Neue Zürcher Zeitung - 28.03.2020

(Tina Sui) #1

52 WOCHENENDE Samstag, 28. März 2020


Gotthard Schuh: «Zöglingebei Perugia», 1929. © GOTTHARD SCHUH / FOTOSTIFTUNG SCHWEIZ

Absurdes


Ballett


Hier zeigt und beschre ibt die Fotostif tung
Schweiz (fss.) wöchentlich Highlights der
Schweizer Fotografie aus ihrerSammlung.

IN JEDER BEZIEHUNG


Der Machtverlust der blon den Frau


Von Bi rgit Schmid


Wir gehen zurück zur Natur. Kosme-
tikstudios und Coiffeure sind geschlos-
sen, undes bleibt uns allenkeine an-
dereWahl, als etwas zu verkommen. Für
blonde Menschen bedeutet das, dass sie
dunkler werden. Oder grau. Denn nur
zwei Prozent derWeltbevölkerung sind
natürlich blond. Die anderen lassen sich
die Haare färben: die Goldblonden, die
Platinblonden, die Aschblonden.
Wenn sich nun die Schnitte auswach-
sen und der Scheitel sich verdunkelt, so
ist das weniger ein Problem als vielmehr
eine interessante Erfahrung. Für Men-
schen jeder Haarfarbe. Jedenfalls treibt
es uns auch in der Krise um: Als Boris
Johnson, der blond gefärbte Staatschef,
AnfangWoche den Lockdown in Gross-
britannien verhängte, stürmten die Bri-
tinnen noch einmal die Haarsalons, als
könnten sie es nicht ertragen, in den
nächstenWochen ihren sich entfärben-
den Häuptern im Spiegel zu begegnen.
Haare symbolisieren Kraft, Gesund-
heit, Erotik.Das erlebt jeder, der sich
von langen Haaren trennt. Mit jeder Lo-
cke, die zu Boden fällt, verliert man an
Macht. Man möchte weinen.
Dasselbe magische Denken betrifft
die Haarfarbe. Das wissen die Blonden.
Sie machen sich gerade darum blon-
der, weil sie um denSymbolgehalt des
Blondseins wissen. Blond ist die Haar-
farbe, über die es die meistenVorurteile


gibt, die aber nach wie vor vieleFrauen
begehren und viele Männer anFrauen
begehrenswert finden.
Was macht denReiz der Blonden
aus?Eine Blondine, eine Brünette und
eineRothaarige gehen in einen Klub.
Das ist kein Witz, es war tatsächlich ein
Experiment.Darin untersuchte man,
wie sich Männer einerFrau imAusgang
annähern jenach Haarfarbe, die sie
trug. Die Frau war immer dieselbe. Sie
trug dieselben Kleider, war gleich ge-
schminkt, sass mit demselbenAusdruck
an derBar. Nur die Haarfarbe wechselte
sie. Überraschtes? Die Blondine wurde
am häufigsten angesprochen.
In einer zweiten Studie wurden den
Männern nurFotos derFrau mit je
anderer Haarfarbe gezeigt. DieMän-
ner hielten die Brünette für besonders
attraktiv, für intelligent und aufgeschlos-
sen. Die Blondine wurde als bedürftiger
wahrgenommen. DieForscher führten
beide Ergebnisse zusammen und kamen
zu d em Schluss: Eine als bedürftig emp-
fundene Blondine fördert das Selbstver-
trauen der Männer. Blond verkleinert
deren Angst, in einem Nachtklub-Set-
ting zurückgewiesen zu werden.
Was heisst das nun? Blondinen wir-
ken offenbar immer noch so, als woll-
ten sie beschützt werden, wodurch sich
Männer ermächtigt fühlen.Wohl auch
deshalb hielt Alfred Hitchcock blonde

Schauspielerinnen für die besten Opfer.
Sie verkörpernReinheit. Sie seien«wie
unschuldiger Schnee, auf dem blutige
Fussspuren sichtbar werden».
Die Nachtklub-Studie zeigt: Kli-
schees halten sich.Von bedürftig ist
es kein weiterWeg zu unbedarft, also
dumm. Blond ist ein Klischee. Das muss
eineFrau wissen, die sich die Haare
blondieren lässt. Statt sich aufzuregen,
soll sie über Blondinenwitze lachen, so-
fern sie lustig sind. Madonna war souve-
rän darin, als sie ihreWelttournee 1990
«Blond Ambition» nannte.
Frauen sagen gern, sie täten es «nur
für sich», wenn sie sich verschönern. Die
Sorgen, die sie während des Hausarrests
wegen ihrer Haare haben, geben ihnen
recht. Wem zeigt man sich denn noch?
Doch bald dürfte bei derFarbwahl wie-
der einen Einfluss haben, was Studien
belegen: Blond gilt als attraktiv, weil es
mehrAufmerksamkeit auf sich zieht.
«HelleFarben fallen auf», schreibt
die Biologin Jena Pincott in ihrem
Buch «Do GentlemenReally Prefer
Blondes?». Deshalb hilft man künst-
lich nach. Sie schreibt: «Blonde Haare
verbindet man mitJugend, da das Haar
nach der Pubertät dunkler wird.»
Auch das ist eine Angst, die Corona
schürt, wenn die Haare nun täglich 0,4
Millimeter wachsen: zu sehen, wie lange
das her ist seit damals.

Sich auswa chsende


Schnitte und sich


verdunkelnde Scheitel


treiben uns au ch


in de r Krise um.


fss.· «Ich bin mir bewusst, dass meine
frühen Photographien den heutigen Be-
trachter nicht mehr überraschen. Ihr In-
halt und ihreForm sind uns mit der
Zeit selbstverständlich geworden. Aber
als sie entstanden, waren sie in beidem
revolutionär», schrieb Gotthard Schuh
(1897–1969) über seinFrühwerk. Er be-
zog sich auf Bilder wie «Zöglinge bei
Perugia» von1929. Noch bevor sich

Schuh demFotojournalismus zuwandte,
entdeckt er um diese Zeit, von der Male-
rei herkommend, dieFotografie alsAus-
drucksmittel. Sein Interesse galt einer
klaren,unpathetischen Bildsprache und
der Möglichkeit, auch alltägliche Situa-
tionen in eine aufregende visuelle Er-
fahrung zu übersetzen. Mit der Kamera
konnte Schuh etwa diejenigen Zufälle
des Lebens erfassen, die dem mensch-

lichenAuge sonst verborgen bleiben.
OderKonstellationen sichtbar machen,
welche dieWelt in ein absurdesBallet t
verwandeln. Bei den spielenden Zöglin-
gen geht es nicht so sehr um einenkon-
kreten Ort oder das Dokument einer be-
stimmten Zeit. Es sind die simultanen
Gesten und Haltungen, das spannungs-
volle Nebeneinander der verschiedenen
Figuren und Bewegungen, die denReiz

der Fotografie ausmachen. Die formale
Kraft des intuitiv erhaschtenAugen-
blickskonnte Gotthard Schuh aber erst
bewusst werden, als er dieAufnahme
in derDunkelkammer entwickelte und
vergrösserte.
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