Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

36 WOCHENENDE Samstag, 28. März 2020


Der demente


Vater


«Mein Vater liegt nun seit bald zwei
Wochen im Spital. Mitte März hatte er
über Schmerzen in den Beinen und im
Rücken geklagt undkonnte nicht mehr
aufstehen,deshalbriefmeineMutterden
Hausarzt an. Am folgendenTag wurde
er zur Abklärung ins Spital eingeliefert.
Dortfandmanzunächstnichtsheraus,bis
erdrei TagespäterdochnochaufCorona
getestetwurde,obwohlerkeinetypischen
Symptome aufwies. DerTest – genau an
seinem 86.Geburtstag – fiel positiv aus.
KeineAhnung,woersichangesteckthat,
aberdasspieltfürmichauchkeineRolle.
Esistjetzteinfachso,undwirhoffen,dass
er überleben wird.
IstdereigeneVatereinmalindiesem
Alter,denktmanalsTochterohnehinbei
jedemGeburtstag,obdasnunseinletzter
gewesen sei. Aber an diesem Geburts-
tag konnten wir ihn nicht einmal sehen.
Niemanddarfihnderzeitbesuchen,nicht
einmal meine Mutter. Die Blumen, die
ich bestellt hatte, musste der Liefer-
service an der Spitalpforte abgeben.
Wennwirihmwenigst ensschreibenoder
mitihmamTelefonredenkönnten,aber
nichteinmaldasgeht,weilmeinVaterzu
verwirrt ist durch seine Demenz.
Dasallesistschonfürmichschweraus-
zuhalten,und ich habe immerhin meine
Familie, die mich stützt. Viel schlimmer
ist es für meine Mutter. Sie ist 80, seit
55 Jahren verheiratet,und jetzt sitzt sie


Die verschobene


Hochzeit


«Eigentlich wolltenwir am 6.Juni in
der Provence in einem schönen, alten
Park hei raten. MeinFreund hatte im
September 2019 um meine Handan-
gehalten, und wir beschlossen, mög-
lichstschnelleinegrosse,schöneHoch-
zeit mit vielen Gästen aus der ganzen
Welt zu feiern.
Als die ersten Corona-Geschich-
ten auftauchten, wurden wir vorsichtig.
Aber erst am Dienstag, nachdem der
Bundesrat in der Schweiz die ausser-
ordentlicheLage ausgerufen hatte, be-
schlossen wir, die Hochzeit um einJahr
zu verschieben. Es war eineschwierige
Entscheidung. Wir sind beide in Genf
aufgewachsen und dort zur Schule ge-
gangen, seit zehnJahren sind wir ein
Paar. Es hätte uns viel bedeutet, in die-
sem Jahr zu heiraten und so unserJubi-
läum zu feiern.
Die Verschiebung ist für mich
schwieriger als für ihn. Ich hatte viel
mehr organisiert.Aber ich habekeine
Zweifel, dass es die richtige Entschei-
dung ist. Mein Vater hat Asthma, die
Grosseltern meinesFreundes hätten
aus Russland anreisen müssen,der
Trauzeuge ist aus den USA. Es wäre
einFestfürvieleLeutegewesen,dieso
zusammengefunden hätten. Mit Angst
geht das nicht.
In Frankr eich wollten sie unsere
Verschiebung zuerst nicht verstehen.
Sie sagten:‹Ihr habt zuviel Angst,
weil ihr in einer grossen Stadt lebt,
hier ist alles ruhig und schön.› Dor t
war Corona damals auch nochkein
grosses Thema. InSpanien muss da s
schon eine andere Situation gewesen
sein. Von dort hätte mein Hochzeits-
kleid kommensollen.AlsichdemHer-
stellerschrieb,erhieltichnur eineauto-
matischeAntwort.Siekönnten nur die
LieferungvonKleidernfürHochzeiten
im August garantieren.
Wir hatten zum Glückkeine rich-
tigen Flitterwochen geplant. Einfach
Ferien im Herbst.Das ist jetzt natürlich
auch unklar.Alles ist etwas unklar. Wir
sitzen jetzt einfach im Home-Office,ich
versuche über den Mittag jeweils alle
möglichen Dinge zu verschieben und
fürs nächsteJahr umzubuchen, Cate-
ring, Band,Fotograf usw.
Vielleicht feiern wir am 6.Juni zu
zweit eine Art Nichthochzeit, ich in
einem schönen, weissen Kleid, viel
Champagner, einfach um ‹unserem

Das Ferne


wird nahe


«Mein Partner und ich machen seit drei-
einhalbJahren Social Distancing, und
zwar über1700 Kilometer Entfernung:
Wir leben in einerFernbeziehung. Er
arbeitet in der Entwicklungszusammen-
arbeit imAusland,ich bin durch meinen
BerufimKulturbereichanZürichgebun-
den.Doch plötzlich ist alles anders.
Auch ich muss inzwischen von zu
Hause arbeiten, und als die Meldung
des Lockdown kam, habe ich gedacht:
Ausgerechnet der einzige Mensch, den
ich an mich heranlassen dürfte, zu dem
Nähe möglich ist,ist nicht da.Hingegen
kann ich durch dieAusgangsbeschrän-
kungenmeineFreundinnennichttreffen,
zudenenicheineengeBeziehungaufge-
bauthabe.LebtmanineinerFernbezie-
hung,mussmansichanderenMenschen
gegenüber öffnen, wenn man nicht als
Eremitin enden will. MeinPartner und
ichhabenunszwareinmalimMonatge-
troffen, sind hin- und hergeflogen und
haben auch dieFerien zusammen ver-
bracht. Das bedeutete aberimmer noch
drei WochenendeninFolgeohneihn.Die
Umstände haben uns also auch gelehrt,
nicht so auf den andern fixiert zu sein,
uns eine eigeneWelt zu bewahren.
Diesen Sommer wäre dieArbeit mei-
nesPartnersimAuslandzuEndegewesen.
Wegen der Corona-Krisekehrten er und
sein Team nur schon vor ein paarTagen
zurück. Definitiv. Meine Fernbeziehung
istplötzlichwiederzueinerräumlichsehr
nahen Beziehung geworden.
Natürlich freuen wir uns darüber.
Gleichzeitig müssen wir uns von heute
auf morgen neu aneinander gewöhnen.
Auch er arbeitet momentan im Home-
Office ,wirsindalsorundumdieUhrzu-
sammen.Ich konnte in den dreieinhalb
Jahrensoleben,wieichwollte,muss tein
derWohnung auf niemandenRücksicht
nehmen.AusserwennerfüreinWochen-
ende heimkam,schon da brauchtees
manchmal eine kleine Anpassungsleis-
tungvonunsbeiden–nichtschlimm,aber
man gewöhnt sich ans Alleinsein. Die
Verbundenheitistjatrotzdemimmerda.
Ich hätte mir den Einstieg in unser
Zusammenlebensanftervorgestellt.Wir
wollten im Sommer als Übergang drei
WochenFerienmachen,danachgemein-
sam zurückkehren,uns einrichten.Jetzt
sindwirdazuverdammt,denganzenTag
zusammenzusein–schnelleralserwar-
tet und intensiver als gedacht.»
Aufgezeichnetvon bgs.

Die glückliche


Mutter
«Hanna ist zweiTage vor dem ominö-
sen Freitag, 13.März, auf dieWelt ge-
kommen, als der Bundesrat mehr oder
weniger das ganzeLand geschlossen hat.
Mein Mann, durfte bei der Geburt dabei
sein.Am nächstenTag wa ren unsere bei-
den älteren Kinder sowie meine Schwie-
gereltern kurz zu Besuch,am übernächs-
ten wurde bereits ein Besuchsverbot ver-
hängt. Es ist unser doppeltes Glück,dass
wirunsschonvordemCorona-Ausbruch
füreinGeburtshausundnichtfüreinSpi-
talentschiedenhatten,dennimSpitalsind
siejetzterstrechtmitallemanderenüber-
lastet.IchhabevoneinemPaargehört,das
mit seinem Neugeborenen gleich im Ge-
bärsaal des Spitals übernachtet hat, weil
dieser nicht sofort für eine nächste Ge-
burtbenötigtwurde.Andernfallshätteder
Ehemann wieder gehen müssen.
Am 16. März stand mein Mann mit
den Kindern vor dem Geburtshaus, um
michabzuholen.Klar,esisteinigesande-
res,alsesbeiRoman,2,undLuana,4,war.
MeineHebammemachtimRahmender
Nachbetreuung nunkeine Hausbesuche,
sondernberätmichperTelefon.Unddie
GrosselternfallenfürdieBetreuungihrer
Enkel aus. Es tut uns leid, dassFreunde
und Verwandte Hanna jetzt nicht se-
hen können,doch alsFamilie betrachten
wir diese Situation als Gewinn.Denn so
habenwirnichtständigBesuch,derAuf-
regung mit sich bringt. Umso mehrkön-
nenwirunsaufunsselberkonzentrieren
undhabenZeit,damitdieFamilieeiniger-
massen inRuhezusammenwachsenkann.
Mein Mann schmeisst den Haushalt und
sorgtfürdiebeidengrösserenKinder,ich
konzentrieremichaufHanna.Abnächs-
ter Woche macht er Home-Office. Die
Kinder werden sich erst noch daran ge-
wöhnen müssen, dass sie denPapi nicht
bei derArbeit stören dürfen.Ich bin ge-
spannt, wie das zu fünft zu Hause funk-
tionierenwird.Sooderso,esgibtschlim-
mere Gefängnisse.
Aufgezeichnetvon beg.

«Der Partner kann einemdieWünsche nicht von denAugen ables en;wir müssenunsereAnliegen formulieren und immer wieder neu justieren,wenn es knirscht.» ANNICK RAMP / NZZ

ganzalleineinihrerWohnung .MeinBru-
derundichhabenlangeüberlegt,wiewir
ihr das Testergebnis überbringen sollen.
Telefonieren?Oderdochhingehen?Wir
haben uns schliesslich fürsTelefonieren
entschieden,weil wir ja nicht wissen,ob
wir selberTräger desVirus sind. Meine
Mutterhat recht gefasstreagiert. ‹Man
kann nichts machen›, sagte sie, und ge-
nau so ist es. Jetzt ist sie einfach nur un-
endlich müde, da ihre ganzeArbeit und
jahrelangePflegesoplötzlichwegfallen.
Sie ist müde, aber tapfer.
MeinVaterliegtmitdreianderenCo-
vid-19-PatientenineinemZimmer.Mein
BruderhälttäglichtelefonischenKontakt
zumbehandelndenArzt,ichdenKontakt
zur Pflegefachfrau,die ihn betreut.Mitt-
lerweile istVaters Lunge entzündet, das
Fieber gehtrauf und runter und wieder
rauf,erschläftsehrvielundisstwenig.Im
Moment ist er stabil, doch bei Covid-1 9
kann morgen schon allesand ers sein.
Es ist beeindruckend, wirklich un-
glaublich beeindrucken, wie die Leute
imSpitalRuheundZeitfindenundsich
auch noch um die Angehörigen küm-
mern. Das Spitalpersonal und auch die
SpitexsindmeineHelden.Ohnesiegäbe
es keine Pflege für meinenVater. Wir
sindsodankbardafür,dasssiezumBei-
spieldieFamilienfotos,diewirinsSpital
gemailt haben, ausgedruckt und neben
seinem Bett aufgehängt haben. Offen-
bar erkennt meinVater uns darauf und
erz ählt dem Pflegepersonal von seiner
Familie.WennmeineMutteranruft,dann
hältdiePflegefachfraudenTelefonhörer
anseinOhr,weilerdasselbernichtmehr
schafft. Oder der Arzt, der heute von
VatersBettausmitmirgeskypthat.Wie
schön,dassichihnwenigst ensauf diesem
Weg wieder sehenkonnte, auch wenn
er mittendrin einschlief und vermutlich
gleichwiedervergessenhat,dasserkurz
mitseinerTochterundseinerEnkeltoch-
tergesprochenhatundwissenwollte,wie
denn dasWetter bei uns sei.
Ich rufe meine Mutter jedenTag
an, aber was wir dabei immer auslas-
sen: dass meinVater sterbenkönnte.
Ich schaffe das einfach nicht. Sie klam-
mert sich so sehr an die Hoffnung, dass
ihr Mann wieder gesund zurückkommt.
Ichwürdemirzutrauen,siedaraufanzu-
sprechen, wenn wir beide nebeneinan-
der auf dem Sofa sitzen und uns in die
Augen sehenkönnten. Aber bloss am
Telefonistdasextremschwierig.Wiege-
sagt, wirkönnen nur warten. Und hof-
fen, dasskein Anruf mit einer schlech-
ten Nachricht aus dem Spitalkommt.»
Aufgezeichnetvon beg.

Veränderte


Beziehungen


Krankenbesuche,


Hochzeiten, Geburten und


Partnerschaften – alles ist


anders geworden.


Datum› Adieu zu sagen. Ich habe jetzt
einJahrZeit,umnochmalsinsFitnesszu
gehen.Dann müsste ich zwar das Kleid
anpassen lassen, aber das ist ja sowieso
noch nicht produziert.»
Aufgezeichnetvon msl.
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