In einem der Videos, die derzeit durch die
sozialen Netzwerke geistern, kann man ei-
nem älteren Italiener zusehen, der sich für
einen Spaziergang rüstet. Er hat sich aus
Kartonpappe vier spitz zulaufende Ab-
standshalter gebastelt, einen trägt er vor
dem Bauch, einen im Rücken, einen an der
rechten und einen an der linke Seite. Er
kann sie, einzeln oder auch insgesamt
hochklappen, dann sieht er aus wie ein
trauriger eingesperrter Vogel. Längst ist
seiner wunderbaren Erfindung der
Charme des Überflüssigen zugewachsen.
Die Chancen, dass er sich eine großstädti-
sche Menge oder auch nur Menschentrau-
be vom Leib halten muss, sind drastisch ge-
sunken.
Der säkulare Schutzheilige aller Berli-
ner Spaziergänger ist der Schriftstellers
Franz Hessel. Er wurde 1880 in Stettin ge-
boren, kam als Achtjähriger in die Stadt,
wuchs zwischen Landwehrkanal und Tier-
garten auf und starb 1941 im französischen
Exil. Seine Kindheit und Jugend fiel in die
Zeit, in der die noch junge Soziologie ein
Grundgesetz des Lebens in der modernen
Großstadt erkannte, das Zugleich von phy-
sischer Nähe und sozialer Distanz. Ein
Großstädter im Omnibus ist von Fremden
umgeben, denen er nahekommt und ins
Gesicht schauen kann, ohne den Impuls
verspüren zu müssen, ein Gespräch anzu-
knüpfen. Die Fremden, an denen er im Wa-
renhaus, auf dem Bahnsteig oder der Ein-
kaufsstraße vorbeigleitet, dürfen ihm
gleichgültig sein. Er beherrscht die Kunst,
noch in Situationen extrem dichter physi-
scher Nähe die soziale Distanz zu wahren.
Der Abstandsimperativ in Corona-Zei-
ten kehrt die Konstellation der klassischen
Moderne um. Er verbannt die physische
Nähe aus der Großstadt, dem angestamm-
ten Terrain von Menge und Masse, und
setzt die soziale Verbindung bei physischer
Distanz an ihre Stelle. Da kommt die Infra-
struktur der social media gerade recht.
Das Internet ist schon seit langem eine Re-
laisstation von Distanzkommunikation,
nun wird es zum Asyl aller sozialen Veran-
staltungen, die auf physische Nähe verzich-
ten müssen. Zu den Ausnahmen einge-
schränkter Bewegungsfreiheit gehört ne-
ben dem Gang zum Arzt, zum Lebensmit-
telhändler oder, wo es absolut nottut, zum
Arbeitsplatz der Spaziergang. Er ist zu ei-
nem kostbaren Gut geworden, eine Out-
door-Entlastung von der Norm des Zuhau-
sebleibens.
Für Menschen, die in die Schule der
Großstadt gegangen sind, hat Franz Hessel
sein Buch „Spazieren in Berlin“ (1929) und
den Essay „Von der schwierigen Kunst spa-
zieren zu gehen“ (1932) geschrieben. Schon
während wir uns auf den Weg zum letzten
Berliner Wohnort Hessels machen, beim
Gang durch den schmalen Fußweg zur
Kreuzung Martin-Luther-Straße / Hohen-
staufenstraße fällt auf, wie sehr sich ein
Grundelement des großstädtischen Spazie-
rens verändert hat, die Ausweichbewe-
gung. Jeder Passant auf einer belebten Ein-
kaufsstraße beherrscht diese Minimalbe-
wegung der Mikroverlangsamung oder Mi-
krobeschleunigung. Sie ist zur zweiten Na-
tur geworden, wer jemanden anrempelt,
entweder eine Figur der Unhöflichkeit
oder des Ungeschicks. Nun ist jeder Frem-
de, der entgegenkommt, von einem un-
sichtbaren Abstandshalter umgeben. Nur
vereinzelt begegnet dieser Fremde, allen-
falls als Paar, kein Problem, wenn das Trot-
toir breit genug ist. Droht aber eine Enge,
so ist der Wechsel der Straßenseite wahr-
scheinlich. Er kann auch andere Gründe ha-
ben. In vormodernen Gesellschaften wa-
ren es oft Hierarchien, die das Ausweichen
regelten, Höhergestellte oder Offiziere hat-
ten nicht nur beritten, sondern auch als
Fußgänger größere Rechte im Raum.
Franz Hessel vor dessen letztem Wohn-
haus in der Lindauer Straße 8 wir nun ste-
hen, war der Anwalt der bürgerlichen Spa-
ziergänger. „Heimat ist Geheimnis, nicht
Geschrei“, steht auf der golden schimmern-
den Gedenktafel rechts neben der Ein-
gangstür. Im nahen Bayerischen Viertel er-
innern Gedenkschildern an die Einschrän-
kung der Bewegungsfreiheit für Juden in
den Jahren 1933 bis 1936, als er hier gelebt
hat. Hessels Spaziergänge führten nur aus-
nahmsweise ins Grüne, sie nehmen die Na-
tur vornehmlich dort in den Blick, wo sie
Schauplatz von Gesellschaft ist. Hessels
Kunst des Spaziergangs war vom Weg zum
Termin oder zur Arbeit streng geschieden,
auch zum Ausflug stand sie im Kontrast.
Der Ausflug hat ein Ziel, einer seiner
Fluchtpunkte ist die Sehenswürdigkeit
oder das Ausflugslokal. Je absichtsloser
ein Spaziergang, desto wahrscheinlicher,
dass er dem Großstädter seine Stadt neu er-
schließt, so Hessels Lehre.
Vielleicht ist diese Intentionslosigkeit
das erste Element, was dem Spaziergang
in Zeiten des sozialen Ausnahmezustands
abhanden kommt. Einfach dadurch, dass
er für das viele Zuhausebleiben entschädi-
gen muss, das ja nur obenhin der Muße
gleicht. Wenn Hessel die Kunst feierte, in
den Straßen so zu lesen wie in einem Bu-
che, wollte er den Blick schärfen für das
Straßentheater ohne Schauspieler und Re-
gisseure, für die Großstadt als Abenteuer
im Nahbereich. Jetzt zeichnet sich, auf
dem Weg von der abgelegenen Lindauer
Straße über den Viktoria-Luise-Platz Rich-
tung Tauentzien das Schauspiel des einge-
schränkten Großstadtalltags ab. Sehr weit
auseinander sitzen die Menschen auf den
Bänken am Platz, auch die zusammenfalt-
baren Stühle, die manche mitführen, sind
mit unsichtbaren Abstandshaltern ausge-
stattet Vor dem Postamt am Wittenberg-
platz hat der Abstandsimperativ die
Schlange, die sonst den Innenraum füllt, in
die Länge gezogen, sie reicht nun bis an
den Straßenrand.
Der Markt, auf dem kaum jemand ein-
kauft, und vollends Tauentzien und Kur-
fürstendamm, die Hessel unter dem Titel
„Berlins Boulevard“ als Zentren des urba-
nen Lebens gefeiert hat, sind von jener Lee-
re in Besitz genommen, die es nur dort
gibt, wo Fülle, Gewühl, Gedränge der Nor-
malzustand sind. Das fest umschlungene
Gucci-Paar auf dem Riesenplakat an der
Fassade des geschlossenen KaDeWe
schaut auf ein nicht vorhandenes Publi-
kum herab. Kaum Passanten an Gedächt-
niskirche und Breitscheidplatz. Den Wa-
ren in den Schaufenstern fehlen die Kun-
den, denen sie verführerische Blicke zuwer-
fen könnten. Fast alle Baustellen geschlos-
sen, nur an einer werkeln ein paar Arbeiter
dicht an dicht. Ansonsten haben sich die
Gesten physischer Nähe an den Bahnhof
Zoo zurückgezogen. In der Gruppe von sie-
ben nah bei einander stehenden Plastiktü-
tenträgern, die vor kurzem noch nicht auf-
gefallen wären, geben die Raucher einan-
der Feuer. Und eine Kapuzenfrau schüttelt
doch tatsächlich einem Mützenmann die
Hand. In den Blick, der dergleichen regis-
triert, ist das Abstandsgebot eingewan-
dert. lothar müller
Wer hat sich im Internet nicht schon verlo-
ren. Der Hasenbau–Effekt der Portale, die
einen über Stunden in immer neue Win-
dungen und Verästelungen ziehen, hat et-
was unwiderstehliches. Wer diesen Effekt
jenseits der Bildschirme sucht, der findet
ihn am schnellsten im Bücherregal. Vor al-
lem Fotobände können diesen Sog entwi-
ckel, der einen in fremde Welten katapul-
tiert. Weil sie auf einem Effekt basieren,
der einzigartig ist.
Es gibt viele Beispiele, wie das gelingt.
Robert Mapplethorpes „Flowers“ (Schir-
mer Mosel, München, Neuauflage 2019.
140 Seiten, 29,80 Euro) eignet sich da gera-
de besonders gut, weil der New Yorker Radi-
kalerotiker und Rockstar der künstleri-
schen Fotografie in den Achtzigerjahren
seinen Blick auf Blumen so eng fokussier-
te, dass er es schaffte, seine gesamte foto-
grafische Vision auf einen Blütenkelch zu
reduzieren.
Mag sein, dass ihm die Botanik irgend-
wann einmal dafür dankbar ist, dass er so
wunderbare Allegorien der menschlichen
Fortpflanzungsreize in der Pflanzenwelt
fand. Blättert man sich durch das Buch ver-
liert man sich immer tiefer in diesem Blick
auf das scheinbar Banale.
Mapplethorpes Blumen funktionieren
in diesen Tagen deswegen so gut weil sie ei-
ne Flucht nach Innen erlauben. Sein Gegen-
stand findet sich mit hoher Wahrschein-
lichkeit auf der eigenen Fensterbank oder
dem Tisch. Sein Blick aber öffnet eine Ge-
dankenwelt, wie es früher einmal die Lyrik
vermochte, als eine Zeile noch in vielen
Emotionen auslösen konnte, ohne unüber-
windliche Reizschwellen zu überwinden.
Die Fotografie hat es da leichter, weil sie
selbst in den Bilderfluten der Gegenwart
noch Kraft entwickeln kann.
Wenn sich der Blick auf den Moment ver-
engt, dann geht es in der Fotografie um je-
nen Kern eines jeden Bildes, in dem ein
Stückchen Ewigkeit steckt. „Il n’y a rien
dans ce monde qui n’ait un moment deci-
sif“, schrieb Henri Cartier-Bresson 1952 in
seinem Buch „Images à la sauvette“. Es
gibt nichts auf der Welt, in dem nicht ein
entscheidender Moment steckt.
Cartier-Bressons „ moment decisif“ wur-
de in der Nachkriegsfotografie zum Maß al-
ler Dinge. Auf der Kunst diesen Moment zu
erfassen beruht die Wirkung von Fotobü-
chern. Weil sie gleich mehrere entscheiden-
de Momente in einen Rhythmus bringen,
der die Visionen der Fotografinnen und Fo-
tografen lesbar macht.
Oft waren es sie selbst, die dieses „se-
quencing“ vornahmen, hin und wieder ih-
re Verleger oder Kuratoren. Dieser Prozess
kann Jahre dauern, oft länger noch, als die
Arbeit an den Bildern selbst. Je näher ih-
nen das Thema ist, desto schwerer machen
sie sich die Arbeit oft. Der französische
Großmeister der Fotoreportage Gilles Pe-
ress hatte in seinem Loft an der New Yorker
Bowery über Jahre hinweg immer neue Rei-
hungen seiner Bilder aus dem irischen Bür-
gerkrieg, wohl wissend, dass jede Verände-
rung der Reihenfolge die Vision verändert,
die in seinen Bildern steckt. Man sieht so et-
was nicht sofort, wenn man dann zum Bei-
spiel sein Buch „Power in the Blood“ be-
trachtete. Man spürt es aber, ähnlich wie
bei einem Stück Musik, das man nicht so-
fort analysieren kann.
Die Beispiele der fremden Welten, die
man sich mit Fotobüchern erobern kann,
sind endlos. Das Amerika des Schweizers
Robert Frank („The Americans“, Steidl, Göt-
tingen, 2008. 180 Seiten 38 Euro), die ukrai-
nische Technoszene des deutschen Tobias
Zielony („Maskirovka“, Mousse, 2018. 106
Seiten, 25 Euro), Candida Höfers Kunst, Bü-
chereien wie Tempel zu inszenieren („Bi-
bliotheken“, Schirmer Mosel, München,
- 272 Seiten, 49,90 Euro) oder Herlin-
de Koelbls Topografie der Politikergesich-
ter („Spuren der Macht“, Knesebeck, 2010.
408 Seiten, 39,95 Euro) sind Klassiker sol-
cher Versenkungsbücher.
Doch es sind vor allem die Blicke auf das
Gewöhnliche wie Mapplethorpes Blumen-
bilder, wie Martin Parrs Kleinbürgerwel-
ten oder William Egglestons vermeintlich
wahlloser Blick in die Nähe, welche die En-
ge eines Alltags zu einem großen Moment
adeln. Schnell steht da der Vorwurf der Ro-
mantisierung des Banalen im Raum, des
Kitsches, selbst wenn er mit dem geschul-
ten Blick von Eggleston oder dem schwar-
zen Humors Parrs gebrochen wird. Sicher
ist es mindestens genauso schwierig, ei-
nen historischen Moment zu bannen.
Doch den entscheidenden Moment zu fin-
den, wenn das Sonnenlicht durchs Fenster
auf das Blütenblatt fällt, ist nichts weniger
als große Kunst. andrian kreye
von jens bisky
W
er heute fünfzig ist, hat einige Zä-
suren bewusst erlebt, historische
Augenblicke wie den Fall der
Mauer, die Terroranschläge vom 11. Sep-
tember 2001, den Zusammenbruch der In-
vestmentbank Lehman Brothers. Ob das,
was wir gegenwärtig erleben – die Corona-
Pandemie und all die Maßnahmen zu ihrer
Eindämmung, die Grenzschließungen, die
Kontaktverbote, die Schließung von Schu-
len und Universitäten, die Drosselung von
Industrie, Handel, Kultur, die giganti-
schen Rettungsschirme –, in diese Reihe
der Zäsuren gehört oder im Vergleich mit
früheren Epidemien besser zu verstehen
ist, mögen Historiker in fünf oder zehn Jah-
ren diskutieren.
Fest steht, dass die Ungewissheit lange
nicht mehr so groß war und dass es schwer
ist, sich einen Bereich vorzustellen, der
nicht von der Krise betroffen ist. Unwahr-
scheinlich scheint eine Rückkehr zur vorhe-
rigen Normalität nach der Krise, als er-
wachten alle aus einem bösen Traum. Heu-
tige Entscheidungen und Erklärungen, der
gegenwärtige Streit werden die künftige
Normalität prägen. „Nach der Krise“ klingt
gut und verheißungsvoll, aber noch lässt
sich nicht sagen, wann und vor allem wie
das sein wird. Selbst im glücklichen Fall,
dass bald wirksame Medikamente und ein
Impfstoff zur Verfügung stehen, bleiben
die ökonomischen und politischen Folgen
des Pandemie-Schocks, der eine Welt ge-
troffen hat, der auch vorher kaum jemand
Stabilität bescheinigen wollte. Die viel de-
battierte Krise der Demokratie und der EU,
des Vertrauens in Institutionen, die Wut
über Ungleichheit, der Krieg in Syrien und
die Millionen Flüchtlinge, Brexit, Trump
und AfD, all das steht weiter auf der Tages-
ordnung. Und auch wenn die AfD im Augen-
blick vor allem mit sich selbst beschäftigt
ist und in der Krise in erster Linie durch die
Abwesenheit von Vorschlägen und durch
Belanglosigkeit auffällt, kann sich das
rasch wieder ändern.
Es überlagern sich drei Sorgenkreise,
die auf vertrackte Weise miteinander zu-
sammenhängen. Zur Sorge um Leben und
Gesundheit tritt die um die langfristigen
wirtschaftlichen Folgen. Droht Verar-
mung? Ein deutlich niedrigerer Lebens-
standard? Eine Zeit der harten Verteilungs-
kämpfe? Und werden dann, fragt die politi-
sche Sorge, nicht die ohnehin starken auto-
ritären und engstirnig nationalistischen
Kräfte gewinnen? Die Historikerin Anne
Applebaum hat in der ZeitschriftThe Atlan-
tic– vor allem mit Blick auf die Situation in
Polen und Ungarn – geschrieben, dass die
Regierungen nun Kompetenzen erhalten,
die sie nicht wieder hergeben werden.
„Hartes Durchgreifen“ scheint populär,
weil es in der Situation der Ungewissheit
die Illusion von Handlungsmächtigkeit
nährt und Verhaltenssicherheit garantiert.
Für die politische Kultur einer offenen Ge-
sellschaft ist das eine ernste Bedrohung.
Allerdings wären Nichtstun, Nicht-Ent-
scheiden, der Verzicht auf klare Regeln,
auch Beschränkungen und Verbote lang-
fristig wohl noch verheerender. Eine Vor-
herrschaft des Ökonomischen, die Domi-
nanz des Profitstrebens ist diesem Land
oft nachgesagt worden. In den letzten Ta-
gen konnte man sehen, dass dies nicht un-
bedingt so ist, dass Gesellschaft und Poli-
tik völlig zurecht wirtschaftliches Gedei-
hen und Wohlstand nicht mit dem Tod von
Risikopatienten erkaufen wollen und dass
den vielen, die um ihren Lebensunterhalt
bangen, geholfen wird, dass sie nicht allein
sind. Mit Geschichten von Corona-Partys
und Toilettenpapier-Hamsterern, Aus-
gangssperren und Kontaktverboten wur-
de in doch ziemlich kurzer Zeit das Verhal-
ten der Mehrheit in eine Richtung gelenkt,
die zu diesem Zeitpunkt vernünftig
scheint. Das war weitgehend erfolgreich,
auf den Straßen und in den Geschäften
sind Ruhe und Abstand erste Bürger-
pflicht. Aber Bürgersinn beweist sich auch
in der Kritik an diesen Maßnahmen, an
dem Hinweis auf Inkonsequenzen, an der
Überprüfung ihrer Verhältnismäßigkeit –
wie dies etwa, und das im Vergleich mit
den Regelungen in anderen europäischen
Ländern auf Verfassungsblog.de ge-
schieht. Das öffentliche Leben ist einge-
schränkt, nicht aber die Öffentlichkeit. Sie
hat jetzt zu kontrollieren, dass die gewon-
nene Zeit zum Ausbau der medizinischen
Kapazitäten, zur Bereitstellung von Sicher-
heitskleidung, Desinfektionsmitteln und
eben auch Toilettenpapier, Mehl etc. ge-
nutzt wird. Dass der Altenpfleger oder die
Lungenärztin nach der Arbeit sieben, acht
Geschäfte aufsuchen müssen, um das Nöti-
ge zu bekommen, ist nicht sinnvoll, wenn
man Ansteckungen vermeiden will.
Dennoch bleibt die überwältigende Un-
gewissheit, bleiben die Sorgen. Sie äußern
sich in der Suche nach Schuldigen, nach
dem Fehler im System, in Sätzen, die mit
„Ich habs doch schon immer gesagt“ begin-
nen. Oder in der aberwitzigen Verachtung
für den „Flickenteppich“, das Nebeneinan-
der verschiedener Regelungen in Gemein-
den, Städten, Ländern. Dabei kennen die
Verantwortlichen ihre Gemeinwesen bes-
ser als es irgendeine Zentralbehörde in Ber-
lin oder Brüssel könnte. Dass man rasch
voneinander lernt, ist zu verlangen, aber
ein erstaunlich vielfältiges Land über ei-
nen Kamm zu scheren, wäre ein Kurz-
schluss – verführerisch, um Unsicherheit
zu kompensieren, gefährlich, weil so Ge-
wissheit suggeriert wird, die es nicht gibt.
Es fehlt an Analogien und Deutungsrou-
tinen, das Geschehen überfordert, weil die
Situation offen ist und sich ungeheuer
rasch verändert. Die Lage ist heute eine
sehr andere als vor zehn Tagen, sie wird in
zehn Tagen sich wahrscheinlich gewandelt
haben, man wird mehr und anderes wis-
sen, neue Erfahrungen gemacht, schreckli-
che Bilder gesehen und Geschichten von
Solidarität gehört haben.
Es hilft gegen die zermürbenden Effek-
te des Alltags wohl wenig, sich in Kausalket-
tenmelancholie einzurichten und ständig
schlimmste Szenarien oder glücklichste
Krisenenden auszumalen. Wir wissen
nicht, was kommt, wir ahnen, dass die ver-
nünftigen Maßnahmen gegen die Pande-
mie die Wirtschaft erschüttern und mögli-
cherweise für politische Unruhe sorgen.
Aber niemand kann die Krise abwählen.
Wie es weitergeht, hängt auch davon ab,
wie die Einübung in Kurzschlussverweige-
rung und Kontingenztoleranz gelingt. Sie
wären die Alternative zu kritikloser Affir-
mation von Regierungsmaßnahmen oder
apokalyptischen Stimmungen.
Was wird zur Zeit der Sommerferien
sein? Wie wird Ostern 2021 gefeiert wer-
den? Die Rekonstruktion des Sozialen hat
bereits begonnen. Auf den Straßen Berlins
schauen sich die Menschen, was sie sonst
selten tun, auffallend oft ins Gesicht. Bei
vielen sieht es so aus, als wollten sie den an-
deren aus der Distanz zunicken. Vieles
spricht für die Vermutung, dass mehr kom-
muniziert wird, am Telefon, in E-Mails, die
fast Brieflänge erreichen, vor den Läden
und Supermärkten. Auf mehreren Plätzen
findet man Spendenzäune für Obdachlose.
In Tüten verpackt, kann man dort Hygiene-
artikel, Lebensmittel, Kleidung spenden.
Zur Sorge gehört beides, die Angst um sich
wie die Anteilnahme für andere.
Schönheit des Moments
Fotobücher entwickeln ihren Sog aus der Vision hinter dem Blick – das kann den Alltag zum großen Moment romantisieren
Mit Abstandshalter
Die Kunst des Spazierengehens im sozialen Ausnahmezustand
Leere herrscht auf dem
Tauentzien, kaum Passanten an
der Gedächtniskirche
Zeit der Sorge
Angst und Ungewissheit waren lange nicht mehr so groß.
Jetzt helfen weder kritiklose Affirmation noch apokalyptische Szenarien
Physisch nah, sozial auf Distanz: Unter
den Linden, um 1900. FOTO: GETTY IMAGES
Welches Buch bietet Trost,
welcher Film beruhigt die Nerven,
welches Kunstwerk weitet
den Blick? Empfehlungen des
Feuilletons für beispiellose Zeiten.
Die Rekonstruktion des Sozialen
hat bereits begonnen. Dazu gehört
die Anteilnahme für andere
Millionen Flüchtlinge,
Brexit, Trump und AfD – all diese
Probleme sind ja nicht weg
DEFGH Nr. 71, Mittwoch, 25. März 2020 (^) FEUILLETON 11
Der Band „Flowers“ zieht seine Betrachter in den Kopf des Rockstars der Kunstfotografie Robert Mapplethorpe, der in den Blüten und Stempeln sehr direkte Allegorien auf die menschliche Erotik fand. Genau so entwickeln Fotobände eine Kraft, die ihre Betrachter
mit erstaunlicher Ruhe in Visionen oder auch in fremde Welten zieht. FOTOS: ROBERT MAPPLETHROPE/VERLAGSARCHIV/COURTESY SCHIRMER
ÜBERLEBENSKUNST