Museum imAufbau:Stationen
des DichtersinTübingen,
Lauffenund NürtingenSeite2
Einegroße Liebe, eine Flucht,
ein Freund: Hölderlin in
Homburgund FrankfurtSeite3
Der entrückteDichter und
die Fragenachseinergeistigen
Gesundheit.Seite6
Hölderlin im Krautrock,
im Film und in der bildenden
Kunst.Seite5
Spuren des Dichtersinder
Literatur,der Philosophie und
in der Musik.Seite4
Schwäbische Reise Im Taunus und am Main Ein beglückendes Rätsel Sing den Hyperion! Am Ende derTurm
Feuilleton live
D
ie Geschichteder Freund-
schaftzwischen Hölderlin
und Hegel, so wie sie zumeist
erzählt wird, steht imZeichen
vieler Gegensätze. Der dichte-
rischste aller Dichter und der philoso-
phischste aller Philosophen. Derständig
auf Wanderschaftbegriffene Poet und der
auf urbane Sesshaftigkeit sowieruhigeAr-
beitsumstände bedachte Denker.Die steil
aufstrebende und jäh abfallende Lebensli-
nie hier,die sehr langsam in Gangkom-
mende, dann aber über dreißig Jahrehin-
wegkontinuierliche Produktivität dort.
Hölderlin erscheintals dieVerkörpe-
rung der Jugend, deren Geniuserinsei-
nen Gedichten lobt.Hegel nannten seine
Freunde, schon als er zwanzigwar, den „al-
tenMann“. Hölderlinwarvon früh an ei-
gentlichständigverliebt, hat als Hausleh-
rererstinThüringen ein uneheliches Kind
mit der Gesellschafterin seiner Diensther-
rin, um dann inFrankfurtmit sechsund-
zwanzig die sein Schicksal bestimmende
Liebe zur nächstenDienstherrinzudurch-
leben.Auch Hegel wirdein uneheliches
Kind haben,aber erst mit siebenunddrei-
ßig undvonseinerVermieterin, die er mit
dem Kind in Jena zurücklässt.Mit vierzig
beschließt erdann, es sei nunwohl Zeit zu
heiraten. Als 1798 Hölderlins Roman „Hy-
perion“ erschien, hatte Hegel nochnichts
publiziertals eine anonym herausgekom-
meneÜbersetzungvonBriefen überdie
politischen Verhältnisse imWaadtland,
und es wirdweitereneun Jahredauernbis
zu seinemersten Buch. Erveröffentlicht
es justindem Moment,indem Hölderlin
verstummt.Inseinemgesamtenweiteren
Werk wirdder Name Hölderlins nichtvor-
kommen.VonHölderlins Gedichten wie-
derum istnicht eines Hegelgewidmet,
und Hölderlinwardurchaus einsehr wid-
mender Dichter.
So könnteman ewig weiter entgegenset-
zen, aberallesliefenur auf die eineFrage
hinaus,worindenn dieFreundschaftder
beiden bestand. Die Spruchweisheit, dass
Gegensätzesichanziehen,hilftdabei
nichtweiter .Denn eswardurchausetwas
Gemeinsames,wassie etwa zwölf Jahre
lang aneinander band.
Hölderlin und Hegel lernten sichals Ju-
gendliche unter ebenso bedrückendenwie
zumgedanklichenAustauschdrängenden
Umständenkennen.Von1788 anwaren
sie Insassen desTübingerStifts, einer Art
vonprotestantischem Bildungskloster als
Teil der dortigenUniversität.Hier sollten
sie zu einem Beruf ausgebildetwerden,
den beide,wenn nicht an sich, so dochfür
sichablehnten: Pfarrer. Weil Pastoren da-
mals nicht nur als Seelsorgerverstanden
wurden, sondern als Instanz der öffentli-
chen Verbreitungvon Gesinnungen, die
demStaatswohl im HerzogtumWürttem-
bergfrommten,war ihreAusbildung
streng reguliert. So empfanden sie sich
nicht nur räumlichund durcheinenstrik-
tenStundenplan eingepfer cht, sondern
auchgeistig: Gepredigtwurde ihnenvoral-
lem die sogenannteTübingerOrthodoxie,
eine raffinierte Lehre,wonachsogut wie
alles,was manwissen,vorallem aber tun
muss, biblischunter derVoraussetzung ab-
leitbar ist, dassTugend zu einem An-
spruchauf einewiges Leben führt.
Das wurde denStiftlernsogar alsFolge-
rung aus der Moral- undReligionsphiloso-
phie ImmanuelKantsverkauft. Dochers-
tens lasen sieKant anders,und zweitens
lasen sieweit überKant hinaus: Spinoza,
Rousseau,Herder,Schiller,Platon, die an-
tikenTragödien. IhreAnstrengungengal-
tendem Versuch, diese unterschiedlichen
Gedankenwelten zuvereinen. Hegel, dem
nochunklar ist,wasermit sichanfangen
soll, zieht daraus den Auftrag zurVolkser-
ziehung, einer Art säkularem Priestertum
im Rahmen einer erst nochzugründen-
den, angstfreien,das Herz ansprechenden
und den Gemeinsinn fürTugend beleben-
den Religion. InParishatteman 1789
nicht nur ähnlicheIdeen, in Pariswares
zu einerRevolutiongekommen, als deren
Ursache damalsalle„Ideen“ bezeichne-
ten. DieAussicht, dasgesellschaftliche Le-
be nnicht aufTraditionen, Bajonetteund
Theologie, sondernauf Vernunftzugrün-
den, entzündetedie TübingerGemüter.
Hölderlin, dem der Dichterberuf im
BildSchiller svorschwebt, fragteals Ers-
ter, welcher Artdiese Vernunftsein müs-
se. Dabei erkennt er eine zweifache Anfor-
derungan sie. VernunftmussFreiheitund
insoferndie Fähigkeit beinhalten, unbe-
dingtenForderungen an sichselbst zu fol-
gen. Vernunftist Selbstgesetzgebung. Sie
soll aber auchein vereinigendes Prinzip
sein, eines, das nicht nur auf Individuen,
sondernauchauf Gemeinschaftenanzu-
wenden ist. EineVernunft, die sichbei-
spielsweiseinstrikten GegensatzzuNa-
tur,Sinnlichkeit, Schönheit bringe, seikei-
ne. „Henkaipan“ –Einheitvonallem,ge-
hörte zu den Losungender TübingerStu-
dentenzeitvon Hölderlin und Hegel. In ei-
ner frühenNotiz hält Hegel in diesem Sin-
ne fest,Liebe undVernunftähnelten ein-
ander,weil es beide Male darumgehe,
sichinetwas anderem zufinden.Hölder-
lin wiederum unternimmt einenVersuch
nachdem anderen, schon in der Liebe
selbstdiesen überwundenenGegensatz
zwischen „sichfinden“ und „sich hinge-
ben“ zu bestimmen. In einem berühmtge-
wordenenFragmentvon1795 –Hölderlin
warnach Jenagezogen, um dortbei Jo-
hann GottliebFich te zu studieren–heißt
es: Selbstbewusstsein istnur möglich, in-
dem ichmichvon mir selbsttrenne, aber
im Entgegengesetzten als dasselbe erken-
ne. AllenTrennungenvonSubjekt und Ob-
jekt gehe also eineursprüngliche Einheit
voraus, die wiederherzustellen das Ideal
jedweden Erkennens undTuns sei.
Hegel, der nachdem Studium als Haus-
lehrer in Berngearbeitethatte, wurden
dieseÜberlegungen Hölderlins in derge-
meinsamenFrankfurterZeit bekannt. Es
istdie Zeit von1797 bis 1800,inder er erst
zum Philosophen wird. Er erkennt durch
Hölderlin, wieForschungenvonDieter
Henrichund Christoph Jammegezeigt ha-
ben, dassphilosophischesWissen eine
Kraf tvoraussetzt, die alleGegensätzever-
bindet, ohne sie unsichtbar werden zu las-
sen. Zunächstnennterdiese Kraft„Le-
ben“. Denn Organismen sindGanzheiten
vonTeilen, die es nur gibt,weil si everei-
nigt sind und an derganzen„Organisati-
on“teilhaben. Andererseits abergehört
zum Leben auchdie Differenzierung in
Teile, dievoneinandergetrennt sind.
Menschen wiederum haben ein indivi-
duelles Leben nur durch Beziehung zu an-
deren,vondenen sie sichzugleichunter-
scheiden. Eine lebendige, selbstbewusste
und vernünftigeGemeinschaft, das Ideal
der JugendschriftenHegels,setzt Individu-
en voraus, dieweder in ihrverschwinden
nochsichvon ihr trennen. DieseFigur,die
EinheitvonVerbundenheit und Entgegen-
setzung,findet Hegel auf allenEbenen
des natürlichen, individuellen undgesell-
schaftlichen Lebens in einer „Unendlich-
keit vonGestal ten“. Nimmt man aus ihr
„dasTote und sichTötende der Mannigfal-
tigkeit“ heraus,könne die Gesamtheit die-
ses unendlichenLebens auch„Gott“ge-
nanntwerden oder „Geist“.
Aber es gibtden Tod. DieTrennung
der EinzelnenvomGanzen, und mithin
das Leben,kann für Hegel darum nicht
nur alsVereinigung beschriebenwerden,
sondernessei „dieVerbindung derVer-
bindung und Nichtverbindung“, mithin
die EinheitvonLeben undTod. Alles,
wasist,ist es aufgrund einer Beziehung
zu etwasanderem undzugleich der Ent-
gegensetzung zu ihm.Alles,wasist,ist
produktiveDifferenz. So hätteesHölder-
lin nichtformulierenkönnen.Aber der
Impuls zu diesem Gedanken,aus dem
sichein ganzesWerk entfaltete, kamvon
ihm. Hölderlinwarwomöglichder dichte-
rischs te Dichter deutscher Sprache, aber
er wargewissder Philosoph, der Hegel
den entscheidenden Anstoßgab, selbst ei-
ner zuwerden. JÜRGENKAUBE
1770
Am 20. MärzwirdJohannChristian
FriedrichHölderlin in Lauffen
am Neckar geboren. DerVaterist
Klosterhofmeisterund Landwirt,
die Mutter Pfarrerstochter.
1772
- Juli: DerVaterstirbt.Die
SchwesterHeinrikewird
am 15.Augustgeboren.
1774
Die Mutter Johanna Christiana
Hölderlin heiratet in zweiter Ehe
den Weinhändler Johann Christoph
Gok inNürtingen.
1776
Der StiefbruderKarlChris toph Fried-
rich wirdam29. Oktobergeboren.
1779
Der Stiefvater Gokstirbt am
- März.
1780
Hölderlin beginnt mit dem
Klavier-und Flötenunterricht.
1784
Hölderlin, der bisher Privatunter-
richterhalten und die Lateinschule
in Nürtingen besucht hatte,wo er
FriedrichWilhelm Joseph Schelling
kennenlernte, wird nachseiner
Konfirmation zum 20. Oktober
Schüler der niederen Klosterschule
Denkendorf,Diefrühesten
erhaltenen Gedichtestammenaus
diesem Jahr:„Dankgedicht“
und „M. G.“ („Herr!wasbistdu,
wasMenschenkinder?“)
1786
Freundschaftmit Christian Ludwig
Bil finger .ImOktoberbeginnt
Hölderlins SchulzeitimKloster
Maulbronn. Beginn der Liebezu
LouiseNast,der Tochterdes
Klosterverwalters (Trennung1789).
Er schreibt das Langgedicht
„DieMeinige“und „Stella“.
Hölderlin
Chronik
Der Dichter
und der Philosoph
Friedri ch Hölderlin,der un verstandene Lieblingslyriker der Deutschen: Eine Beilagezu
Lebenund Werk des Dichtersanseinem 250. Geburtstag, mit Bildernvon BarbaraKlemm
FREITAG,20. MÄRZ 2020
Johanna Hölderlin 1767, ein Jahr
nachihrer Hochzeit FotoArchiv
Speisesaal im EvangelischenStiftinTübingen
DersechzehnjährigeFriedrichHöl-
derlin,gezeichnet1786 FotoGetty
Foto Barbar
aKlemm
Freundschaftist die EinheitvonGemeinsamkeit und Gegensatz:
Diejenigevon Hölderlin und Hegel, die imVerstummendes
einen und im Schweigen des anderen endete, dauerte zwölf Jahre.
Es warenausschlaggebende Jahrefür die Geschichtedes Denkens.