Süddeutsche Zeitung - 25.03.2020

(Wang) #1
Viel Erfahrung, viel Improvisation und
manchmal „aus Prinzip“ ein Corona-Bier.
Das ist die Krisenstrategie des Mannes,
der im Rekordtempo Deutschlands größ-
tes Corona-Krankenhaus aufbauen soll.
Albrecht Broemme, 66 Jahre, leitete von
1992 bis 2006 die Berliner Feuerwehr und
war danach Präsident des Technischen
Hilfswerks (THW). Ende 2019 ging er in
Pension, wollte Cello spielen und im Gar-
ten wühlen. Doch nun holt ihn die Berli-
ner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci
(SPD) zur Bewältigung der Corona-Krise
zurück. Unter seiner Regie soll im Berli-
ner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf
in einem abgetrennten Bereich des Messe-
geländes das „Corona-Behandlungszen-
trum Jafféstraße“ mit 1000 Betten entste-
hen. Vorbild ist das Corona-Betreuungs-
zentrum in Wien.
Ein Krankenhaus baut Albrecht Broem-
me zum ersten Mal auf, mit Ausnahmezu-
ständen kennt er sich aber aus. Als jüngs-
ter Chef der Berliner Feuerwehr – 39 Jah-
re war er bei seiner Ernennung – führte er
Anfang der Neunzigerjahre Ost- und West-
feuerwehr zusammen. 1998 erlebte Ber-
lin das schwerste Gasunglück der Nach-
kriegsgeschichte. Nur wenige Straßen
von Broemmes eigenem Wohnort im
Stadtteil Steglitz entfernt, explodierte ein
Mietshaus, sieben Menschen starben.
Hunderte Feuerwehrleute und Helfer des
Technischen Hilfswerks waren im Ein-
satz – und Broemme mittendrin.
Als Präsident des THW erlebte er 2015
die Ankunft Tausender Flüchtlinge in sei-
ner Heimatstadt und war, so ist es in Be-
richten nachzulesen, erschüttert über das
Chaos und die Planlosigkeit der Berliner
Behörden, die bald selbst internationale
Medien beschäftigte. Einige Flüchtlinge

kamen damals übrigens genau dort in Not-
unterkünften unter, wo Broemme nun
das Corona-Behandlungszentrum auf-
bauen wird. Es soll in Zwei- bis Vier-Bett-
Zimmern Patienten aufnehmen, die in an-
deren Kliniken keinen Platz mehr gefun-
den haben.
Das könnte bald der Fall sein. Etwa 15
bis 20 Prozent aller Corona-Patienten er-
kranken so schwer, dass sie in die Klinik
müssen. Davon muss wiederum ein Drit-
tel auf die Intensivstation. Die Berliner
Häuser haben etwa 1000 Intensivbetten
mit Beatmungsgeräten, dazu einige Hun-
dert Beatmungsgeräte in den Notaufnah-

men. Das Problem: Im Schnitt sind 80 Pro-
zent der Beatmungsgeräte in den Klini-
ken schon belegt. Und der Corona-An-
sturm steht erst noch bevor.
Den soll Broemmes Krankenhaus abfe-
dern – wobei er selbst lieber von einem
„Behandlungszentrum“ spricht. In der
Messehalle sollen nämlich nicht die ganz
schlimmen Fälle landen. „Es sind Patien-
ten, die über eine Sonde oder eine Beat-
mungsmaske Sauerstoff bekommen müs-
sen“, sagte er derBerliner Zeitung. „Sollte
sich der Zustand eines Patienten ver-
schlechtern, wird er zurück ins Kranken-
haus notverlegt.“
Bis es überhaupt so weit kommt, muss
Broemme noch viel organisieren. Nicht
nur muss die Messehalle umgebaut wer-
den, das Behandlungszentrum braucht
auch Betten, Beatmungsgeräte, Schutz-
kleidung und anderes medizinisches Ma-
terial. Das aber wird schon in den bereits
bestehenden Krankenhäusern knapp.
Das Land Berlin versuche über alle Kanä-
le das Nötige zu beschaffen, sagte Broem-
me. Und: „Die Industrie hat den Ernst der
Lage erkannt, sie produziert auf Teufel
komm raus.“ Doch es bleibt schwierig.
Nicht zuletzt braucht ein Behandlungs-
zentrum auch Personal. Broemme rech-
net mit 600 bis 800 Ärztinnen und Ärz-
ten, Pflegerinnen und Pflegern sowie
Hilfskräften. Weil die aber gerade auch
nicht auf der Straße stehen und auf Arbeit
warten, hat Broemme schon einige Ideen.
Zum Beispiel will er Mediziner und Pfle-
ger aus Bereichen abwerben, die derzeit
nicht wie gewohnt arbeiten können – von
der Schönheitsklinik bis zum Rehazen-
trum. Außerdem möchte er Personal aus
der Rente zurückholen. Das hat bei ihm ja
auch geklappt. hannah beitzer

von daniel brössler

G


äbe es in Peking einen speziellen
Stapel für Hilfsgesuche und Huldi-
gungen, so hätte er in den vergan-
genen Tagen eine beträchtliche Höhe er-
reicht. Aus vielen Teilen Europas treffen
bei der chinesischen Führung Bitten um
Unterstützung ein, zuletzt aus dem von
der Corona-Pandemie betroffenen nord-
rhein-westfälischen Landkreis Heins-
berg. Mit Anerkennung werden überdies
Chinas Siegesmeldungen im Kampf ge-
gen das Virus zur Kenntnis genommen,
etwa die Nachricht, dass die Abriegelung
der Stadt Wuhan bald beendet werden
soll. In bemerkenswertem Tempo hat
sich China in der öffentlichen Wahrneh-
mung vom Ausgangspunkt der Pande-
mie verwandelt in einen Retter in der Not.
Unter den vielen langfristigen Folgen der
Weltcoronakrise zeichnet sich da womög-
lich bereits eine der gravierendsten ab.
Der überschwängliche Dank etwa des
serbischen Präsidenten Aleksandar
Vučić für chinesische Hilfe und sein ver-
bitterter Abschied vom „Märchen“ euro-
päischer Solidarität ist dabei nur schrills-
ter Ausdruck des verbreiteten Gefühls,
dass China sich handlungsfähig erweist,
wo die Europäische Union versagt. Zwar
ist gegenseitige Hilfe in Europa mittler-
weile durchaus in die Gänge gekommen,
die Schwerfälligkeit der EU in den ersten
Wochen der Krise aber wird ihr noch lan-
ge nachhängen. China auf der anderen
Seite wird jede Gelegenheit nutzen, dort
anzuknüpfen, wo es schon lange vor der
Krise begonnen hat.
Ziemlich gut beschrieben ist das in ei-
nem Papier, das der Bundesverband der
Deutschen Industrie vor gut einem Jahr
veröffentlicht hat. Gewarnt wird die euro-
päische Politik darin davor, das chinesi-
sche Streben nach wirtschaftlicher und
technologischer Dominanz zu unterschät-
zen. Mit dem Projekt der neuen Seiden-

straße ringt China schon seit geraumer
Zeit um Einfluss in Europa, wobei es stets
auch auf Spaltung gesetzt hat. Wirtschaft-
lich schwächere Staaten im Osten und im
Süden der EU lockte die Führung in Pe-
king mit scheinbar attraktiven Investitio-
nen. Zum Zuckerbrot kam die Peitsche.
Auf Kritik an seiner Politik gegenüber
Hongkong und Taiwan oder an der Unter-
drückung der Uiguren reagierte China
mit erbarmungslosem Druck.

China geht es eben schon lange nicht
mehr nur um wirtschaftlichen Aufstieg,
sondern um Geländegewinne im System-
wettbewerb. Auch in der Weltcoronakri-
se wird es die Überlegenheit der Diktatur
gegenüber der Demokratie unter Beweis
stellen wollen. Und so kann es nicht ver-
wundern, dass mit chinesischen Ärzten
und Atemmasken auch Handlungsanwei-
sungen nach Europa gelangen.
Es muss nun möglich sein, chinesische
Hilfe anzunehmen, ohne dabei einen rea-
listischen Blick auf den Absender zu ver-
lieren. Das angeblich überlegene autoritä-
re System hat mit Geheimnistuerei und
Duckmäusertum die Ausbreitung des Vi-
rus am Anfang begünstigt und ist maß-
geblich verantwortlich für eine globale
Jahrhundertkrise. Bitter wäre es, würde
es nun auch noch zum größten Profiteur.
Die Gefahr besteht. Unter dem überfor-
derten Donald Trump werden die USA
kaum selbst mit der Pandemie fertig. Glo-
bal ist derzeit von ihnen folglich wenig zu
erwarten. Die EU scheint sich zu berap-
peln, aber zu langsam. Auch deshalb
kommt nach dem Einsatz gegen die aku-
te Pandemie auf die dann wirtschaftlich
geschwächten Europäer ein längerer
Kampf zu: der um die Selbstbehauptung.

von robert roßmann

K


risen sind die Stunde der Exekuti-
ve, heißt es allenthalben. Und
tatsächlich richten sich derzeit alle
Augen auf die Bundeskanzlerin und die
Ministerpräsidenten. Es sind sie, die all
die Maßnahmen zur Eindämmung des
Coranavirus verkünden. Doch Krisen
müssten erst recht eine Stunde der Legis-
lative sein. Noch nie in der Geschichte der
Bundesrepublik wurden derart einschnei-
dende Maßnahmen für den Alltag von
Bürgern und Betrieben beschlossen wie in
diesen Tagen. Es war deshalb noch nie so
wichtig, dass staatliches Handeln auch
von Abgeordneten kontrolliert und in
Parlamenten öffentlich diskutiert wird.
Die Abgeordneten sind die gewählten Ver-
treter der Bürger, nicht die Minister.
Wie bedeutsam es ist, diese Gewalten-
teilung auch einzufordern, zeigt sich gera-
de in Ungarn. Dort nutzt der Ministerpräsi-
dent die Corona-Krise, um das Parlament
weitgehend zu entmachten. Nein, Angela
Merkel ist natürlich kein Viktor Orbán.
Und niemand in der Bundesregierung will
die Gewaltenteilung schleifen. Aber der
Fall zeigt, wie wichtig es ist, die Rechte der
Parlamente immer und überall zu ver-
teidigen.
Ja, man verlange gerade maximales
Vertrauen von den Abgeordneten, heißt es
in der Regierung. Aber dafür gebe man
auch maximale Transparenz. Richtig dar-
an ist zumindest, dass die Fachpolitiker
der Fraktionen in der vergangenen Woche
in die Beratungen über die Gesetzentwür-
fe einbezogen wurden, die an diesem Mitt-
woch vom Bundestag beschlossen werden
sollen. Aber Transparenz für einige kann
nicht die Kontrolle der Regierung durch
den gesamten Bundestag ersetzen.
Es ist deshalb gut, dass die Fraktionen
nicht auf den Vorschlag eingegangen
sind, wegen der Corona-Krise das Grund-
gesetz zu ändern, um ein kleines Notparla-

ment einrichten zu können – ähnlich
dem, das im Verteidigungsfall eingesetzt
werden kann. In einem derart sensiblen
Bereich darf man nicht hektisch die Ver-
fassung ändern. Das gilt erst recht, wenn
es auch weniger schwerwiegende Eingrif-
fe gibt, mit denen man die Arbeitsfähig-
keit des Parlaments erhalten kann. Der
Bundestag will jetzt die Grenze für seine
Beschlussfähigkeit von 50 auf 25 Prozent
der Abgeordneten herabsetzen. Dadurch
wird das Parlament auch dann noch hand-
lungsfähig sein, wenn viele Abgeordnete
wegen Krankheit oder Quarantäne nicht
mehr nach Berlin fahren können.

Begrüßenswert ist auch der Einsatz der
Fraktionen von FDP, Grünen und Linken
gegen zu weitgehende Notrechte der Re-
gierung. Auch hier gilt es, den Anfängen
zu wehren. Das Kabinett hat am Montag
beschlossen, dass die Regierung im Allein-
gang entscheiden können soll, wann eine
„epidemische Lage von nationaler Trag-
weite“ vorliegt. Und dass die Bundesregie-
rung in einer solchen Notlage sehr weitrei-
chende Durchgriffsrechte bekommt. Die
drei Oppositionsfraktionen haben der Ko-
alition jetzt abgerungen, dass über das
Vorliegen der Notlage der Bundestag ent-
scheidet. Und dass es auch an ihm ist, die
Notlage wieder aufzuheben.
Ärgerlich ist dagegen das Verhalten der
Unionsfraktion. An diesem Mittwoch geht
es im Bundestag um das teuerste Gesetzes-
paket in der Geschichte der Bundesrepu-
blik. Aber die Abgeordneten von CDU und
CSU trafen sich vorher weder zu einer phy-
sischen, noch zu einer digitalen Fraktions-
sitzung, um über die Gesetze zu beraten.
Manche Abgeordnete verzwergen sich
auch selbst.

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
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NACHRICHTENCHEFS:
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AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
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INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
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E


s passiert ja so manches in diesen
Tagen, was man vor Kurzem für
undenkbar hielt. Nun trifft es den
höchsten Abschluss, den Schulen in
Deutschland zu vergeben haben, diese
scheinbar unverrückbare Institution, in
normalen Zeiten wie ein Heiligtum ver-
ehrt: das Abitur.
Das Tabu brach Schleswig-Holsteins
Bildungsministerin Karin Prien: Die Prü-
fungen sollen in ihrem Bundesland nicht
etwa unter Gesundheitsauflagen statt-
finden, wie es manch ein Amtskollege
andernorts versucht. Sie sollen nicht ver-
schoben werden, wie einzelne Länder
kürzlich ankündigten. Die Abiturprüfung
soll im Norden ganz entfallen.


Schleswig-Holstein sagt das Abitur ab


  • es ist schwer vorstellbar, dass nun
    andere Länder an ihren Terminen für die
    Prüfung festhalten. Denn die Kultus-
    minister haben versprochen, das Abitur
    endlich vergleichbarer zu machen. Ob der
    Bildungsförderalismus überhaupt noch
    eine Berechtigung hat, hängt auch mit an
    dieser Frage. Und die Kultuspolitiker-
    innen und Kultuspolitiker bemühen sich
    ja durchaus: Sie stimmen Abituraufgaben
    ab und legen inzwischen zum Teil sogar
    länderübergreifende Klausurtermine
    fest. Wenn sie ihr Versprechen ernst mei-
    nen, können sie aber nicht die einen zu
    einer Prüfung bestellen, die den anderen
    erlassen wird. bernd kramer


B


loß durchschnittliche deutsche
Spießbürger sollen die Angeklag-
ten der rechtsterroristischen Verei-
nigung „Revolution Chemnitz“ gewesen
sein, nur treusorgende Ehemänner. So sa-
hen es ihre Verteidiger. Es ist noch nicht
lange her, da verfingen solche Erklärun-
gen, wenn Rechtsradikale gewaltsam ihr
eigenes Recht durchsetzen wollten. Doch
nicht der Angriff auf eine Party in Chem-
nitz war das Brisante an der „Revolution
Chemnitz“, sondern ihr Ziel: Sie plante
den Umsturz in Deutschland. Durch An-
schläge, die sie Linken in die Schuhe schie-
ben wollte. Am Tag X.
Rechtsradikale lauern nur darauf, dass
der Staat Schwäche zeigt – dann fühlen


sie sich im Aufwind. So gründete sich die
„Revolution Chemnitz“, nachdem sich die
Polizei in der Stadt 2018 tagelang nicht ge-
gen einen rechten Mob wehren konnte.
Man kann sich trösten und sagen: So
viel staatliche Stärke wie jetzt war nie. Das
wäre kurzsichtig. Genügend Extremisten
in diesem Land warten nur darauf, dass
der Unmut über die derzeitige Einschrän-
kung der individuellen Freiheit wächst.
Für sie ist der Tag X der Tag, an dem sie
die Autorität des Staates angreifen, mit Ge-
walt. Sie verstehen sich als Handlanger
der Wut und der Angst. Bei allem Kampf
gegen das Virus – der Kampf für die Demo-
kratie darf nicht in den Hintergrund rü-
cken. annette ramelsberger

I


schgl hat 1600 Bewohner, aber 10 000
Übernachtungsbetten. Man kann sich
vorstellen, wie gedrängt es in dem Ti-
roler Skiort zur Saison zugeht. Und wie
leicht es das Coronavirus hatte, sich auszu-
breiten. Genau davor haben die Behörden
zu lange die Augen verschlossen – schließ-
lich ging es nicht nur um viel Geld, es geht
auch um Existenzen, wenn die Saison
frühzeitig endet, die Gäste ausbleiben.
Die Versäumnisse sind aber zu eklatant,
um dafür noch Verständnis zu haben.
Mehrere Staaten führen Infektionen
auf Rückkehrer aus Ischgl zurück, auch
Deutschland. Infektionen, die man wo-
möglich hätte verhindern können. Denn
Island erklärte Ischgl bereits Anfang März


zum Risikogebiet – doch dauerte es Wo-
chen, bis die Quarantäne verhängt wurde.
Zu viele Tage, an denen noch Tausende
Touristen an- und abreisten. Die Politik
beugte sich offenbar auch dem Druck der
Tourismuslobby, der Profit wurde über
die Gesundheit der Menschen gestellt.
Dieses Versäumnis dürfte ein Fall für
die Gerichte werden. Die Staatsanwalt-
schaft Innsbruck hat Ermittlungen gegen
eine Après-Ski-Bar eingeleitet, die einen
Corona-Fall vertuscht haben soll, Exper-
ten rechnen zudem mit Klagen von Touris-
ten. Ischgl ist nicht der einzige Ort, an dem
man zu zögerlich reagierte. Doch nirgend-
wo sonst tritt die dahinterstehende Gier
so deutlich zutage. leila al-serori

N


achts durchs Internet zu
surfen, ist in dieser Corona-
Zeit ein verstörendes Erleb-
nis. Es finden sich dort nicht
nur Verschwörungstheorien,
sondern auch ernsthafte Überlegungen,
die aber in völligem Gegensatz zu dem
stehen, was tagsüber von der Politik be-
schlossen und von den meisten Experten
und dem ganz überwiegenden Teil der
Bevölkerung gutgeheißen wird. Nachts ist
man mit den Bedenkenträgern allein,
aber manches Argument verdient doch
eine vertiefende Betrachtung.
Die Kritiker der derzeitigen Rettungs-
politik summen eine Grundmelodie: In
einer Art gesamtgesellschaftlicher Panik
gelte, so der Vorwurf, jede Maßnahme
schon deshalb als richtig, weil sie „groß“
ist und weil es „alle“ machen, und ganz
besonders gelte das für die wirtschaftli-
chen Beschlüsse der Regierungen, die am
Ende alles erst richtig schlimm machten.


In der Tat setzen viele Staaten auf maxi-
male Intervention. Allen voran die Euro-
päische Zentralbank macht Geld ohne En-
de locker, und die Politik folgt dem: In
Deutschland wird noch in dieser Woche
ein Nachtragshaushalt von mehr als
120 Milliarden Euro beschlossen, garniert
von weiteren gewaltigen Kreditzusagen.
Die europäische Schuldengrenze ist auf-
gehoben, womöglich gibt es bald gemein-
same Staatsanleihen, sogenannte Euro-
oder Corona-Bonds, bei denen dann auch
Deutschland für die Schulden der ande-
ren haften würde; noch in der Finanz- und
Eurokrise war das hierzulande verpönt.
Manche Wortmeldungen stellen die Glo-
balisierung infrage, andere verabschie-
den gleich die ganze Marktwirtschaft, an-
ything goes. Wohin soll das führen, wenn
gerade die Grundlagen vernichtet wer-
den, auf denen nach der Krise gewirtschaf-
tet werden soll? Die Fragen sind zulässig –
aber Vorsicht vor schnellen Antworten!
Zynisch und widerwärtig argumentie-
ren jene, die Wirtschaft über Menschen-
leben stellen. Die durchrechnen, wie viel
ein Leben wert ist, und das dann zu einer
Gesamtsumme der Corona-Rettung ad-
dieren, die weit geringer liege als der wirt-
schaftliche Schaden durch Betriebsstill-
stände und Hilfsmaßnahmen. Wer so ar-
gumentiert und den Alltag wieder in Gang
setzen will, komme, was wolle, der hat we-
der Herz noch Verstand. Er begreift nicht,
dass die Wirtschaft kein Wert an sich ist,
sondern menschengemacht, also eine ab-
geleitete, dienende Funktion hat.


Allerdings ist die Wirtschaft wichtig,
das schon. Sie organisiert die Verteilung
meist knapper Güter, sie ist Garant für ein
auskömmliches Leben. Eine nicht funk-
tionierende Wirtschaft vernichtet Wohl-
stand; funktionierende Wirtschaft dage-
gen schafft Wohlstand. Deshalb ist jede
neue Maßnahme sorgsam zu prüfen: Was
ist wirklich sinnvoll, was nicht? Nur leider
gibt es die Antwort häufig nicht sofort.
Wirtschaften ist immer eine unsichere Sa-
che, und das gilt erst recht vor dem Hinter-
grund dieser Pandemie. Die Verknüpfung
von Medizin und Ökonomie ist so massiv
wie bisher in keiner Krise, die Zusammen-
hänge sind komplex. Immerhin lassen
sich heute bereits fünf zentrale Erkennt-
nisse aufzählen, die sich gerade aus der
Unsicherheit ergeben.
Die erste, wichtigste Regel lautet: Ein
Zusammenbruch des ökonomischen Sys-
tems muss verhindert werden, weil die Op-
fer sonst endgültig sind. Deshalb sind die
bisherigen, massiven Hilfen richtig. Zwei-
tens müssen die Maßnahmen den Mög-
lichkeiten entsprechen. Deshalb ist es
ebenfalls richtig, dass Deutschland so viel
Geld einsetzt – einfach, weil es zur Zeit die-
se Puffer hat. Dabei gilt es, drittens, die
Vernetzung der Welt zu berücksichtigen.
Deutschland muss den europäischen Part-
nern helfen – auch aus Eigennutz: Ohne
Europa wird die Bundesrepublik nach der
Krise schwächer und abhängiger sein als
bisher. Deshalb kann es sinnvoll sein,
wenn Deutschland seine derzeit sehr
große Kreditwürdigkeit den Italienern
und anderen „leiht“, zum Beispiel in Form
gemeinsamer Euro-Bonds.
Dass viertens das Leben nach der Krise
nicht mehr so sein wird wie vorher, ist ein
viel gehörter Allgemeinplatz. Das kann
aber auch eine Chance sein, etwa beim kli-
maverträglichen, lokaleren Produzieren
und bei der Umsetzung von mehr Digitali-
sierung. Gerade wird auch viel Bürokratie
und Regulierung abgebaut; es wäre kein
Fehler, wenn das so bleibt. Was nicht sein
darf, sind irreversible Veränderungen der
Struktur. Wenn also wirklich ausländi-
sche Investoren versuchen sollten, börsen-
schwache deutsche Konzerne zu überneh-
men, muss der Staat eingreifen.
Verstaatlichungen aus Not, wenn sie
denn kämen, wären der beste Beweis da-
für, dass – fünftens – Rettungsmaßnah-
men befristet zu denken sind. Nach der
Krise müsste der Staat sich natürlich wie-
der aus den Unternehmen zurückziehen,
und Schulden müssen zurückgezahlt wer-
den. Je eher das Land wieder marktwirt-
schaftlich funktioniert – und womöglich
geht das schneller, als die Pessimisten
und Alarmisten glauben machen wollen
–, desto leichter wird es, wieder erfolg-
reich zu sein.

Drogenentzug ist schwierig,
leichter wird er, wenn Abhän-
gige zuvor unter kontrollier-
ten Bedingungen eine Ersatz-
droge konsumieren können,
ein Substitutionsmittel. Zu dieser Er-
kenntnis kamen Ärzte schon vor rund
70 Jahren, damals begannen sie, die ers-
ten Heroinabhängigen mit Methadon zu
behandeln. Methadon ist wie Heroin ein
Opioid, es lindert Schmerzen und macht
stark abhängig. Seine Wirkung steigert
sich aber langsamer und hält länger an,
so führt Methadon nicht zu einem plötzli-
chen intensiven Wohlbefinden, dem soge-
nannten Kick; zudem genügt eine Dosis
pro Tag. Das macht den Entzug leichter.
Dennoch war die Idee, Drogenabhängige
mit Drogen zu behandeln, lange umstrit-
ten. Erst 1992 erhielt die Substitutions-
therapie mit Methadon oder einem der
weniger bekannten Stoffe wie Codein, Bu-
prenorphin oder Naloxon in Deutschland
einen rechtlichen Rahmen. Seither hat
sie sich als sehr wirksam erwiesen. Die
Therapie öffnet nicht nur die Tür zu
einem drogenfreien Leben, sie mildert
auch die Nebenerscheinungen des Dro-
genkonsums wie Beschaffungskriminali-
tät, Prostitution, Überdosierung und In-
fektionen. Angesichts der erneut gestie-
genen Zahl an Drogentoten forderte die
Bundesdrogenbeauftragte Daniela Lud-
wig (CSU) daher eine bessere Versorgung
mit Substitutionsmitteln. bern

4 HF2 (^) MEINUNG Mittwoch, 25. März 2020, Nr. 71 DEFGH
ABITUR


Tabu gebrochen


FOTO: PAUL ZINKEN/DPA

CHINA

Die Profiteure


DEMOKRATIE IN KRISENZEITEN

Stunde der Bedächtigen


„REVOLUTION CHEMNITZ“

Handlanger der Wut


ISCHGL

Wo die Gier feiert


Auf der Flucht sz-zeichnung: pepsch gottscheber

RETTUNGSPOLITIK


Hilfe auf Zeit


von marc beise


AKTUELLES LEXIKON


Substitutionsmittel


PROFIL


Albrecht


Broemme


Pensionist a. D. und
Feuerwehrmann
in der Corona-Krise

Europa muss nun darauf achten,
sich nicht dauerhaft
von Peking abhängig zu machen
Es ist gut, dass wegen der
Corona-Krise nicht gleich
das Grundgesetz geändert wird

Es gilt, den Zusammenbruch


des ökonomischen Systems


zu verhindern. Das kostet Geld

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