Süddeutsche Zeitung - 19.03.2020

(Nancy Kaufman) #1
B

evor man sich den Bildern wid-
met, die an diesem Mittwoch-
mittag in Eitting bei München
entstehen, sollte man sich kurz
mit den Bildern beschäftigen,
die bislang nicht entstanden sind. Markus
Söder ist unbestritten der führende Foto-
künstler der deutschen Politik, zu seinen
bekanntesten Motiven gehören die Umar-
mung von Bäumen, das Tätscheln von Wel-
pen und – ein Geheimfavorit unter Con-
naisseuren – das Durchschwimmen eines
Sees in einer Art Männer-Burkini. Söder
denkt bei Bildern nicht klein, und das gro-
ße Motiv in der Coronakrise wäre es natür-
lich, wenn der Ministerpräsident des Frei-
staats Bayern mit Schutzkittel und Schutz-
maske in einem Krankenhaus die Virus-
front inspizieren würde.
Eitting bei München, elf Uhr, eine Logis-
tikhalle von Rewe Süd. In zwölf Meter ho-
hen Regalen und auf orangefarbenen Ga-
belstaplern: Klopapier, soweit das Auge
reicht. Ultrasoft, Komfort, rosa, hellblau, al-
les da. Ein paar Minuten lang fragt man
sich, was Söder wohl mit all dem Klopapier
anstellen wird. Vier Kamerateams sind in
Position gegangen. Zwei Fotografen haben
sich in unverhohlener Erwartung und im
Bemühen um den originellsten Winkel ex-
tra auf den Boden gelegt. Söder schreitet
heran, nur noch ein paar Meter bis zu den
Mikrofonen. Schon ist die erste Klopapier-
rolle in Griffweite. Das Blitzlicht bricht los



  • und Söder bleibt stehen. Abstand halten,
    wichtig dieser Tage, aber gleich so viel? Mit
    freundlich ausgestrecktem Arm bedeutet
    Söder einem Herrn von Rewe, doch bitte
    als Erster ein paar Worte zu sagen.
    Ja, am Ende gibt es noch hübsche Fotos,
    Söder vor einem Mittelgebirge aus Klopa-
    pier. Und ja, natürlich ist das eine Inszenie-
    rung. Aber dass von diesem Ort und dieser
    Stunde und vor allem diesem Mann das be-
    ruhigende Signal ausgeht, dass die Deut-
    schen auch weiterhin mit einem reibungs-
    losen Toilettengang planen können – das
    ist doch ein Zweck, den niemand ernstlich
    bekritteln kann, der in der Coronakrise
    schon mal in einem Supermarkt war.


Markus Söder hat in den vergangenen
Wochen das Kunststück fertig gebracht,
ausgerechnet in der extremsten aller Zei-
ten wie nie zuvor zu Maß und Mitte zu fin-
den. Ein paar Zeitungsüberschriften nur,
die Söder am Mittwoch über sich lesen
durfte: „Der Kümmerer“, „Energischer Kri-
senmanager“, „Der Faktor Söder“, „Der An-
ti-Viren-Politiker“. Er könnte sich den Pres-
sespiegel seiner Staatskanzlei auf ein Kis-
sen sticken lassen. Begleitend schlugen
mehrere Tweets in München ein, in denen
langjährige Söder-Skeptiker mehr oder
minder gleichlautend erklärten, sie wür-
den dem neuen Söder ihr Leben anvertrau-
en. Aber wie neu ist der Mann eigentlich?
Der Münchner Soziologe Armin Nassehi
wird gern um Hilfe gebeten, wenn es dar-
um geht, die großen gesellschaftlichen Rät-
sel der Gegenwart zu lösen. In den vergan-
genen Wochen hat er sich Gedanken dar-
über gemacht, wie der starke Anführer aus-
sehen sollte, den die Menschen jetzt brau-
chen. „Ich hätte es mir kaum träumen las-
sen“, sagt Nassehi, der bisher auch nicht ge-
rade zum Fanklub des Ministerpräsiden-
ten gehörte. Doch er sei bei Markus Söder


gelandet. „Herr Söder macht das wirklich
auf eine kluge und angemessene Art und
dann auch noch sehr sympathisch.“ Selbst
am Telefon hört man durch, dass Nassehi
gar nicht weiß, über wen er sich mehr wun-
dern soll – über Söder oder sich.
Söder ist als wandlungsfähig bekannt,
als Mann vieler Rollen, gerade noch Scharf-
macher, schon Landesvater. Aber ein Held
der Nation, der sich angesichts der vier-
zehntägigen Selbstisolation des kanadi-
schen Premierministers Justin Trudeau
quasi als Generalvertreter des Guten in der
Welt anbietet? Ist da nicht doch beim Cas-
ting irgendwas schief gelaufen?
Eine Krise bringt das Beste und das
Schlechteste in Menschen hervor, in einer
Krise wachsen Politiker über sich hinaus
oder sie schrumpfen in sich zusammen. In
einer Krise lernt ein Volk seine Politiker
neu kennen. In stürmischen Hamburger
Februartagen 1962 avancierte der junge
Helmut Schmidt zum „Herrn der Flut“.
Und nun: Gestatten, Markus Söder, „Coro-
nakanzler“.
Armin Nassehi hat die Sache für sich
analysiert. Söder verbinde Umsicht und
Entschlossenheit. Keine Übertreibungen,
keine Beschönigungen. Keine Parteipoli-
tik. „Das ist wirklich respektabel“, sagt Nas-
sehi. Für einen politischen Krisenmanager
sei es nämlich gar nicht so wichtig, „was
man per Gesetz durchsetzen kann, son-
dern, ob man es den Menschen plausibel
machen kann“. Nur dann würden die Men-
schen Hygieneregeln oder Versammlungs-
verbote auch einhalten. „Das ist der große
Machttest.“ Und Söder bestehe ihn. „Eine
große Leistung.“
An manchen Tagen wird Söder jetzt in
fünf Nachrichtensendungen befragt, hin-
ter ihm blenden die Fernsehsender die Tür-
me und Dächer der schönen Landeshaupt-
stadt München ein. „Es gibt keinen Anlass
zur Panik, aber es gibt Anlass zur Sorge“,
das ist einer der Söder-Standards. Maß
und Mitte. Man ist beinahe erleichtert,
dass Söder gelegentlich betont, dass Bay-
ern „etwas vorangegangen“ sei, er „ein
Stück weit auch Tempo“ gemacht habe
und kein Bundesland „so schnell und so
groß Hilfen“ gewähre wie seines.
Söder beweise gerade viele gute Eigen-
schaften, sagt Nassehi am Ende des Ge-
sprächs, eines aber falle ihm schon auf:
Sein Gespür für Außendarstellung habe
ihn natürlich nicht verlassen.
Bavaria first, das hat auf einmal einen
anderen Klang. Bayern war tatsächlich das
erste Flächenland, das im Viruskampf sei-
ne Schulen schloss und das öffentliche Le-
ben einschränkte. Eine gute Weile seiner
Karriere hatte dieser Söder als Spaßpoliti-
ker gegolten, dem es ernst allein mit sei-
nem persönlichen Fortkommen war. Auch
in der Flüchtlingsdebatte hatte sich zu-
nächst nicht der Eindruck aufgedrängt,
dass er von der Verantwortung für das gro-
ße Ganze beseelt wäre. Und das soll sich
plötzlich geändert haben?

Katharina Schulze ist Fraktionschefin
der Grünen im Bayerischen Landtag, sie ist
so etwas wie Söders bekannteste Gegen-
spielerin in der Landespolitik. Schulze hat
gegen Söder schon unter dem Motto „Aus-
gehetzt“ demonstriert und ihm über die
Jahre nicht nur einmal vorgeworfen, nur
an sich selbst zu denken. Sie ist zweifellos
die Frau, die man anrufen und nach ihrer
Meinung fragen sollte.

Schulze sagt: „Das Krisenmanagement
läuft jetzt gut.“ Und dann: „Ja, ich schließe
Söder da mit ein.“ Andererseits findet sie
schon: „Söder ist Ministerpräsident. Es ist
seine Pflicht, diese Krise zu managen.“ Je-
der müsse nun sein Möglichstes tun, sie,
die Krankenschwester, alle, und eben auch
der Ministerpräsident. „Der Dank gilt allen
Menschen, die dieses System am Laufen
halten“, sagt Schulze. Funktionierende Be-
hörden, freie Presse. „Ohne all das würde
es auch nichts helfen, wenn der oder die
Oberste eine gute Performance hinlegt.“
Schulze kommt jetzt ein bisschen in
Fahrt. Natürlich wolle man in Krisenzeiten
nicht nach dem Haar in der Suppe suchen,
aber irgendwann werde die Zeit der Nach-
besprechung kommen. Auf den Pflegekräf-
temangel, sagt sie, würden die Grünen
schon seit Jahren hinweisen, genau wie auf
gefährliche Einsparungen im Gesundheits-
bereich. Sie selbst sei übrigens schon seit
zwei Wochen extrem „alert“, will heißen: in
Alarmbereitschaft. „Ich bin froh, dass end-
lich gehandelt wird“, sagt Schulze. Hat Sö-
der also zu spät reagiert? Nein, sagt Schul-
ze. So wollte sie das jetzt auch nicht sagen.
Von Kritikern wie Schulze wird Söder
seit Jahren bei durchaus beachtlicher Indi-
zienlage vorgeworfen, einen Staatsmann
nur zu spielen. Auch in der CDU sind dieser
Tage einige genervt von Söders „Macher-
Pose“; er profiliere sich da auf Kosten ande-
rer, heißt es. In der CSU halten sie mit einer
Frage dagegen: Ob es wirklich so unglaub-
lich sei, dass ein Ministerpräsident seinem
Amtseid gerecht werden und Schaden von
seinem Volk abwenden wolle? Und über-
haupt, sagen sie in der CSU, laufe der Vor-
wurf angesichts der Anerkennung der Bür-
ger ins Leere. Erwin Huber, der ehemalige
CSU-Vorsitzende, der heute nicht umsonst
Philosophie studiert, hat zur Glaubwürdig-
keit Söder’scher Wandlungen den Schlüs-
selsatz geprägt: „Den Ergebnissen ist die
Motivation wurscht.“
Verantwortung zeigt sich bei einem Poli-
tiker im Besonderen, wenn er den Bürgern
etwas abfordern muss, auf die Gefahr hin,
dass diese das nicht ganz so großartig fin-
den. Dass Söder den Ernst der Lage und die
Notwendigkeit harter Maßnahmen früher
erkannt hat als andere, belegt ein Blick zu-

rück auf den Donnerstag vergangener Wo-
che, als sich die Ministerpräsidenten der
Länder in der Bayerischen Vertretung in
Berlin zur Krisensitzung trafen.
Mitglieder zweier unterschiedlicher De-
legationen und Parteien berichten, dass Sö-
der einer der Treiber war, nach ihrem Da-
fürhalten der stärkste. „Wir werden eine
Reihe von Maßnahmen beschließen, die
andere nicht wollen“, soll Söder den Kolle-
ginnen und Kollegen mitgeteilt haben.
„Wir werden nicht warten bis Ostern.“ Die
Debatte spitzte sich bei der Möglichkeit
von Schulschließungen zu. Söder vehe-
ment dafür, andere vehement dagegen.
Der Hesse Volker Bouffier (CDU) soll die
Idee „irre“genannt und vor einer Überfor-
derung der Bürger gewarnt haben. Der
Hamburger Peter Tschentscher und der
Berliner Michael Müller (beide SPD) sollen
die Sorge formuliert haben, dass man da-
durch mehr Probleme schaffe als man löse.
Es bildeten sich bunte Koalitionen: das
schwarze Bayern, das grüne Baden-Würt-
temberg, das rote Niedersachsen. Stephan
Weil, der niedersächsische Ministerpräsi-
dent (SPD), erklärte nach Teilnehmeranga-
ben, Schulschließungen seien früher oder
später unvermeidlich. Der baden-württem-
bergische Staatskanzleichef Florian Steg-
mann, der Winfried Kretschmann vertrat,
kündigte an, seine Regierung werde „Maß-
nahmen ergreifen“. Malu Dreyer, die SPD-
Ministerpräsidentin aus Rheinland-Pfalz,
soll darauf geantwortet haben, sie sei „ent-
setzt“ über dieses Vorpreschen. Manuela
Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern
(SPD) soll gemahnt haben, man müsse das
„Windhund-Prinzip“ vermeiden – einer
renne voraus, alle anderen hinterher. Auch
der nordrhein-westfälische Regierungs-
chef Armin Laschet (CDU) warnte dem-
nach vor einer „Sogwirkung“, wenn einzel-
ne Länder weiter gingen als andere.

Was ist ein Macher? Und wann wirft sich
jemand nur in „Macher-Pose“?
Später trafen die uneinigen Ministerprä-
sidenten mit Kanzlerin und Vizekanzler zu-
sammen. Deren Kurspräferenz wurde bald
deutlich. Angela Merkel (CDU) sagte nach
Teilnehmerberichten, man müsse nun al-
les herunterfahren in Deutschland. Olaf
Scholz (SPD) sekundierte, in einer solchen
Krise sei „Entschlossenheit am Anfang das
Wichtigste“. Als dann auch noch der Virolo-
ge Christian Drosten vor der Runde bekun-
dete, er halte Schulschließungen inzwi-
schen für die richtige Maßnahme, durften
sich Söder und seine Mitstreiter bestätigt
fühlen. Armin Laschet soll am Ende gesagt
haben: „Ich bin im Moment gegen das
Schließen, aber mir bleibt dann gar nichts
anderes mehr übrig.“ Einer rennt voraus,

die anderen hinterher, und der, der voraus
rennt, ist Markus Söder.
Es mag im ersten Moment seltsam oder
zynisch klingen, aber Markus Söder ist wie
gemacht für diese Krise. Oder diese Krise
für ihn. Wenn man mit Wegbegleitern
spricht, ergibt sich das Bild eines Mannes,
der seine persönliche Gesundheit seit vie-
len Jahren proaktiv verteidigt. Beim The-
ma Vorsorgeuntersuchungen, hört man,
mache Söder keiner was vor. Bei Impfun-
gen auch nicht. Einer sagt: „Der Mann ist
ein Hypochonder“, und das ist im März
2020 ein Kompliment. In der Coronakrise
hat Söder schon am Aschermittwoch mit
der Vermeidung von Handschlägen begon-
nen, als noch wenig von Corona und schon
gar nicht von Krise die Rede war.
Wenn jemand dieser Tage in Söders Nä-
he hustet, kann er nicht auf die Nachsicht
des Ministerpräsidenten hoffen – selbst
dann nicht, wenn es der stellvertretende
Ministerpräsident ist, der hustet. Hubert
Aiwanger von den Freien Wählern ist kürz-
lich auch mal die Nase gelaufen, und Söder
wirkte ganz und gar nicht so, als würde
ihm das entgehen. Vielleicht kann man sa-
gen: Söder kämpft um das Leben seiner
Bürger als ginge es um sein eigenes.
München, Großes Arbeitszimmer der
Staatskanzlei, Mittwochfrüh. Am Nachmit-
tag wird die oberpfälzische Gemeinde Mit-
terteich eine Ausgangssperre verhängen,
die erste in Bayern. Angela Merkel wird am
Abend eindringlich zur Nation sprechen; ei-
ne TV-Moderatorin wird sagen, Merkel ma-
che den Söder. Der Ministerpräsident spen-
det zur Begrüßung ein freundliches Ni-
cken, es ist dies für alle Beteiligten eine Pra-
xisübung im Social Distancing. Söder ent-
schuldigt sich für die Verspätung, er war
noch am Telefon, Schutzmasken organisie-
ren. Was bleibt an Normalität? Vielleicht
seine Star-Wars-Tasse. Söder erzählt nun
vom Regieren in Zeiten von Corona.
„Überlegen, entscheiden, umsetzen“,
das sei jetzt der Modus, in dem er sich be-
finde, sagt Söder. Das ist auch der Modus,
den er von seinem Kabinett erwartet und
von den Behörden. Verweist – etwa bei der
Beschaffung von Schutzmasken – irgend-
wo irgendwer auf Zuständigkeitsprobleme
oder fehlende Haushaltstitel, ruft Söder
auch mal persönlich an und sagt: „Das
muss gehen.“ Söder war schon immer un-
gnädig mit Leuten, die sein Tempo nicht
teilen. Das haben dem Vernehmen nach zu-
letzt auch ein paar seiner Minister erfah-
ren müssen, die meinten, man brauche
nichts überstürzen. Söder sagt, das klappe
schon mit dem Durchregieren.
Es gibt in Bayern aber auch Stimmen,
die fragen, warum in manchen Behörden
kein Homeoffice gewährt werde, wenn Sö-
der es wirklich so ernst meine. Können die
Fossilienzähler der Staatlichen Naturwis-
senschaftlichen Sammlung ihre Fossilien
nicht auch daheim zählen? Andere sagen,
dass man erst mal abwarten müsse, ob die
Staatsregierung all die Intensivbetten und

Beatmungsgeräte, die sie ankündige, auch
wirklich bereitstellen könne. Söder sagt,
man tue alles, was möglich sei: „Es ist wich-
tig, dass der Staat jetzt nicht versagt.“
Das „Primat der Medizin“, das er bei fast
jedem Auftritt erwähnt, ist jedenfalls nicht
immer ganz so einfach mit klarer politi-
scher Führung in Einklang zu bringen. „Es
ist schwierig, weil von den Medizinern un-
terschiedliche Aussagen kommen. Keiner
weiß es 100 Prozent. Und am Ende liegt die
Verantwortung bei der Politik“, sagt Söder.
Also bei ihm. Am Abend der bayerischen
Kommunalwahl sei Söder maximal eine
Stunde in der Parteizentrale gewesen,
heißt es in der CSU. Er habe Wichtigeres zu
tun gehabt. Aber bei aller Staatsräson:
Man erkennt bei ihm auch die Entschlos-
senheit eines Mannes, der im Landtags-
wahlkampf 2018 in den Abgrund blickte
und das kein zweites Mal tun möchte.
Es sind historische, zehrende Wochen,
bei Söders daheim in Nürnberg wird gera-
de eine Videoanlage installiert, damit der
Hausherr im Fall einer Infektion von dort
arbeiten kann. Markus Söder sieht trotz-
dem aus, als wäre er gerade aus dem Itali-
en-Urlaub zurückgekommen (ist er natür-
lich nicht). „Er ist in seinem Element“, sagt
einer, der ihn gut kennt, „Ärmel hochkrem-
peln, was bewegen, so war er schon im-
mer“. Wenn man sich die Trivialitäten an-
sieht, mit denen Söder früher umstände-
halber seine Tage füllte, kann man fast den
Eindruck gewinnen: Endlich hat er eine
Aufgabe, die seiner Energie gerecht wird.

Zur Ironie der Situation gehört der Um-
stand, dass Söder sich bei seiner Krisener-
klärung ausgerechnet des Satzes („Whate-
ver it takes“) eines Mannes bemächtigt
hat, der in der CSU in etwa die Beliebtheit
eines guten, alten Brechdurchfalls hat: des
Ex-Präsidenten der Europäischen Zentral-
bank, Mario Draghi. Alles zu tun, was nötig
ist – das hatte Draghi einst bei der Euro-
Rettung versprochen, und jetzt verspricht
es Söder bei der Virusbekämpfung. Ihm
kommt dabei zugute, dass er mal bayeri-
scher Gesundheitsminister war und mit
der Schweinegrippe zu schaffen hatte, übri-
gens schon damals im Duett mit seiner
Amtschefin Karolina Gernbauer, deren Ein-
fluss kaum zu überschätzen ist.
Anfangs hatte Söder italienische Maß-
nahmen in Bayern fast ausgeschlossen,
aber er hat erkannt, dass in dieser Krise
das, was gestern noch falsch war, heute
richtig sein kann. Was ist noch neu am Co-
rona-Söder? Gar nicht so viel. Er konnte
schon immer freier und pointierter reden
als viele andere deutsche Politiker; das hat
nur niemand gemerkt, solange er frei und
pointiert Dinge sagte, die vielen nicht pass-
ten. Er hat allerdings auch ein wenig an
sich gearbeitet. Es fällt auf, dass er – zumin-
dest oft – langsamer spricht als früher,
auch deutlicher, was schmerzlich auf Kos-
ten seines fränkischen Dialekts geht. Es
gibt gleich mehrere Christsoziale von
Rang, die für sich reklamieren, Söder zu
diesen Veränderungen geraten zu haben.
Die Coronakrise, sagt Markus Söder, sei
nicht nur ein „Stresstest“ für das System,
sondern auch ein „Charaktertest“ für die
Gesellschaft, für jeden Einzelnen. Der Aus-
gang, sagt er, sei ungewiss. Und er weiß ver-
mutlich, dass das auch für ihn selbst gilt.

DEFGH Nr. 66, Donnerstag, 19. März 2020 (^) DIE SEITE DREI HMG 3
Ein Mann für jede Rolle
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder gelingt gerade ein unerwartetes Kunststück:
Er findet in dieser extremen Zeit zu Maß und Mitte
von roman deininger und lisa schnell
Ultrasoft, Komfort, rosa, hellblau, alles da: Markus Söder (Mitte) überprüft am Mittwochmittag im Rewe-Zentrallager in Eitting, ob die Grundversorgung mit Klopapier gesichert ist. FOTO: PETER KNEFFEL/DPA
Der Soziologe ist kein Fan von
Söder, aber er lobt ihn – und muss
sich darüber selbst sehr wundern
Mit „Wir werden nicht bis
Ostern warten“ treibt er die
Ministerpräsidenten an
Er war schon gewarnt, als
andere noch fragten: Corona,
ist das nicht ein Bier?
Langsamer spricht er
inzwischen, deutlicher, auf Kosten
seines fränkischen Dialekts

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