpfen, blühen bei Amazon die Geschäf-
te. Der amerikanische Konzern hat soeben
100000 Stellen ausgeschrieben, um der
coronabedingten Nachfrage gerecht zu
werden. felix stephan

Tonia Merz hat einen Korsettladen auf der
Torstraße in Berlin. Aber so eng kann man
nicht mal einen Gürtel schnallen, dass die
jetzige Zwangsschließung länger zu über-
leben wäre. Für Rücklagen reicht das
Geschäft mit verführerischen Körper-
formern doch nicht. Und als die tempera-
mentvolle Berlinerin dann eine Senats-
mitteilung las, sie dürfe einen Kredit bean-
tragen, platzte ihr der Kragen (vielleicht
war es auch das Korsett). Jedenfalls plat-
zierte Tonia Merz auf dem Petitionsportal
Change.org eine Forderung nach einem
sofortigen bedingungslosen Grundein-
kommen von 1200 Euro für jeden für sechs
Monate, die blitzschnell die 200000-Un-
terschriften-Grenze überschritt.


Zwar sprach Merz zunächst für die „un-
zähligen Selbstständigen, Kreativen, Musi-
ker, Künstler, Veranstalter und Überlebens-
künstler“, für die Berlin und die dortige
Torstraße berühmt sind. Aber zu den Ver-
wundbarsten des Zwangsstillstands gehö-
ren viel mehr. „Natürlich braucht auch die
Fußpflegerin, die nicht mehr ins Alters-
heim kann, sofort eine gesicherte Unter-
stützung“, sagt Merz. Mit einer Privatver-
schuldung, selbst zinslos, ist auch der
nicht geholfen.
Deswegen schließt Tonia Merz’ Petition
mit dem Satz: „Eine bessere Möglichkeit,
das Konzept Grundeinkommen zu testen,
gibt es nicht.“ Die seit Jahrzehnten disku-
tierte (und ausgerechnet von Richard Ni-
xon fast einmal umgesetzte) Maßnahme
des bedingungslosen Grundeinkommens
ersetzt die erniedrigende, langsame und


extrem teure Bürokratie des Sozialstaates
durch eine Überweisung an jedermann,
über die keiner Rechenschaft ablegen
muss. Denn, wie Rutger Bregman, der
wichtigste Vordenker zum Grundeinkom-
men, es in seinem Buch „Utopien für Realis-
ten“ schreibt: „Der Sozialstaat, der den
Menschen Sicherheit und Selbstwert ver-
mitteln soll, ist zu einem System von Miss-
trauen und Scham geworden.“
Und genau das erleben die Menschen in
dieser unverschuldeten Notsituation, trotz
guten Willens in der Politik. So erklärt Cars-
ten Brosda, der Hamburger Kultursenator,
der sich sofort engagiert auch für die Belan-
ge der freien Künstler eingesetzt hat, das
Grundeinkommen für aktuell nicht an-
wendbar. „Für eine solche Maßnahme
müssten wir eine völlig neue Infrastruktur
aufbauen. Aber gerade die freien Künstle-
rinnen und Künstler brauchen Hilfe sofort.
Deswegen benötigen wir jetzt die bestehen-
den Instrumente des Sozialstaates.“ Spezi-
ell das Verfahren der „Grundsicherung für
Selbständige“ könne hier wirksam sein,
erklärt Brosda.
Allerdings zeigt ein Blick auf die Website
der Jobagenturen, wo die Grundsicherung
erklärt wird, das Gegenteil von schneller
und unbürokratischer Hilfe. Zwar gibt es
Bemühungen auf Bundesebene, die Grund-
sicherung für Miete und Lebenshaltungs-
kosten bald ohne Vermögensnachweise
und andere zu erbringende Dokumente
auszuzahlen. Aber vermutlich wird dieses
System unter dem ansteigenden Existenz-
druck von mehr als vier Millionen Selb-
ständigen schnell seine Dysfunktionalität
unter Beweis stellen. Vielleicht platzt dann
die Idee für ein bedingungsloses Grundein-
kommen als neue Form produktiver Wohl-
fahrt endlich aus dem Korsett staatlicher
Bedenken. till briegleb

Corona-KriseFreischaffende Musiker stehen vor dem Ruin, und Autoren verlieren wichtige Einnahmen, weil Lesungen ausfallen


Wann, wenn nicht jetzt


Testfall für das bedingungslose Grundeinkommen?


Seit dem Niedergang des Tonträgerver-
kaufs ist das Geschäft mit der Popmusik
vor allem ein Live-Geschäft. Um von ihrer
Kunst leben zu können, sind also die meis-
ten Popmusiker darauf angewiesen, uner-
müdlich Konzerte zu spielen. Wenn Auftrit-
te abgesagt werden, steht für viele schnell
ihre Existenz auf dem Spiel.
Nicht untypisch für die derzeitige Lage
von Popmusikern ist das Schicksal der
R&B-Sängerin Kaina aus Chicago. Jüngst
gefeiert für ihr Debütalbum „Next To The
Sun“ sollte ihr Auftritt beim renommier-
ten Festival South by Southwest in Texas
der vorläufige Höhepunkt ihrer Karriere
werden. Das Festival wurde aber abgesagt,
und Kaina musste – noch bevor die Veran-
stalter wegen Corona-Auflagen die Gigs
von sich aus cancelten – auch die zehn an-
deren Konzerte ihrer Tour absagen. „Es ist
hart, ein Indie-Künstler zu sein“, schreibt
sie auf Instagram. Schon wenn ein einzi-
ger, gut bezahlter Festivalauftritt ausfällt,
kann das eine gesamte Kalkulation zum
Einsturz bringen.
Der Berliner Techno-Star Hendrik We-
ber alias Pantha Du Prince ist im Vergleich
dazu in einer komfortableren Situation.
Die Tour zu seinem neuen Album „Confe-
rence Of Trees“ startete am 7. und 8. März
in Bern und Wien. Einen Tag später in
Ljubljana – die Band hatte bereits alles auf-
gebaut – wurden von den slowenischen Be-
hörden Veranstaltungen mit über 100 Besu-
chern verboten. „Wir sind hier, es läuft so-
gar eine Sendung über uns im Fernsehen,
aber wir können nicht auftreten wegen hö-
herer Gewalt“, schrieb er auf Instagram.
Seine Booker haben – wie viele Agenturen
derzeit – in Rekordzeit und mit dem Mut
der Verzweiflung neue Termine verein-
bart: Am 29. Mai soll die Tour in Athen neu
starten und am 4. November in der Berli-
ner Volksbühne enden.
Was allerdings in der Diskussion dar-
um, wie es nun den Popkünstlern ergeht,
oft vergessen wird, sind all die Helfer, die
im Schatten des Rampenlichts stehen:
Ton- und Lichttechniker, Roadies, Tour-
Begleiter, Fanartikel-Verkäufer. Sie alle
sind jedoch meist ebenso Freiberufler, und
für sie alle gibt es kein Homeoffice. Entwe-
der sind sie auf Tour – oder arbeitslos. Wäh-
rend die, die sie normalerweise engagie-
ren, weiter Songs schreiben, Alben aufneh-
men und die Fans mit Livestreams von
Wohnzimmerkonzerten bei Laune halten
können, haben sie ohne deren Auftritte,
ohne Reisen und Publikum vorerst über-
haupt keine Arbeit mehr. crab, jke

Draußen vor der Tür


Ohne staatliche Hilfe steht in der Literaturbranche eine Schließungswelle bevor


von michael stallknecht

M


usik, sagt man, komme aus der
Stille. Doch wenn auf die Stille kei-
ne Musik mehr folgt, dann kann
sie zur Belastung werden. Gerade auch für
die, die mit ihrem Klang, mit ihrer Stimme
die Stille zu füllen gewohnt sind. „Einfach
leer“ sagt der Sänger Michael Volle, fühle
er sich im Moment an manchen Tagen, wie
heruntergefahren „von hundert auf null“.
Den Bariton hat das Coronavirus mit vol-
ler Wucht getroffen, auch wenn er selbst ge-
sund geblieben ist. Er probte gerade an der
Mailänder Scala für Richard Strauss’ „Salo-
me“, als dort zwei Mitarbeiter positiv getes-
tet wurden. Zurück in seinem Haus in Bran-
denburg, musste er mit seiner ganzen Fa-
milie in Quarantäne, geplante Auftritte in
der Zeit fielen aus. Dann kamen sukzessive
die Absagen von all den anderen großen
Häusern in der Welt, wo Michael Volle übli-
cherweise singt. Seitdem weiß er nicht
mehr, wie es weitergeht. Zwanzig bis fünf-
undzwanzig Prozent seines üblichen Jah-
reseinkommens habe er bereits jetzt verlo-
ren, sagt Volle.
Man könnte meinen, dass es dem promi-
nenten und damit auch sehr gut bezahlten
Sänger noch relativ gut gehe, auch wenn
mal ein paar Wochen lang die Honorare
ausbleiben. Auch er selbst hält sich für „im-
mer noch privilegiert“. Doch Volle muss
das Haus abbezahlen, hat zwei Kinder, für
die er eine Kinderfrau finanzieren muss,
weil seine Ehefrau, die Sopranistin Gabrie-
la Scherer, auch Sängerin ist – und jetzt
ebenfalls nichts mehr verdient. Inzwi-
schen habe er bereits wohlhabende Freun-
de um Geld bitten müssen, sagt er, sämtli-
che seiner üblichen Spenden habe er gestri-
chen, immerhin habe sich die Bank kulant
gezeigt. Denn Rücklagen hätten er und sei-
ne Frau in diesem Beruf nie bilden können.


Dies lässt ermessen, wie es den vielen
freiberuflichen Sängern und Instrumenta-
listen geht, die auch in besseren Zeiten
nicht so viel verdienen wie er. Täglich, sagt
Volle, bekomme er Nachrichten von Kolle-
gen, die einfach nicht mehr wüssten, wie
sie das stemmen sollen. Wer nicht auftritt,
aus welchen Gründen auch immer, be-
kommt kein Geld – so sehen es die Verträ-
ge der öffentlichen finanzierten Opernhäu-
ser vor, die neben ihrem festen Ensemble
Sänger als Gäste für einzelne Produktio-
nen engagieren.
Das lässt sich auch nicht so einfach än-
dern, weil sich die Häuser damit in rechtli-
ches Neuland begeben müssten. Die Verträ-
ge sind dafür gedacht, dass mal eine oder
zwei Vorstellungen ausfallen, nicht gleich
ganze Serien abgesagt werden. Das Staats-
theater Nürnberg habe ihr eine Kulanzrege-
lung angeboten und die Hälfte der Gagen
in Aussicht gestellt, erzählt die Sopranistin
Eleonore Marguerre, die dort noch Vorstel-
lungen von Giacomo Puccinis „Manon Le-
scaut“ hätte singen sollen. Am Theater Er-
furt, wo ihr Ehemann, der Tenor Uwe Sti-
ckert, hätte auftreten sollen, reagiere man
dagegen nicht auf Anfragen. Viele Kolle-
gen hätten auch Angst, glaubt Marguerre,
„in dieser Situation Gehaltsforderungen
zu stellen, weil sie Sorge haben, dann spä-
ter nicht mehr beschäftigt zu werden“.
Erst recht können private Konzertveran-
stalter derzeit keine Honorare auszahlen,
weil sie selbst nicht wissen, wie es weiter-
geht. Das trifft gerade auch die Ensembles
hart, die nicht wie die staatlichen und kom-
munalen Orchester fest an ein Haus gebun-


den sind. Nicht selten sind sie als Gesell-
schaften bürgerlichen Rechts organisiert,
das heißt: Die Musiker selbst sind Eigentü-
mer des Orchesters. Was ihnen eigentlich
die künstlerische Freiheit von staatlichen
und städtischen Institutionen sichern soll-
te, könnte ihnen nun zum Verhängnis wer-
den. Denn bei Absagen bekommen sie zum
einen keine Honorare ausgezahlt, zum an-
deren müssen sie trotzdem weiterhin die
Infrastruktur des Orchesters finanzieren.
So haften etwa beim Ensemble Modern,
das die Geschichte der Neuen Musik in
Deutschland und darüber hinaus entschei-
dend mitgeschrieben hat, die 19 festen
Mitglieder voll mit ihrem privaten Vermö-
gen. Eigentlich hätte man in diesem Jahr
das 40-jährige Jubiläum feiern wollen,
jetzt herrscht auch hier nur noch Stille –
und Leere in den Kassen. Eine Viertelmilli-
on Euro, sagt Geschäftsführer Christian
Fausch, habe man durch entgangene Kon-
zerte allein bis Mitte April bereits verloren,
rund 16 Prozent der für das Jubiläumsjahr
anvisierten Honorareinnahmen.
Nicht anders ergeht es dem Concerto
Köln, einem sehr renommierten Ensemble
für Alte Musik, bei dem eigentlich gerade
Hochbetrieb herrschen würde. Schließlich
sind wir mitten in der vorösterlichen Zeit,
in der die Akteure der historischen Auffüh-
rungspraxis, aber auch viele freiberufliche
Sänger und Instrumentalisten landauf,
landab für Passionsmusiken gebucht wer-
den. „Momentan müssen die Musiker aus
ihren Reserven leben“, sagt Geschäftsfüh-
rer Jochen Schäfsmeier, „wir sind ausgelie-
fert und können nur noch Schadensbegren-
zung betreiben.“ Wie Fausch hofft er dar-
auf, dass nun nicht der Staat auch noch die
Fördergelder für Projekte zurückfordert,
die nicht stattfinden können. Schließlich
sind sie zum großen Teil bereits in die Vor-
bereitungen investiert.
Tatsächlich hat Kulturstaatsministerin
Monika Grütters am vergangenen Freitag
in Aussicht gestellt, dass von Rückforde-
rungen „im Rahmen einer Einzelfallprü-
fung“ abgesehen werden könne, aufgrund
von ausgefallenen Veranstaltungen erspar-
te Mittel aber grundsätzlich zurückerstat-
tet werden müssen. Die Bundesregierung
hat bei den Folgen des Coronavirus Abhilfe
in Milliardenhöhe versprochen, zu den in
Aussicht gestellten Erleichterungen gehö-
ren unter anderem die Ausweitung des
Kurzarbeitergeldes, erleichterte Kredite
und die Stundung von Steuerzahlungen.
Grütters hat zusagt, dass auch die Kultur-,
Kreativ- und Medienwirtschaft dadurch
massiv unterstützt werden soll.

Doch wie sich das genau gestalten soll,
darüber hat sie bislang keine Aussagen ge-
troffen. So ist unklar, ob die Regelungen
für Selbständige bei freiberuflichen Solis-
ten überhaupt greifen. Schließlich gelten
sie als Angestellte auf Zeit, wenn sie ein En-
gagement an einem Theater antreten. Sie
seien rechtlich „nicht Fisch und nicht
Fleisch“, sagt Christian Sist von „Art but
fair“, sie würden zwischen einem Angestell-
tenverhältnis und einer freiberuflichen Tä-
tigkeit hin- und hergeschoben. Die Organi-
sation, die schon länger für verbesserte Ar-
beitsbedingungen von freiberuflichen Mu-
sikern kämpft, sieht sich durch die aktuel-
le Lage bestätigt. So warne man seit Jahren
vor der Abwärtsspirale bei Honoraren für
Gastverträge, die dazu führten, dass Frei-
berufler keinerlei Rücklagen bilden könn-
ten. Das begrenzte Angestelltenverhältnis
sorge außerdem dafür, dass viele nicht mal

Arbeitslosengeld beantragen könnten,
wenn sie nicht die dafür geforderte Min-
destarbeitszeit nachweisen können.
Die Krise lässt juristische Lücken deut-
lich werden, die der gut laufende Betrieb
bisher überspielen konnte. So dürfen etwa
freie Orchester wie das Ensemble Modern
keine Rücklagen bilden, wenn sie gleichzei-
tig öffentliche Fördermittel bekommen.
„Wir sind gezwungen, auf null zu spielen“,
sagt Christian Fausch, „und haben da-
durch keinerlei Polster in einer Situation
wie der aktuellen.“ Er fürchtet zudem, dass
in Zukunft Stiftungen abspringen könn-
ten, wenn sie selbst geschädigt aus der Kri-
se hervorgehen.

Fausch fordert deshalb von der Kulturpo-
litik „unbürokratische und schnelle Lösun-
gen“, die „bisher noch nicht in Sicht“ seien.
Sein Kollege Jochen Schäfsmeier vom Con-
certo Köln sieht dagegen viel guten Willen,
etwa im Kontakt mit dem Kultusministeri-
um des Landes Nordrhein-Westfalen.
Doch es herrscht allerorten Verwirrung –
und alle Branchen rufen gleichzeitig nach
dem Staat, dessen Mittel auch nicht endlos
sind. So hat der Deutsche Musikrat gefor-
dert, sämtlichen freiberuflichen Kreativ-
schaffenden für die nächsten sechs Mona-
te ein Grundeinkommen in Höhe von ein-
tausend Euro zu gewähren. Man fordere
ausdrücklich kein unbefristetes Grundein-
kommen, stellt Generalsekretär Christian
Höppner im Gespräch klar, es gehe nur um
Hilfe in der Not. Denn Höppner glaubt
nicht, dass die staatlichen Hilfsmaßnah-
men sich umstandslos auf Kleinstunter-
nehmer wie freiberufliche Musiker anwen-
den lassen werden. So könnten die meisten
selbst bei besten Konditionen keine Kredi-
te aufnehmen, weil sie damit das Problem
nur in die Zukunft verschieben würden.
Wann aber diese Zukunft beginnt, weiß
niemand mehr. Kaum jemand scheint da-
mit zu rechnen, dass am 20. April, wenn in
den meisten Bundesländern die bisher ge-
setzte Frist für die Schließung ausläuft, in
den Opernhäusern und Konzertsälen wie-
der Musik statt Stille herrschen wird. Das
gilt erst recht, weil wegen des erhöhten Al-
tersdurchschnitts viele Besucher zu einer
Gruppe mit hohem Risiko im Ansteckungs-
fall zählen. So sind die Händel-Festspiele
Göttingen, die Ende Mai hätten beginnen
sollen, bereits jetzt verschoben, spätestens
auf 2021, wie es heißt. Man glaube nicht
mehr daran, teilten die Veranstalter an die-
sem Dienstag mit, dass das vorgesehene
Programm wie geplant durchgeführt wer-
den könne. Das Publikum haben sie aufge-
fordert, nach Möglichkeit auf eine Rücker-
stattung der bereits erworbenen Eintritts-
karten zu verzichten, weil sonst die Fest-
spiel-GmbH in ihrer Existenz bedroht sei –
eine Forderung, die als Hashtag auch im In-
ternet kursiert.
Wo die Hilfe durch den Staat ungeklärt
ist, sind auch die Konsumenten gefordert.
So hat das KlassikmagazinCrescendoeine
Spendenaktion für Musiker ins Leben geru-
fen, während die Gesellschaft zur Verwer-
tung von Leistungsschutzrechten (GVL)
Inhabern von Wahrnehmungsverträgen
aus der freien Szene eine Soforthilfe von
250 Euro spendiert hat.
Doch das alles könnten nur Tropfen auf
den heißen Stein sein, wenn die Krise lan-
ge anhält. Denn die Löcher in den Kassen
werden von Tag zu Tag größer werden –
und die Lebensbedingungen von freien
Musikern schlechter. „Das Schlimmste“,
sagt Michael Volle, „ist die Ungewissheit.“

Die deutschen Musikhochschulen bilden
Jahr für Jahr Tausende von Musikern aus.
Längst nicht alle von ihnen kommen bei öf-
fentlichen Opernhäusern und Orchestern
unter oder können von ihren freiberufli-
chen Auftritten leben. Ihr Auskommen fin-
den sie oft als Lehrer an Musikschulen, wo
sie den Nachwuchs an die Musik heranfüh-
ren und auch ältere Menschen beim Musi-
zieren begleiten. Aufgrund der Schließun-
gen sind nun viele von ihnen in ihrer Exis-
tenz bedroht, weil selbst an städtisch finan-
zierten Musikschulen längst nicht alle
Lehrkräfte festangestellt sind.
Die Quote ist je nach Bundesland unter-
schiedlich, so beziehen in Bayern fast alle
Dozenten kommunaler Musikschulen ein
festes Gehalt und werden auch bei Unter-
richtsausfall weiterbezahlt. In Baden-
Württemberg zum Beispiel sind dagegen
nur 60 Prozent fest angestellt, der Rest
wird je nach gehaltenen Unterrichtsstun-
den bezahlt. „Wir empfehlen, die Honorare
nach Möglichkeit im Rahmen der wirt-
schaftlichen Kraft weiterzuzahlen“, sagt
Friedrich-Koh Dolge, der Vorsitzende des
Landesverbandes der Musikschulen Ba-
den-Württemberg.

Doch wie groß wird dieser Rahmen sein,
zumal wenn die Schließungen anhalten
sollten? Schließlich leben die Musikschu-
len in Baden-Württemberg laut Dolges
Angaben gut zur Hälfte von den Zahlungen
ihrer Schüler beziehungsweise deren
Eltern. Die bezahlten Stunden können
zwar rechtlich innerhalb eines gewissen
Zeitrahmens verschoben werden, über die-
sen hinaus allerdings müssten die Schulen
das Geld erstatten.
Noch schwieriger sieht die Situation an
privaten Musikschulen aus, an denen oft
sämtliche Dozenten auf Honorarbasis tä-
tig sind. „Wir zahlen keinen Unterricht, der
nicht gehalten wird“, sagt Felix Büchner.
Der Geschäftsführer am Freien Musikzen-
trum München bedauert das durchaus,
weil er weiß, dass die wirtschaftliche Lage
seiner nach eigenen Angaben etwa 200 Do-
zenten nicht selten prekär ist. Doch weil
das Freie Musikzentrum als gemeinnützi-
ger Verein organisiert ist, dürfte Büchner
die Honorare selbst dann nicht weiterzah-
len, wenn er wollte und könnte. Deshalb su-
chen viele Musikschulen momentan fieber-
haft nach innovativen Lösungen, wie der
Unterricht dennoch gehalten werden
kann, beispielsweise per Skype, Telefon
oder sogar per E-Mail. Ob das funktioniert,
lässt sich schwer sagen. stmi

Selbst ein Sängerstar wie er hat keine Rücklagen: Bariton Michael Volle als
Jochanaan in Richard Strauss’ „Salome“. FOTO: MICHAEL PÖHN /WIENER STAATSOPER

Schattenarbeit


Im Pop kämpfen nicht nur
die Künstler ums Überleben

Selbst wenn alle Autoren über
die Runden kommen, droht
eine systemische Veränderung

Eigentlich wäre jetzt Hochbetrieb



  • doch es gilt gnadenlos: Wer


nicht auftritt, kriegt kein Geld


Passion


und Pleite


Die Stille im Konzertbetrieb bringt


freiberufliche Musiker in existenzielle Nöte


Etüden auf Skype


Lässt sich Musikunterricht
ins Netz verlegen?

Niemand glaubt so recht,
dass der Spielbetrieb nach dem


  1. April wieder losgehen wird


Musikschulen suchen fieberhaft
nach neuen Lösungen, damit
weiter Honorare fließen können

„Eine bessere Möglichkeit,


das Konzept zu testen,


gibt es nicht“, sagt Tonia Merz


Die Bundesregierung will
auch Kulturschaffenden helfen –
nur wie, das ist noch unklar

10 HF3 (^) FEUILLETON Donnerstag, 19. März 2020, Nr. 66 DEFGH
Alex Capus liest aus „Das Leben ist gut“.
FOTO: SCREENSHOT YOUTUBE/LOVELYBOOKS

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