Samstag, 28. März 2020 MOBILITÄT 49
Frisch aus dem Backofen
In ei nem Hangar in Denver en tsteht gerade das erste privat gebaute Überschallflugzeug de r Welt. Sein Rumpf besteht
aus einer Karbonstruktur, die bei mehrere n hundert Grad Celsius aushärtet.VON ANDR EAS SPAE TH
Früher dröhnten in einer Flugzeug-
fabrik stets die Niethämmer. Im Han-
gar von Boom Supersonic am Centen-
nial Airport von Denver im US-Glied-
staat Colorado ist es dagegen ziemlich
still. Es sieht fast aus wie in einem riesi-
genLabor, peinlich wird auf Sauberkeit
geachtet. Hier fallenkeine Späne und
kreischenkeine Maschinen. Es wird ge-
radezu chirurgische Präzisionsarbeit ge-
leistet, mithilfe vonLaser-Messgeräten
auf Hundertstelmillimeter genau.Will-
kommen in der Flugzeugschmiede des
- Jahrhunderts. «Wir sind jedenTag
wieder aufgeregt, hier in unserem Han-
gar die Zukunft des Fliegens heran-
reifen zu sehen», sagt Blake Scholl. Der
pausbäckige 39-Jährige ist der Chef des
Tech-Unternehmens Boom Supersonic,
das bis Ende desJahrzehnts mit der
Overture den erstenkommerziellenPas-
sagierjet mit Überschallgeschwindigkeit
sei t der Concorde in den Linienbetrieb
bringen will. Ideen und Projekte dafür
hat es schon oft gegeben, nie wurde dar-
aus mehr als vielPapier. Boom macht
es tatsächlich. Zumindest den ersten
Schritt, denn derreift unübersehbar he-
ran hier im Hangar: Die XB-1, genannt
«Baby-Boom», ein zweisitziges Demons-
trationsflugzeug, ist der erste jemals pri-
vat finanzierte und gebaute Überschall-
jet derWelt. Die XB-1 ist 21 Meter
lang, weist 6,40 Meter Spannweite auf
und kann zweiTestpiloten mit bis zu
2,2-facher Schallgeschwindigkeit (Mach
2,2 oder etwa 2700 km/h) maximal 1900
Kilometer weit befördern.
Einen Grossteil ihres bisher einge-
sammelten Kapitals von 200 Millio-
nen US-Dollar an Investorengeldern
investiert Boom in ihr erstes Flugzeug,
das nach einer jüngstenVerschiebung
nun nicht mehrin diesem Jahr, sondern
Mitte 2021 fliegen soll.Verspätungen
treten bei technisch sokomplexen wie
kostenintensiven Programmen grund-
sätzlich auf. DerBaby-Boom-Demons-
trator, etwa ein Drittel so gross wie
der spätere Overture-Passagierjet, soll
in einem ausführlichenTestprogramm
das technischeKonzeptvalidieren, be-
vor dann dasVerkehrsflugzeug entsteht.
Das Unternehmen sieht einen grossen
Nischenmarkt für neue Überschallflüge,
nachdem bereits 2003 dieConcorde-Ära
geendet hat.Dank neuenTechnologien
soll das Flugzeug so wirtschaftlich sein,
dass für Überschall-Tickets nicht mehr
als für heutigeLangstreckenpassagen in
der Businessclass verlangt werden muss.
Gleichzeitig wird es nur etwa dreiVier-
tel so gross sein wie seine britisch-fran-
zösischeVorgängerin. Der neuePassa-
gierjet weist eineLänge von51,8Metern
und eine Spannweite von18,2 Metern
auf und ist damit erheblich kleiner als
die Concorde (Länge 62 Meter, Spann-
weite 25,5 Meter). In der Overture-Ka-
bine finden statt wie 100 in der Con-
corde maximal 75Passagiere Platz, alle
in bequemer Anordnung von nur zwei
Sitzen proReihe (vier in der Concorde),
beide zugleich jeweils anFenster und
Gang gelegen.
Flugzeiten purzeln
Die kleineren Dimensionen der Over-
tur e beflügelt die Hoffnung der Desi-
gner, den bisher unvermeidlichen Über-
schallknall einzugrenzen, und erlaubt
dem Flugzeug möglicherweise ein grös-
seres Einsatzfeld. Die Concorde durfte
nur über Ozeanen mit Überschalltempo
unterwegssein , auch Boomgeht zu-
nächst davon aus, dass das Überschall-
verbot über Land vorerst bestehen
bleibt, obwohl die US-Luftfahrtbehörde
eine Änderung für leisere Überschall-
jets prüft.Trotzdem sieht Blake Scholl
500 möglicheRouten für Flüge mit dop-
pelter Schallgeschwindigkeit auch über
Wasser. Von London nach NewYork in
drei Stunden und fünfzehn Minuten (an-
statt sieben Stunden), von SanFrancisco
nachTokio in kaum fünfeinhalb Stun-
den (statt elf) oder von LosAngeles nach
Sydney in sechs Stunden und fünfund-
vierzig Minuten anstelle von fünfzehn
Stunden. Die langenTranspazifikstre-
cken erfordern einenTankstopp, ohne
Auftanken ist dieReichweite mit 830 0
Kilometern gerade etwas zu kurz für die
Strecke von Kalifornien nachJapan.
Niemand weiss, wie sich der Flug-
markt durch dieAuswirkungen der
Corona-Krise auf den Luftverkehr ent-
wickelt, aber bei Boom sind bereits nam-
hafteAirlines an Bord. Virgin Atlantic
Airways von Richard Branson hat mit
der nicht rückzahlbaren Leistung von
Summen in zweistelliger Millionenhöhe
Optionen für zehn Overtures erworben
und stellt Anlagen und Expertise seines
Raumfahrtunternehmens Virgin Ga-
lactic zurVerfügung. Ein wesentlicher
Unterstützer ist auch die Fluggesell-
schaftJapan Airlines (JAL), die zwan-
zig Flugzeuge bestellt und angezahlt
hat. Gleichzeitig sind dieJapaner jetzt
schon Stammgäste im Hangar in Denver
und helfen Boom mit ihrer operativen
Expertise aus dem Alltagsbetrieb bei
der Entwicklung. «Ein Überschallflug-
zeug wirdJapan endlich zugänglicher für
die Welt machen, wenn etwa dieFlugzeit
vonTokio nach SanFrancisco mehr als
halbiert wird», sagtYasushi Omori, Chef
der Geschäftsentwicklung beiJAL, wäh-
rend er mit seinemTeam wieder einmal
in Denver zu Gast ist. «Wir wollenBoom
bei der Umsetzung dieses ambitionier-
ten, aber sehr anspruchsvollen Projekts
unterstützen, weil wir überzeugt sind,
dass eine bestimmtePassagierklientel
künftig grossenWert auf höhere Ge-
schwindigkeit beim Fliegen legen wird»,
so Omori.
Der technischeFortschritt hat seit
demBau der Concorde in der zwei-
ten Hälfte der1960erJahre Quanten-
sprünge gemacht, etwa im Bereich von
Material undTestverfahren, was vor
allem für wesentlich schnellere Ent-
wicklungszyklen sorgt. Ein gutes Bei-
spiel sind die jüngstenWindkanaltests
für die XB-1 – unerlässlich, um die aero-
dynamische äussereForm eines Flug-
zeugs zu definieren. Bei der Concorde
dauerte diesesVerfahren einJahrzehnt,
Hunderte von Modellen mussten gebaut
werden. Heute liess sich bei der Gestal-
tung der XB-1 vieles in Computersimu-
lationen berechnen, die tatsächlichen
Windkanalversuche mit Modellen dau-
erten nicht einmal einJahr. Entschei-
dend beimVersuch, einen Concorde-
Nachfolger zu entwickeln, ist neuartiges
Material. «Kohlefaser-Verbundwerk-
stoffe machen Überschallflugzeuge erst
möglich, mit grösserenFenstern, und
derRumpf dehnt sich durch dieRei-
bungshitze nicht mehr so stark aus wie
die Concorde aus Aluminium», erklärt
Scholl. Bei denTriebwerken setzt Boom
auf Bewährtes, die Baby-Boom wird von
drei modifizierten und lange bewährten
General-Electric-Turbinen angetrie-
ben.«Wir nutzen die gleicheTechnolo-
gie wie in Unterschalljets, die Motoren
sindTurbojets, wiesie auch in Marsch-
flugkörpern eingebaut sind», so Scholl.
Simulationsta tt Windkanal
Unterdessen geht die Fertigstellung
des Rumpfes der XB-1 in Denver
mit grossen Schritten voran, niemand
kann das so enthusiastisch erklären wie
Blake Scholl, dessen Unternehmen in-
zwischen 130 Mitarbeiter beschäftigt.
«Kürzlich haben wir dieAussenhaut
derTragfläche aufgesetzt, dasist wie
ein mikrochirurgischer Eingriff und
verlangt unglaubliche Präzision.» Die
Struktur bestehtim Wesentlichen aus
Kohlefaser-Verbundwerkstoff (CFK),
leicht und extrem fest. «BeideTrag-
flä chen mit ihren 6,40 Metern Spann-
weite und das sie verbindende Mit-
telstück bestehenaus einem einzigen
Teil, das wiegt insgesamt gerade 230
Kilogramm», erklärt der Boom-Chef.
Zunächst werden einzelne Segmente
zusammengeklebt und unter hohem
Druck verbunden. «Bei der Bugsektion
haben wir einenDruck von 400 Kilo
erzeugt, um das fest zusammenzufügen,
so ähnlich wie eine Anakonda ihre
Beute umschlingt», sagt Scholl lachend.
Anschliessend werden die mitKunst-
harz getränkten Karbonstrukturen
zweieinhalb Stunden lang bei mehreren
hundert Grad Celsius in einem gros-
sen Ofen, demAutoklaven, «gebacken»,
damit sie aushärten. Sogar bei diesen
Arbeitsschritten sind bereits die beiden
Testpiloten zugegen, die im nächsten
Jahr in der Mojave-Wüste im dafür frei-
gegebenen sogenannten «Überschall-
Korridor» das umfangreiche Flugtest-
programm beginnen sollen, ausschliess-
lichmitnachhaltigemTreibstoff. «Ich
sehe neue Überschall-Linienflüge erst
frühestens in einemJahrzehnt, zumal es
schwierig sein wird, den Knall zu ver-
mindern, aber wenn Boom das gelingt,
wäre das ein technischer Triumph»,
sagt Bernd Liebhardt,Wissenschafter
beim Deutschen Zentrum für Luft- und
Raumfahrt (DLR) in Hamburg. Aber
zuerstkommt derBaby-Boom, so viel
Die Overture soll dereinst Überseereisen deutlich verkürzen. - scheint sicher.
Die zweisitzige XB-1, genannt «Baby-Boom», wird Geschwindigkeiten bis zu 2700Kilometer pro Stunde testen. BILDERPD