Berliner Zeitung - 18.03.2020

(Axel Boer) #1
Volker Heise
Regisseur

M e inung


Berliner Zeitung·Nummer 66·Mittwoch,18. März 2020 7 * ·························································································································································································································································································

Mut und Disziplin


im Chaos-Land


I


talienhatinEuropaeinenschlechten
Ruf.EsgiltalsgrößterProblemfallder
EU,seingigantischerSchuldenbergals
BedrohungfürdenEuro.StändigeRegie-
rungswechsel,Korruption und schrille
Ausrutscher prominenterPolitiker,von
BerlusconibisSalvini,sorgenimAusland
abwechselnd fürErstaunen,Erheiterung
und Empörung.Dass es im chaotischen
Italien ebenso anEffizienz wie anDiszi-
plinmangelt,isteingängigesVorurt eil.
InderCorona-KriseaberhabendieRe-
gierung vonPremierGiuseppeConteund
dasganz eLandvorg emacht,wiemanent-
schlossen und konsequent handelt.
Contehatangesichtsderexplodierenden
Infektionszahlen anfangs gezögert, dann
aber mutig durchgegriffen.Italien ver-
hängtealserstesLandderWelteine Aus-
gangssperrefür 60 Millionen Menschen.
Undtrotzdieserbisvorkurzemnochun-
vorstellbarenZumutung steht die ganze
Nationhinterihm.Dieangeblichsoanar-
chischenItaliener erweisen sich alsVor-
reiterin SachenDisziplin.
Deutschland und andereLänder zie-
hennunschrittweiseundvielzuzögerlich
nach. Dabei ist dieIllusion längstverflo-
gen, derRest Europas könnte inPande-
mie-Zeiten sehr viel besser davonkom-
menalsdashartgetroffeneItalien.
Doch schon heißt es wieder,Italien
bringe EuropaandenAbgrund: WeilRom
trotz Schulden 25Milliarden Euro für
dringend nötiges zusätzlichesMedizin-
Personal und zurAbfederung der wirt-
schaftlichen Corona-Folgen ausgeben
will. Auch da handeltConte mutig.Auch
dawerdenanderenachziehenmüssen.
Diederzeitige Ausnahmesituation
wäreeinguterAnlass,vorschnelleUrteile
und Klischees zu hinterfragen.Unduns
einBeispielandenItalienernzun ehmen.


Italien


ReginaKerner
sieht den richtigen Moment,
umVorurt eile zu hinterfragen.

Die Idee von der


Kapitalismuspause


E


sistderersteTagohneSchuleinBer-
lin, und eineMutter regt sich auf der
Straße darüber auf, dass derStaat ihr –
trotzSchulpflicht–verbietet,ihreTochter
indieSchuleoderwenigstensindenHort
zu bringen.Sieselbst arbeite in keinem
systemrelevantenBeruf,müssezuHause
bleibenundbekommenunkeinGeld.Sie
will,dassderStaatfürLeutewiesieeinen
Mietenstoppverhängt, dass also Leute,
die coronabedingt keinen Lohn bekom-
men, auch keineMiete zahlen müssen.
Weil das existenzgefährdend ist oder die
Leute nach einigenMonaten Nichtzah-
lungausderWohnungfliegenkönnten.
Daistsiealso–dieIdeevonderKapi-
talismuspause.Esist eine nahe liegende
Idee,wenndasgesamteLebenherunter-
gefahren wird.Aber es ist bislang eher
einesozialromantischeIdee,weilsogleich
das Gegenargument kommt:Wassollen
denn dieVermieter machen?Wenn sie
voneiner großenGruppe ihrerMieter
kein Geld bekommen, können sie ihre
Kreditenichtbedienenundgehenpleite.
Schon ist dieGrundsatzdebatte da.
Derstaatlich verfügte Stopp vomMiet-
zahlungenstehtbereitsimRaum.Frank-
reichs Präsident Emmanuel Macron ver-
kündete amMontag nicht nur eineAus-
gangssperre,sondernauch,dassderStaat
vorerst auf dieZahlung vonSteuernver-
zichtetunddassMietensowieGas-,Was-
ser-undStromzahlungenersteinmalaus-
gesetzt werden. Dasgilt im Nachbarland
vorerstnurfürBetriebe ,istalsoeinewirt-
schaftsfreundliche Entscheidung eines
Wirtschaftsliberalen.
Aberdie Debattewirdsicherbaldauch
für die Bürger geführt.Denn existenziell
gefährdete Bürger sind mindestens ge-
nausosystemrelevantwieBetriebe.


Mieten


Jens Blankennagel
glaubt, dass sichwohl noch
so einiges ändernwird.

AUSLESE


Sonne, Wind


und Klima


D


eutschlandsTreibhausgas-Ausstoß ist
imJahr2019imVergleichzumVorjahr
um 6,3 Proz ent gesunken. „Deutschland
verfehlt sein Klimaziel für 2020 doch nicht
sostar kwielangebefürchtet“,schreibtdie
FrankfurterRundschau .„Merkel und Co.
können sich beiSonne,Wind und der EU
bedanken,dasssienichtsoschlechtdaste-
hen.DasWetterwarimletztenJahrgünstig
für Solar-undWindenergie,und die ange-
stiegenenPreise im EU-Emissionshandel
ließen dieKohleverstromung sinken.“Ein
Grund, sich zurückzulehnen, sei das aber
nicht. In den Sektoren Verkehr undGe-
bäudeseiendieEmissionengestiegen.Stu-
dien hätten gezeigt, dass das Klimapaket
nichtausreichenwerde, umbi s2030diean-
gepeilten minus 55Proz ent Kohlendioxid
zu erreichen. „Damussdas Merkel-Kabi-
netteinigeSchippendrauflegen“,prognos-
tiziertdieZeitung.
Die NeueOsnabrücker Zeitung führtdie
Tatsache,dass der CO 2 -Ausstoß in
Deutschland zuletzt deutlicher als erwar-
tetgesunkenist,aufpolitischeundUnter-
nehmensentscheidungen zurück.Im lau-
fendenJahrkö nntenzudemdasCoronavi-
rusund seineFolgen für dieWirtschaft
demKampfgegendenvonMenschenge-
machten Klimawandel zumindest einen
temporären Schubverleihen. „Doch der
Effekt ist teuer erkauft, nämlich um den
Preis einer möglichen Weltwirtschafts-
krise ,derviele Jobszum Opferfallenwer-
den und dieMillionen Familien um ihr
Einkommenbringenwird.“ MatthiasRoch

Helden des Alltags BERLINER ZEITUNG/THOMAS PLASSMANN

Der große


Kollaps


D

ieWeltwirtschaftstehtnachden
drastischenMaßnahmenimZug
derCorona-Krisevoreinemnie
dagewesenenAbschwung.Esist
anzunehmen,dassalsFolgederwirtschaftli-
chenZerstörungenMillionenExistenzenin
allerWeltgefährdetsind.Diedramatischen
VerwerfungenandenBörsenindenvergan-
genenTagensindnurdieSpitzedesEisbergs.
SiesinddasFieberthermometer,das uns
zeigt,dassderPatientWeltwirtschaftinei-
nemkritischenZustandist.
DieMeldungen aus denUnternehmen
sinddramatisch:Fordschließtaufgrundder
Coronakrise dieWerkeinE uropa. An den
meistenVolkswagen-Standorten wirdam
FreitagdieletzteSchichtlaufen.DieTochter
Audi kündigte an, dieProduktion bisEnde
dieser Woche einzustellen.Skoda in Tsche-
chien stellt ebenfalls dieProduktion ein.
ZehntausendeMitarbeitermüssenzuHause
bleiben.AuchOpelmachtdicht.
Derfranzösische Präsident Emmanuel
Macron sprichtvoneinem „Krieg“, in dem
mansichbefinde.Manmüssediesengegen
das Virusbis zum bitterenEnde führen.
Doch derVergleich ist unzutreffend:In ei-
nemKriegwirddieProduktionangekurbelt.
DieMaßnahmengegendasVirusbringendie
Produktion zumStillstand.Wegen der um-
fassendenEinschränkungenbrichtderKon-
sum zusammen.Niemand kann mehr ein-
kaufen,weildie Geschäftegeschlossensind.
WeildieLeuteihreArbeitverlieren,habensie
kein Einkommen mehr und können die
Wirtschaft nicht mehr ankurbeln. Es ist ein
Teufelskreis.
Macrons FinanzministerBrunoLe Maire
kündigtean,manwerdediegroßenfranzösi-
schen Industrieunternehmen nicht fallen
lassen.Ersagteausdrücklich,dassVerstaatli-

Wirt schaft


Michael Maier
befürchtet, dass dieAnti-Corona-Maßnahmenweltweit
verheerende Folgen habenwerden.

chungen zu denMaßnahmen gehören, auf
diedie Regierungzurückgreifenwerde. Ähn-
licheTönewarenausMadrid, RomundBer-
linzuhören.
Womit die Staaten allerdingsretten wol-
len,istunklar.Siesindaktuellhandlungsun-
fähig und unglaubwürdig,weil sie diever-
gangenenJahregnadenlosüberihreVerhält-
nissegelebthaben–undzwarweltweit. Die
globalenFinanzsystemesinddurcheinerie-
sige Schuldenblase aufgebläht.Mitbilligem
GeldwurdenAnlegerinSachwertegetrieben
oder habenvonmehr oderweniger fiktiven
Aktien-Höhenflügen profitiert.DieZentral-
bankenalsletzteRetterhabenkeineGlaub-
würdigkeit mehr.Esw irdihnen keinFehler
mehr verziehen. Als EZB-Chefin Christine

Lagardesagte,dassdie EuropäischeZentral-
bank nicht für denZinsausgleich zwischen
Italien und dem Norden zuständig sei
(„spread“),stürztendieKurseins Bodenlose.
In der Corona-Krise schnappt auch die
Schuldenfallezu:DerpakistanischePremier
sagte amDienstag, er erwarte,dass die rei-
chen Gläubiger-Staaten undInstitutionen
denärmerenLändernind erKriseihreSchul-
denerlassen.Die„Emerging Markets“waren
biszur Corona-Kriseeinbesondersbeliebtes
Spekulationsobjekt.
DieMärktehabensichzusehrdarange-
wöhnt,dassdieZentralbankenimmerneues
GeldineineZombiewirtschaftpumpenwer-
den. Vorallem in Europa wurde dasGeld
nichtgenutzt,umInnovationenvoranzutrei-
ben.DieManagerderKonzerne veranstalte-
ten Aktien-Rückkaufprogramme und be-
lohntensichfürdenartifiziellenKursanstieg
mit sattenBoni. In der Corona-Krisezeigt
sich dagegen, dass digitaleUnternehmen
wichtigsind.Amazonstellthunderttausend
neue Mitarbeiter an, um mit den Lieferun-
gen für die unterHausar rest gestellten Bür-
gernachzukommen.
DieAngebotederBundesregierung,klei-
nenundmittlerenUnternehmenmitKredi-
ten über die staatliche KfW zu helfen, sind
wertlos:BissicheinkleinerRestau rantbesit-
zerdurch dieBürokratiederstaatlichenBü-
rokratiegearbeitethat,isterlängstpleite.Die
Bankenwiederumsindwegenderausufern-
den Basel-III-Regulierung seitJahren nicht
mehrinderLage,Unternehmenzufinanzie-
ren.Siekönnenebenfallsnichthelfen.
Wirmüssen uns alsFolge der Corona-
Maßnahmenweltweit aufMassen arbei tslo-
sigkeit, Elend, Armut und Krieg einstellen.
DerShutd owndürftewesentlichmehrOpfer
forder nalsdas Virusselbst.

Infarktder


vernetzten


Welt


A


uch in unserer Kleinstadt ist dasToilet-
tenpapier alle,obwohl es noch keinen
offiziellen Fall vonCovid-19 im ganzen
Landkreisgibt.NudelnundReis,ind ergro-
ßen Stadt schon lange ausverkauft, liegen
nochindenRegalen.DerGedankeistnicht
soganzfalsch,dassvielenDeutschendasge-
pflegte Hinterteil näher ist als derMagen
oder dasHerz,obwohl das Herz näher am
Hirnliegt.Nachtsjedenfallsistbeiunsüber
dem Dorfder Himmel sehr klar und neuer-
dings auch keinFlugzeug mehr zu sehen:
Nurdie Sterne blinken amFirmament und
die Satelliten, währendFrühling in derLuft
liegtunddieBäumeanfangenzublühen.
Es war ja ein komischerWinter diesmal,
ganzohneFrost,ohnekalteFüße,ohnerote
Nasen. Ichgehörenoch zu denMenschen,
dieihr edickenPulloverimF rühlingeinmot-
ten und imHerbst ausmotten.Aber diesen
Winterhabeichsiegarnichterstausgemot-
tet. Es war einfach nie kalt genug, um sich
wirklich einzumummeln, mit Mützeund
SchalunddemdickenMantelausdemFach-
handel fürSeefahrer in derHamburgerIn-
nenstadt.Mankannsichdorteindeckenfür
dieTropen,füreineExpeditionindieWüste,
für den Fischfang oder für eineKarrier ebei
der Marine.Manchmal habe ich aber den
Eindruck,alsseiderFortbestanddesLadens
mehrhanseatischerNostalgiegeschuldetals
der Gegenwartmit ihren Schiffen unter der
Flagge vonPanama und ihren Ladungen,
überdiemansagenkann,dassaußerContai-
nerausChinanichtsgewesenist.

KOLUMNE


MitdenSchiffen,mitderEisenbahn,ent-
langderHandelsroutenkamfrüherdiePest.
Dasbekannteste Buch über die Plage
stammtvonAlbertCamusundheißtwiesein
Gegenstand:DiePest.EinRoman,derinei-
nerStadtam Mittelmeerspielt,inOran.Dort
brichtdiePlagevoneinemTagaufdenande-
renaus,mit toten Ratten. DieBevölkerung
nimmtdiePestzuerstnichternst.Dannhofft
die Mehrheit, derKelch mögevorbeigehen,

ohne dass man daraus trinken muss.
SchließlichbeherrschtdiePestdie Stadt,alle
müssen sich beugen, obFrauen, Männer,
Kinder,Alte,SchuldigeoderUnschuldige.
Für Camus war das Leben absurdund
verg ebens,weil es immer auf denTodhin-
ausläuft,wasihnnichtdarinhinderte,darin
einegroßeFreiheitzusehen.Hatmannichts
zuverlieren,kannmanseinLebenindieei-
geneHandnehmen.ManmussdemToddie
Stirnbieten,auchwennman weiß,dassman
verliert. DieguteNachr icht dabei ist, dass
Covid-19vielharmloserseinwirdalsdie Pest
und keine Landstriche entvölkert. Die
schlechteNachrichtist,dassesimmernoch
keinToilettenpapierimSupermarktgibt.
Bemerkenswertaber bleibt, wieCovid-
aufProz esse,diesichseitJahrenabzeichnen,
wieein Brandbeschleunigerwirkt:dieEinzel-
händler,die zumachen, während Amazon
neue Mitarbeiter einstellt.DieRestaurants
und Gastwirtschaften, die leer sind,weil nur
noch to go gegessen wird.DieKinos,denen
dieBesucherweglaufen,weilesaufderCouch
mit Mediatheken bequemer ist.Diesozialen
Kontakte,dienichtmehramGartenzaunoder
vonBalkonzuBalkonstattfinden,sondernin
Chat gruppen.DieSelbs tisolierunginkleinen
Zellen.DieSchockwellenderöffentlichenEr-
regung.Alldasnimmtdramatische,vielleicht
unumkehrbareFormenan.Covid-19istnicht
nureineKrankheitinderGegenwart,sondern
dieKrankheitderGegenwart:derInfarkteiner
vernetztenWelt.Wenigstens kommt er ohne
toteRattenau s.

ZITAT


„Ich kann keinen


Sean Connery


nachmachen.Ichkannkein


Pierce sein.Ichhatte


aufrichtig Angst, dass ich


mir das Lebenversaue,


wenn ich annehme.“


Daniel Craig,Schauspieler,hatte Zweifel an der
James-Bond-Rolle. In „Keine Zeit zu sterben“ spielt er
das letzte Mal den Geheimagenten Ihrer Majestät.

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M e inung


7 * Berliner Zeitung·Nummer 66·Mittwoch, 18. März 2020 ·························································································································································································································································································


M e inung


Berliner Zeitung·Nummer 66·Mittwoch,18. März 2020 7 * ·························································································································································································································································································
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