Der Stern - 08.04.2020

(Brent) #1
Diese Woche: Dr. Peter Becker, ILLUSTRATION: KATRIN FUNCKE/ART ACT/STERN
Oberarzt in der Klinik für Gastro-
enterologie, Hepatologie und
Endokrinologie im Diakonissen-
krankenhaus Mannheim

AUFGEZEICHNET VON NICOLE SIMON;

erkrankung durchgemacht hatte, und war
in Sorge. Wir brauchten zusätzliche Bilder
aus dem Inneren des Bauchs. Sofort
schickte ich ihn zur Computertomografie
(CT). Hier gab es Entwarnung: Was wie eine
Geschwulst gewirkt hatte, war der Magen.
Im Ultraschall hatte man ihn nicht richtig
erkennen können, weil auch er sich nicht
bewegte, voll mit eingedickten Speise-
resten war und außergewöhnlich wenig
Flüssigkeit in sich trug.
Die CT-Bilder zeigten jedoch noch etwas.
Und auf einmal passte alles zusammen!

D


ie Sonne war kaum aufgegangen,
als ein Mann in die Notaufnahme
kam: Er konnte nicht pinkeln. Es
war Donnerstag, und er erzählte,
dass er am Wochenende Bauch-
schmerzen gehabt hatte. Am
Montag war er zum Hausarzt gegangen.
Der hatte nichts Auffälliges gefunden und
auf einen Darminfekt getippt. Einen Ultra-
schall hatte er nicht machen können, weil
das Gerät kaputt gewesen war.
Dem Mann war es schon bald deutlich
besser gegangen, er hatte wieder mit dem
Rad zur Arbeit fahren können.
Am Mittwochabend aber
fühlte er sich erneut unwohl
und bemerkte, dass er trotz
Harndrangs die Blase nicht
entleeren konnte. Weil sich das
bis zum Morgengrauen nicht
änderte, machte er sich früh-
morgens auf den Weg zu uns.
Die erste Untersuchung über-
nahmen die Urologen. Bis auf
einen etwas erhöhten Ent-
zündungswert fanden sie zu-
nächst nichts Auffälliges. Auch
die Prostata sah gut aus. So
entleerten sie mithilfe eines
Katheters die volle Blase. Beim
Ultraschall bemerkten sie
jedoch, dass der Bauch alles
andere als normal aussah.
Auf dem Bildschirm erschie-
nen stark vergrößerte Darm-
schlingen, die voller Flüssig-
keit waren. Außerdem bewegte
sich der Darm nicht mehr. Die
Urologen schickten den Pa-
tienten, der mittlerweile krank
und erschöpft wirkte, zu uns
Internisten.
Auch ich untersuchte ihn
mit dem Ultraschall. Das ge-
staltete sich jedoch gar nicht
einfach, denn fast die gesamte
Bauchhöhle war mit den
Darmschlingen ausgefüllt. Mir
fiel auf, dass freie Flüssigkeit
im Bauch war. Sie sah heller aus als ge-
wöhnlich. Woher kam sie? Ein Tumor des
Bauchfells konnte beispielsweise dahinter-
stecken. Dann entdeckte ich im Hinter-
grund eine merkwürdig aussehende
Struktur, eine sehr große, fest wirkende
Geschwulst. Aus der Akte wusste ich, dass
der Mann vor einigen Jahren eine Krebs-

Der Blinddarm, genauer gesagt der Wurm-
fortsatz des Mannes, war „durchge bro-
chen“. So nennt man es, wenn Darminhalt
durch die Darmwand in die Bauchhöhle
gelangt. Unter den Darmschlingen war
dieser Abschnitt des Darms so tief in das
kleine Becken gerutscht, dass er im Ultra-
schall nicht zu erkennen war. Die Bakterien
hatten zu einer massiven Entzündung des
Bauchfells geführt. Daher kam die Flüssig-
keit im Bauch. Als Reaktion auf die Ent-
zündung war die Muskulatur des Darms
offensichtlich in eine Art Schockstarre
gefallen – und die der Harn-
blase auch.
Mit dieser Auflösung hatte
ich nicht gerechnet. Zwar zeigt
sich eine Blinddarmentzün-
dung nicht immer wie im Lehr-
buch, nämlich mit starken
Schmerzen im rechten Unter-
bauch, Fieber und Übelkeit.
Aber dieser Mann hatte vor
allem Probleme mit der Blase.
Die Bauchschmerzen waren
eher diffus und mild. Weder
hatte er wirklich Fieber gehabt,
noch waren die Entzündungs-
werte auch nur annähernd so
hoch, wie man es bei einem
Darmdurchbruch erwarten
würde. Viel Zeit hatten wir jetzt
nicht. Denn mittlerweile stand
der Mann kurz vor einer ge-
fährlichen Blutvergiftung und
musste schnell in den OP.
Meine Kollegen entfernten
den Wurmfortsatz und Teile
des Dickdarms. Sie spülten die
Bauchhöhle und verabreich-
ten Antibiotika. Der Patient
erholte sich zügig. Nach ei-
nigen Tagen begann der Darm
sich wieder zu bewegen, und
der Mann konnte entlassen
werden.
Mir hat der Fall einmal mehr
vor Augen geführt, wie sehr
man als Arzt in alle Richtungen
denken muss – und den Blinddarm nie
vergessen darf. 2

Ein Mann kann nicht mehr Wasser lassen.


Ist die Prostata schuld? Schließlich entdeckt ein Internist,


dass der Mann in Lebensgefahr schwebt


Rätselhafte Schockstarre


86 8.4.2020

DIE DIAGNOSE


GESUNDHEIT


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