Süddeutsche Zeitung - 19.03.2020

(Nancy Kaufman) #1
München– Geschäfte müssen schließen,
Fabriken auch, und wie lange das so bleibt,
weiß niemand. Die Aussichten für viele Un-
ternehmen sind derzeit düster. Wie heftig
es am Ende genau wird, traut sich keiner
vorherzusagen. Aber viele Firmen rechnen
mit schweren Zeiten. Ein Überblick.

Adidas:„Home Ground“ heißt die Anlage
mit Unterkünften, Speise- und anderen
Räumen, die der Sportartikel-Konzern ge-
rade auf dem Campus seiner Zentrale in
Herzogenaurach baut. Eigentlich für die
Fußball-Nationalmannschaft, die hier vor
und während der EM im Sommer logieren
und trainieren sollte. Die EM wird nun ver-
schoben – „Home Ground“ aber werde
planmäßig fertiggebaut, heißt es. Die Anla-
ge dürfte ohnehin das kleinste Problem
der weltweiten Nummer zwei der Branche
sein: Für vorerst zwei Wochen schließt Adi-
das wegen des Coronavirus alle Geschäfte
in Europa, den USA und Kanada. Betroffen
sind auch die Shops der Tochtermarke Ree-
bok. Die Beschäftigten würden trotzdem
regulär weiterbezahlt. Bereits am Montag
hatte Branchenführer Nike angekündigt,
alle seine Läden außerhalb Chinas zu
schließen. Wie viel Geschäft Adidas nun
am europäischen Heimatmarkt sowie im
größten Sportartikelmarkt Nordamerika
entgeht, wagt noch niemand vorherzusa-
gen.

Airbus:Auch der Flugzeughersteller muss
sich auf massive Folgen der Covid-19-Kri-
se einstellen. Die Analysten von Agency
Partners gehen davon aus, dass der Rück-
gang der Produktion zwar 2020 noch auf et-
wa zehn Prozent beschränkt werden kann,
weil Kunden nicht so schnell aus ihren Ver-
trägen herauskommen und Airbus mit Kre-
diten helfen wird. 2021 aber würde sie
dann aber, gemessen an den ursprüngli-
chen Zielen, praktisch halbiert.

Ceconomy:Die Konzernmutter der Elek-
tronik-Ketten Media Markt und Saturn
kassiert wegen wegbrechender Geschäfte
in der Coronavirus-Krise ihre Jahresziele.
Nach aktuellem Stand blieben alle Geschäf-
te in Österreich, der Schweiz, Belgien, Itali-
en, Spanien, Polen, Luxemburg sowie
Deutschland vorerst geschlossen.

Deutsche Post:Um die weitere Ausbrei-
tung des Coronavirus zu bremsen, verzich-
ten die Post und ihre Tochter DHL ab sofort
bei der Übergabe von Paketen und Ein-
schreiben auf die Unterschrift des Empfän-
gers. Stattdessen sollten die Zusteller die
erfolgreiche Auslieferung mit ihrer eige-
nen Unterschrift dokumentierten. Das sol-
le den persönlichen Kontakt reduzieren.

Heideldruck: Der Weltmarktführer bei Bo-
genoffset-Druckmaschinen baut in der Kri-
se 2000 von bisher 11 500 Stellen ab und
stellt die Fertigung von zwei neuen Pro-
duktlinien ein. Vorstandschef Rainer
Hundsdörfer schloss außerdem die Schlie-
ßung „einzelner Betriebsstätten“ nicht
aus, nannte aber keine Details. Er begrün-
dete die Schritte einerseits mit einem „star-
ken Rückgang der Aufträge in Nordameri-
ka und Europa“ aufgrund der Coronavirus-
Epidemie. Zugleich räumt er ein, dass das
Management in der Vergangenheit „strate-
gische Fehler“ gemacht habe. Der Traditi-
onskonzern leidet unter der generellen Kri-
se der Druckindustrie aufgrund der Digita-
lisierung. Wann, wie und wo die Jobs weg-
fallen werden, sagte er nicht.

Hella:Der Autozulieferer kann seine Pro-
gnose fürs laufende Geschäftsjahr nicht
halten. Weil immer mehr Autohersteller
die Produktion vorübergehend stilllegen,
will auch das M-Dax-Unternehmen die
Kosten senken, etwa durch einen Einstel-
lungsstopp. „Darüber hinaus ist Kurzar-
beit an inländischen Standorten in Vorbe-
reitung“, teilte Hella mit. Das Unterneh-
men ziehe zudem in Betracht, ganze Pro-
duktionsstätten zeitweise zu schließen.
Wie stark das Geschäft insgesamt leiden
wird, lasse sich noch nicht genau beziffern.

MAN:Eigentlich sind es Zeiten, in denen
Lastwagen gebraucht werden. Wenn sich
sonst schon nichts bewegt, dann müssen
zumindest Waren von A nach B kommen.
Jetzt aber hat der Münchner Lkw-Bauer
MAN für seine deutschen Werke Kurzar-
beit beantragt; sie solle „für einen Großteil
der Beschäftigten an den produzierenden
Standorten gelten“, hieß es. Dabei geht es
nicht nur um die Konjunktur, die brach-
liegt, sondern auch um die Sorge um Nach-
schub und Auslieferung. Dabei war MAN
schon vor dem Coronavirus in Schwierig-
keiten: Ein Sechstel der rund 36 000 Stel-
len stand angesichts der schwachen Kon-
junktur bereits Anfang des Jahres auf dem
Prüfstand. MAN gehört, wie Scania aus
Schweden, zum Volkswagen-Konzern.

RWE:Der Energiekonzern verschiebt we-
gen der Coronavirus-Krise die für Ende
April geplante Hauptversammlung. Diese
werde später im Jahr nachgeholt, hieß es.
Durch die Verschiebung werde auch die Di-
vidende später an die Aktionäre gezahlt.

Strabag:Österreichs größter Baukonzern
stellt aufgrund des Coronavirus bis min-
destens Ende der Woche den Baubetrieb
am Heimatmarkt ein. Betroffen seien rund
1000 Baustellen, hieß es. Begründet wurde
der Schritt damit, dass der gesetzlich gefor-
derte Ein-Meter-Abstand zwischen den
Mitarbeitern am Bau nicht gewährleistet
werden könne. Zudem sei der Material-
nachschub nicht mehr sichergestellt. Ob es
auch in anderen Ländern zu temporären
Baustopps kommt, sei noch nicht klar. sz

Frankfurt/London– An den internationa-
len Finanzmärkten kam es infolge der Co-
rona-Krise auch am Mittwoch zu starken
Kurseinbrüchen. Der Dax büßte etwa 5,
Prozent ein auf 8400 Punkte. Die Verluste
seit Beginn des Börsen-Crash Ende Febru-
ar summieren sich bei Deutschlands wich-
tigstem Börsenbarometer mittlerweile auf
über 5000 Zähler oder fast 40 Prozent.
Auch im Rest von Europa, Asien und den
USA verpuffen die Rettungspakete der Re-
gierungen und Notenbanken bislang.
Die Banca d’Italia kaufte am Mittwoch
verstärkt italienische Staatsanleihen, um
so die Anleiherenditen der Schuldscheine
zu senken, die infolge der Corona-Krise
stark angestiegen waren. Die Renditen ge-
ben an, wie hoch der Kreditzins für das
Land ist. In den vergangenen Tagen stieg
die Rendite für Italiens zehnjährige Staats-
anleihen von 1,3 auf 2,9 Prozent. Nach den
Markteingriffen der italienischen Noten-
bank am Mittwoch sank der Zinssatz leicht
auf 2,6 Prozent. Eine missverständliche Äu-
ßerung von EZB-Präsidentin Christine La-
garde hatte vorige Woche dazu beigetra-
gen, an der Entschlossenheit der Wäh-
rungshüter zu zweifeln, Italien im Notfall
zu helfen. Die beherzte Kaufaktion der Ban-
ca d’Italia soll für Klarheit sorgen.


Erst vergangene Woche hatte der EZB-
Rat als Reaktion auf die Corona-Krise be-
schlossen, bis Jahresende zusätzlich 120
Milliarden Euro in den Markt zu pumpen.
Aus diesem Topf bediente sich nun die itali-
enische Notenbank. Das Anleihekaufpro-
gramm erlaubt Flexibilität, zeitweise dür-
fen mehr Wertpapiere aus bestimmten Eu-
ro-Staaten gekauft werden, als es der Ver-
teilungsschlüssel eigentlich vorsieht.
Die Europäische Zentralbank unter-
strich am Mittwoch noch einmal ihre Be-
reitschaft, „alle ihre Maßnahmen gegebe-
nenfalls anzupassen“. Hintergrund war ein
Zeitungsinterview des österreichischen No-
tenbankchefs und EZB-Ratsmitglied Ro-
bert Holzmann, in dem dieser die Noten-
bank als allzu machtlosen Akteur in der Kri-
se skizzierte. Die Notenbank sah sich dar-
aufhin genötigt, die Sache klarzustellen.
EZB-Vizepräsident Luis de Guindos ver-
sprach, dass die Zentralbank „mutige
Schritte“ unternehmen werde, sollte dies
erforderlich sein.
In London erklärte der Chef der Bank of
England, Andrew Bailey, dass die Noten-
bank bereit sei, „unbegrenzte Geldmen-
gen“ in den Wirtschaftskreislauf zu pum-
pen. Ziel sei es, den Schaden für die Unter-
nehmen zu begrenzen, so dass dieser zwar
„störend“, aber nicht „zerstörend“ wirke.
Die derzeitige Situation bezeichnete Bailey
zwar als „ernst“, aber es sei noch nicht an
der Zeit, die Finanzmärkte zu schließen, da
diese weiterhin in der Lage seien, Preise zu
bilden.
Der britische Notenbank-Chef sah sich
offenbar gezwungen, den Märkten zu si-
gnalisieren, dass Großbritannien alles da-
für tun werde, um den Schaden für die
Wirtschaft so gering wie möglich zu hal-
ten. Bereits am Dienstagabend hatte die Re-
gierung ein 330-Milliarden-Pfund-Paket
in Aussicht gestellt, um Unternehmen in fi-
nanzieller Not zu helfen. Doch die erhoffte
positive Marktreaktion blieb aus.
Vor allem das britische Pfund geriet un-
ter Druck. Am Mittwoch fiel die Währung
des Vereinigten Königreichs zum US-Dol-
lar auf den tiefsten Stand seit 35 Jahren. So-
gar der tiefe Fall nach dem Brexit-Referen-
dum im Jahr 2016 wurde unterboten. Briti-
sche Staatsanleihen, normalerweise eine
als sicher geltende Anlage, gaben ebenfalls
stark nach. a. mühlauer, m. zydra


von jan willmroth und
nils wischmeyer

Frankfurt/Köln– Im größten Steuerskan-
dal der bundesdeutschen Geschichte hat
das Landgericht Bonn am Mittwochabend
zwei frühere Investmentbanker wegen
Steuerhinterziehung zu Haftstrafen verur-
teilt. Martin S. erhielt für seine Beteiligung
an den Cum-Ex-Aktiengeschäften eine
Haftstrafe von einem Jahr und zehn Mona-
ten, zudem muss er 14 Millionen Euro zu-
rückzahlen. Sein Mitangeklagter Nick D.
wurde zu einer Haftstrafe von einem Jahr
verurteilt. Das Gericht setzte beide Strafen
zur Bewährung aus. Die 12. Große Straf-
kammer folgte mit ihrem Urteil weitge-
hend den Forderungen der Staatsanwalt-
schaft, die wegen der umfangreichen Auf-
klärungshilfe der Angeklagten für milde
Strafen plädiert hatte. Angesichts des ange-
klagten Steuerschadens von fast 400 Milli-
onen Euro kommen beide damit glimpf-
lich davon. Die Bankengruppe M.M. War-
burg soll 176 Millionen Euro zurückzahlen.
Mit dem Richterspruch von Mittwoch
geht nach 44 Verhandlungstagen einer der
meist beachteten Wirtschaftsprozesse der
vergangenen Jahre zu Ende. Weltweit
schauten Anwälte, Strafverfolger, Beschul-
digte und Finanzbeamte nach Bonn und
verfolgten den ersten Strafprozess wegen
Steuerhinterziehung im Zusammenhang
mit Cum-Ex-Börsengeschäften.
Beim Handel von Aktien mit (cum) und
ohne (ex) Dividendenanspruch hatten sich
Banken, Händler, reiche Investoren und de-
ren Gehilfen spätestens von 2006 an bis
einschließlich 2011 an den deutschen Steu-
erkassen bedient, indem sie sich zu Un-
recht Steuern anrechnen oder erstatten lie-
ßen. Der Schaden liegt bei mehr als zehn

Milliarden Euro allein in Deutschland, an-
dere europäische Staaten verloren relativ
zur Bundesrepublik noch mehr Geld.
Jetzt hat zum ersten Mal ein Strafge-
richt entschieden: Was da über Jahre gelau-
fen ist, war nach deutschem Recht strafba-
re Steuerhinterziehung in ganz großem
Stil, es war eine perfide Form der organi-
sierten Kriminalität, bei der sich erfinderi-
sche Finanzprofis und Anwälte am Geld
der Allgemeinheit bereichert haben. Ein
Diebstahl an der Gesellschaft. Das Urteil
ist einstweilen nicht rechtskräftig, eine Re-
vision zum Bundesgerichtshof gilt als si-
cher. Aber mit diesem Tag steht fest: Für al-
le, die noch behaupten, sie hätten nur Ge-
setzeslücken ausgenutzt, wird es eng.

Am Vormittag hatte zunächst Ober-
staatsanwältin Anne Brorhilker das Wort.
Seit 2013 ermittelt sie gegen die Steuerdie-
be, sie hat es sich zur Aufgabe gemacht,
das ganze System Cum-Ex aufzudecken
und nicht nur einzelne überführte Täter zu
belangen. So ist es auch zu erklären, dass
sie am Ende milde Strafen für die beiden
Angeklagten forderte. Zehn Monate für
Nick D., der erst als junger Aktienhändler
bei der Hypo-Vereinsbank und später als
Angestellter des berüchtigten Hedgefonds
Ballance Group an Cum-Ex-Geschäften be-
teiligt war. Und ein Jahr und zehn Monate
für Martin S., den früheren Kollegen von D.
bei der Bank, Gründer und Gesellschafter
von Ballance, der zahlreiche Cum-Ex-Ge-
schäfte orchestriert hatte, minutiös ge-
plant in komplexen Excel-Tabellen.

Beide hatten umfangreich ausgesagt,
waren weitgehend geständig und haben
zahlreiche andere Akteure schwer belas-
tet. „Man kann nicht Einzelne als Sünden-
bock hinstellen und stellvertretend für an-
dere bestrafen“, sagte Brorhilker in ihrem
Plädoyer, nachdem sie ausgeführt hatte,
dass sie beide durchaus für schuldig halte.
Die Angeklagten seien lediglich zwei von
Hunderten, die mit Cum-Ex-Geschäften ei-
nen riesigen Steuerschaden verursacht hät-
ten. Sie seien Teil einer „Hinterziehungsin-
dustrie“ – und sie seien Kronzeugen, die ge-
holfen hätten, weitere, mit Cum-Ex-Deals
vergleichbare Geschäftsmodelle aufzude-
cken. Ähnlich wie in Mafiaprozessen, soll-
ten in Brorhilkers Augen diejenigen be-
lohnt werden, die auspacken. Am Schluss
betonte Brorhilker noch einmal: Das Bon-
ner Verfahren sei ja nicht das Ende der Auf-
klärung, sondern der Auftakt.
Die Verteidigerin von Martin S., Hellen
Schilling, schloss sich dem an. Sie be-
schrieb in ihrem Plädoyer, wie wichtig „tax
trades“ – steuergetriebene Börsengeschäf-
te ohne Kursrisiko, die nur durch Dividen-
den und Kapitalertragsteuern profitabel
sind – für Investmentbanken. Sie zeichne-
te das Versagen des deutschen Gesetzge-
bers nach bei dem Versuch, derartige Ge-
schäfte zu unterbinden. Und sie erinnerte
an ein Bild, das S. im Verfahren erwähnt
hatte: „Dass Fenster und Türen einer Bank
offenstehen, der Wachmann schläft und
ein Schild auf die ausgeschaltete Alarman-
lage hinweist, berechtigt nicht dazu, den
Tresor zu räumen“, sagte Schilling, aller-
dings sei es doch mildernd zu berücksichti-
gen. Genau wie die Aufklärungshilfe: S. hat
der Staatsanwaltschaft zufolge in 35 Er-
mittlungsverfahren zur Aufklärung beige-
tragen. Er hat entscheidend geholfen, das

System Cum-Ex zu enttarnen. Und: „Herr
S. hat seine Lektion gelernt“, betonte Schil-
ling.
Der Verteidiger von Nick D., Stefan
Kirsch, sprach sich ebenso für eine milde
Strafe aus. Auch D. hatte umfassend ausge-
sagt, war im Wesentlichen geständig, und
er werde, sagte Kirsch, „in die Geschichte
eingehen als eines der Gesichter von Cum-
Ex“. Damit sei es schwierig, beruflich und
wirtschaftlich wieder Fuß zu fassen – oder
auch nur ein Girokonto zu eröffnen. Wie
viel sich auf den Konten der Akteure zwi-
schenzeitlich angesammelt hatte, zeigte
im Prozess das Beispiel Martin S.: 14 Millio-
nen Euro, die er für sich selbst mit Cum-Ex-
Geschäften verdient habe, soll er nach dem
Urteil zurückzahlen.
Die Bankengruppe M.M. Warburg aus
Hamburg gab sich nicht so einfach geschla-
gen. Sie war als einzige von fünf am Pro-
zess beteiligten Finanzfirmen übrig geblie-
ben, als letzte Firma also, die mit einer
Rückzahlung der Gelder aus den angeklag-
ten Taten rechnen musste. Die anderen hat-
te die Kammer ausgeladen, um den Pro-
zess in dieser Woche eilig abschließen zu
können. Warburg verteidigte sich dann hef-
tig: „Eine Einziehung bei meiner Mandan-
tin hat zu unterbleiben“, forderte der An-
walt der Bank, Christian Jehke, nachdem
er am Vortag erfolglos beantragt hatte, den
Prozess wegen der Coronakrise zu unter-
brechen. Denn es müsse erwiesen sein,
dass die Angeklagten direkt für die War-
burg-Bank gehandelt hätten – was in die-
sen Fällen zu bezweifeln sei.
Ob Warburg tatsächlich die 176 Millio-
nen Euro zurückzahlen muss, so wie es die
Kammer in Bonn jetzt verfügt hat: Auch in
dieser Frage wird wahrscheinlich der Bun-
desgerichtshof gefordert sein.

München– Das Wartezimmer von Michae-
la Heinke ist gerade leer. Der Allgemeinme-
dizinerin mit Praxis bei Dresden bleiben
aber nicht etwa die Patienten weg, im Ge-
genteil: Mit der Ausbreitung von Covid-
kommen immer mehr Menschen zu ihr. Da-
mit die Patienten sich nicht gegenseitig an-
stecken, verlegt Heinke ihr Wartezimmer
aber ins Digitale. „Die Leute schreiben mir
per SMS genau, wann sie von zu Hause los-
fahren und hier ankommen“, sagt die
59-Jährige. So koordiniere sie, dass sich
niemand in ihrer Praxis begegne. Auch
sonst nutzt die Ärztin digitale Kommunika-
tion für medizinische Belange, sie bietet
Terminbuchungen per App an und Online-
Sprechstunden über Wechat oder Skype.
Heinke setzt auf Telemedizin. Auf der
Website der Bundesärztekammer liest
sich das eher wie ein sperriger „Sammelbe-
griff“ für alle Formen ärztlicher Versor-
gung, die medizinisches Personal mit digi-
talen Hilfsmitteln räumlich oder zeitlich
versetzt leistet. Jetzt aber, in Zeiten von Co-
rona, wird Telemedizin für Hausärzte wie
Heinke lebenswichtig. Oft, sagt sie, brau-
che ein Patient nicht unbedingt eine kör-
perliche Untersuchung – und darum auch
keinen Besuch beim Doktor.
Diese Erkenntnis haben längst einige
Anbieter als Geschäftsmodell entdeckt.
Zum Beispiel Teleclinic, Kry und Zava-
med. Die drei Start-ups bieten Plattfor-
men für Videosprechstunden mit Ärzten –
nun profitieren sie von der Corona-Krise.
Seit Februar habe die Zahl der Online-Be-
handlungen um 65 Prozent zugenommen,
freut sich Friederike Jacob, Sprecherin der


Münchner Firma Teleclinic. „Die Zahlen
überschlagen sich.“ Die rund 250 regis-
trierten Ärzte seien auf der Plattform nun
viel aktiver. „Vor der Verbreitung von Co-
vid-19 haben viele Doktoren einfach ne-
ben dem Praxisalltag in die App geschaut“,
sagt Jacob. Nun nähmen sich viele Ärzte
mehr Zeit für Online-Sprechstunden. Ein
ähnlich starkes Nachfrageplus meldet
auch die Telemedizin-Plattform Zavamed
aus London. Täglich behandle und berate
man mehrere Tausend Patienten online.
Bei Kry stieg die Nachfrage sogar um 95
Prozent. „Patienten mit Verdacht auf Co-
vid-19 können in den Videosprechstunden
Fragen zu ihren Symptomen stellen. Kriti-
sche Fälle werden so schneller identifi-
ziert und zum Arzt geschickt. Die Ärzte
können sich entsprechend vorbereiten“,
sagt Daniel Schneider, Manager beim
schwedischen Anbieter Kry.
Auch unabhängig vom Coronavirus ha-
be sich der deutsche Telemedizin-Markt
rasant entwickelt, sagt eine Sprecherin
von Zavamed. Grund sei das Digitale-Ver-
sorgung-Gesetz, das der Bundestag Ende
2019 beschlossen hat. Das Regelwerk von
Gesundheitsminister Spahn soll telemedi-
zinische Innovationen fördern – für die
nächsten vier Jahre stehen jeweils 200 Mil-
lionen Euro zur Verfügung. Apotheken und
Krankenhäuser sollen mehr elektronische
Patientenakten nutzen und müssen des-
halb ein entsprechendes digitales Netz-
werk aufbauen. Auch Videosprechstunden
sollen hierzulande Alltag werden, so will es
das Bundesgesundheitsministerium von
CDU-Ressortchef Jens Spahn.

Wahr ist aber auch: Trotz steigender
Nachfrage und Vorstößen der Politik hat
Deutschland eine vergleichsweise schwa-
che telemedizinische Infrastruktur. Das
zeigt eine Analyse der Bertelsmann-Stif-
tung von 2018. Die Organisation vergleicht
die digitalen Gesundheitssysteme von
17 Ländern – die meisten davon sind EU-
Staaten. Deutschland belegt den vorletz-
ten Platz, nur Polen schneidet schlechter
ab. Der digitale Wandel in der Gesundheit
komme hierzulande nur langsam voran,
rügt der Bericht. Im Vergleich zu Primus
Estland müsse Deutschland vor allem im
Bereich der Datennutzung aufholen.

Der Rückstand könnte daran liegen,
dass die Menschen hierzulande skeptisch
gegenüber elektronischen Datenbanken
seien, sagt Jost Steinhäuser, Professor für
Allgemeinmedizin an der Universität Lü-
beck, er forscht zum Schwerpunkt Teleme-
dizin. In nordischen Ländern haber diese
eine viel größere Akzeptanz, elektronische
Patientenakten seien längst Standard.
Auch müsste das Modell hierzulande ren-
tabler für Ärzte werden. „Ärzte, die teleme-
dizinische Leistungen erbringen, sollten
den gleichen Betrag einnehmen wie bei
Leistungen vor Ort“, findet der Wissen-
schaftler. Derzeit würden Ärzte an Teleme-

dizin kaum verdienen. Es sei schade, dass
Deutschland beim Thema E-Health hinter-
herhinke. So könnten Vorzüge kaum ge-
nutzt werden: verbesserter Zugang zur Me-
dizin auf dem Land und verkürzte Warte-
zeiten. Viele Konsultationen vor Ort wür-
den dank Telemedizin wegfallen, sagt
auch Erik Bodendieck, Vorstand der Bun-
desärztekammer. Aber elektronische
Sprechstunden könnten auch Kapazitäten
kosten. Etwa, wenn Menschen den Online-
Besuch als Zusatzangebot wahrnehmen
und die simpelsten Fragen stellen, mit de-
nen sie nie zum Doktor kämen. Oder wenn
sie sich online mehrfach vergewissern wol-
len, dann kostet das Zeit. „Die fehlt dann
für Patienten mit akuteren Anliegen“,
warnt Bodendieck.
Ohnehin, so der Medizinmanager, stößt
die Telemedizin noch auf viele Barrieren.
Die Internetverbindung sei vielerorts
schlecht, ethische Fragen müssten disku-
tiert werden – etwa, wie die Technik vor ei-
nem Missbrauch durch falsche Ärzte ge-
schützt werden könne. Zudem gebe es „vie-
le Insellösungen, aber kein geschlossenes
Gesamtsystem“.
Start-ups rechnen damit, dass sich
E-Health rasch etabliert. Teleclinic ver-
sucht derzeit, 20 Millionen Euro bei Inves-
toren einzusammeln. Auch bei Zavamed
ist man optimistisch: „Die Vorteile der Tele-
medizin kommen durch die aktuelle Pande-
mie ganz deutlich zum Vorschein“, sagt
Sprecherin Victoria Meinertz. So sieht das
auch Ärztin Heinke: „Wenn es eine Chance
von Corona gibt, dann ist es Digitalisie-
rung.“ jacqueline hadasch

Das Landgericht Bonn erwartet viele weitere Cum-Ex-Prozesse. FOTO: LUKAS SCHULZE

Diebstahl an der Gesellschaft


Mildes Urteil im ersten Cum-Ex-Strafprozess. Aber: Die Aktiendeals zulasten des Fiskus sind strafbar.
Und dieser Richterspruch ist erst der Anfang

Der kürzeste Weg zum Arzt


Die Telemedizin hofft wegen der Corona-Krise auf einen Boom. Durch Online-Sprechstunden lassen sich Ansteckungen im Wartezimmer vermeiden


Die Europäische Zentralbank


will alle ihre Maßnahmen


gegebenenfalls anpassen


Erstmals verurteilt ein Strafgericht
Cum-Ex-Akteure wegen
Steuerhinterziehung

20 HMG (^) WIRTSCHAFT Donnerstag, 19. März 2020, Nr. 66 DEFGH
Kursrutsch
an den Börsen
Weltweit bleibt die Hilfe von
Regierungen wirkungslos
Doktor online: Eine Ärztin sieht auf dem Monitor allgemeine Patienteninformatio-
nen und EKG-Daten. FOTO: MARIUS BECKER/DPA
Szenen einer
Krise
Von Adidas bis RWE: Firmen
reagieren auf die Pandemie

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