Handelsblatt - 07.04.2020

(Elle) #1

H


eute gehen die Verhandlungen um
die europäischen Finanzinstru-
mente zur Abmilderung der coro-
nabedingten Wirtschaftskrise
beim Treffen der Euro-Gruppe in
eine neue Runde. In den vergangenen zwei Wo-
chen sind in dieser Frage tiefe Risse zwischen
den Europäern aufgebrochen. Der emotionale
Streit im Europäischen Rat am 26. März kam für
die Bundesregierung überraschend. Grund für
die harte Auseinandersetzung war nicht nur,
dass ein „Videogipfel“ bei so tiefen Gräben, wie
sie die EU derzeit durchziehen, an seine Grenzen
stößt. Die Frustration wichtiger europäischer
Partner Deutschlands ist enorm. Die europaver-
gessenen Exportstopps für medizinisches Materi-
al und mangelnde Solidaritätsbekundungen zu
Beginn der Krise haben Zweifel an Berlins euro-
päischer Haltung geweckt. Die in Teilen reflex-
hafte und verkürzende Diskussion über „Corona-
Bonds“ tut ihr Übriges.
Für die Bekämpfung der Gesundheitskrise mö-
gen die EZB-Programme ausreichen. Um jedoch
Investitionen nach der Krise zu unterstützen, ih-
re massiven sozialen Folgen abzufedern und die
nationalen Staatsfinanzen nicht völlig aus dem
Ruder laufen zu lassen, müssen weitere Maßnah-
men ergriffen werden. Dazu gehören die in ih-
rem Haftungsrisiko kontrollierbaren Corona-An-
leihen und ein Marshallplan, wie ihn Kommissi-
onspräsidentin Ursula von der Leyen fordert. Zu
Recht rückt auch eine europäische Arbeitslosen-
versicherung wieder auf die Agenda. Finanzmi-
nister Olaf Scholz schlug vor Monaten ein Rück-
versicherungssystem vor, das Anreize für nach-
haltige Reformen nationaler Systeme setzt und
einen notwendigen makroökonomischen Stabili-
sierungsmechanismus darstellt.


Unter dem Druck des menschlichen Dramas
der Gesundheitskrise und des bereits jetzt
sprunghaften Anstiegs der Arbeitslosigkeit infol-
ge der im Lockdown wegbröselnden Wirtschaft
entwickeln sich gefährliche politische Dynami-
ken. Folgte man in den vergangenen Tagen Spa-
niens Premierminister Pedro Sánchez oder Ita-
liens Giuseppe Conte, hörte man verzweifelte
Plädoyers für europäische Unterstützung. In sei-
ner Ansprache an die Nation hatte Sánchez Spa-
niens Bürgerinnen und Bürgern in dieser Hin-
sicht indes nichts versprochen.
Wenn Regierungen ihrer Bevölkerung in Kri-
sensituationen nicht vermitteln können, dass die
EU ein Teil der Lösung ist, wird Europa großen
Schaden nehmen. In Italien fordert die rechtspo-
pulistische Lega bereits den Italexit, in Spanien
wird über ein Scheitern der Minderheitsregie-
rung spekuliert. Wir müssen mit politischer In-
stabilität in der dritt- und viertgrößten Volkswirt-
schaft der EU rechnen. Neuwahlen dürften ange-
sichts breiter Pleitewellen und drückender
sozialer Probleme keine kooperativen, europa-
freundlichen Regierungen hervorbringen.
In der Coronakrise versagt auch das morali-
sche Leadership der Europäer. Dass Viktor Or-
bán in Ungarn seine autoritäre Macht in demo-
kratiegefährdender Art und Weise weiter aus-
dehnt, die Europäische Kommission in ihrem
Statement dazu Ungarn aber überhaupt nicht na-
mentlich erwähnt, untergräbt die Wertebasis der
EU. Je länger Brüssel, Berlin und andere Haupt-
städte zusehen, desto schwieriger wird es, Ent-
wicklungen wie in Ungarn zurückzudrehen und
Nachahmer zu bremsen.
In das politische Handlungs- und Führungsva-
kuum innerhalb der EU treten Europas geopoliti-
sche Gegenspieler und Systemwettbewerber Chi-

na und Russland. Derzeit wird vor allem über die
Gefahr der Einflussnahme über Propaganda und
Fake News gesprochen. Was aber, wenn China
morgen Italien und Spanien einen großzügigen
chinesischen Marshallplan anbietet? Haben wir
durchdacht, was passiert, wenn ein Unterneh-
men nach dem anderen in die Insolvenz getrie-
ben wird? Ausländische Investoren, denen nicht
die Stärke Europas am Herzen liegt, dürften sich
tief in europäische Wertschöpfungsketten ein-
kaufen, auch in Deutschland. Ein anderes Risiko
ist, dass Regierungen die Verstaatlichung in stra-
tegischen Branchen als letztes Schutzmittel se-
hen. Das würde den Binnenmarkt weit weg von
den von Deutschland immer zu Recht vertrete-
nen Wettbewerbsprinzipien treiben. Daher sind
Optionen zur Entlastung von Unternehmen in
steuerlicher, regulatorischer und bürokratischer
Hinsicht sowie nationale und europäische Stütz-
maßnahmen so wichtig.
Deutschlands Herangehensweise an Euro-Zo-
nen-Fragen ist grundsätzlich defensiv und zielt
auf Risikominimierung. Im letzten Jahrzehnt hat
ein zu eng gefasster Blick die Euro-Zone fast zum
Scheitern gebracht. Im Jahr 2020 besteht die Ge-
fahr in größerem Ausmaß. Um Europas politi-
sche Gemeinschaft und die Grundlagen unseres
Wirtschafts- und Wachstumsmodells zu sichern,
müssen die am schwersten betroffenen Europäer
den praktischen Mehrwert und Schutz der EU er-
fahren. Die Euro-Gruppe und der Europäische
Rat müssen Europas volle „Firepower“ freiset-
zen. Dazu gehören auch gemeinsame garantierte
Anleihen.

Ein neuer Ansatz


für Europa


Die deutsche Europapolitik zielt nur auf


Risikominimierung. Das reicht nicht mehr, meinen


Daniela Schwarzer und Thomas Enders.


Thomas Enders ist Präsident und Daniela
Schwarzer Direktorin der Deutschen
Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Philipp von Recklinghausen, BrauerPhotos/J. Reetz [M]

Wenn


Regierungen


ihrer


Bevölkerung


in Krisen -


situationen


nicht


vermitteln


können, dass


die EU ein Teil


der Lösung ist,


wird Europa


großen


Schaden


nehmen.



 


   


 


 





  


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Gastkommentar
DIENSTAG, 7. APRIL 2020, NR. 69
48
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