Frankfurter Allgemeine Zeitung - 08.04.2020

(Ann) #1
VorvierzehnTagenhatteernochdicke
Knospen,jetzt is terschon verblüht. Die
weiße Pracht hält sichnur kurz,viel zu
kurz im Verhältnis zumWarten, das ihr
vorausgeht.Ja, ic herwarte sie jedes Jahr
als Fanal desFrühlings.Undschaue und
kann mich nicht sattsehen. Bis sievorbei
ist. Kinderwarten so,wenn etwa sSchö-
nes bevorsteht.Aber wasbedeutetWar-
tenauf das dräuendeUnheil? Aufdie
nächs tenFallzahlen undTodesziffern?
Schlimm wirdessein, sagt derViro loge
Christian Drosten. Fragt sich,wann und
wie sehr.Lieber später als früher,wün-
schen sichPolitik und Medizin. Dochdas
Warten in Ungewissheit isteine psy-
chische Folter .Ostern? Kaum nochvor-
stellbar.Weder als Datum nochals Fest
vonChristi Auferstehung. Ichspüre, wie
das Zeitgefügesichlangsamauflös t. Mal
dehnen sichdie Stunden wie ein Gummi-
zug, malströmensiezügig durchdie Sand-
uhr.Halbwegs selbstvergessen bin ichnur
bei der Arbeit und im Schlaf. Sonst: das
Virus! Sei alert, schau dir die einschlägi-
genNachrichten undTalksho ws an. Das
musssein, muss, obwohl mich jedes Mal

ein Zitternüberkommt und der Blutdruck
steigt.Die Informationen überschlagen
sichwiedieMaßnahmen,nurCoronaist
nochschneller.Soschnell, dassunsere
Zwangsentschleunigung im Gegenzug
ziemlichhilflos wirkt.
Auch ichlebe l angsam, alshätteich
endlic hmeinenEssa y„Langsamer!“be-
herzigt.Das Bü chlein sch rieb ic h2005,
„gegenAtemlosigkeit, Akzeleration und
ander eZumutungen“.Ein Ideengeber,

voll li terarische rZitate. Unteranderem
plädiereich für dasLesen und Liebema-
chen, di eviel Zeit beanspruchen. Nunist
sieplötzlic hvorhanden.Keine Reisen,
keineEvents,keine Partys,keine Kultur-
undSportveranstaltun gen. Liebe und
Lektürekönnten also zumZug kommen,
wenn man nichtberufli ch starkgefor-
dertodervon So rgen gebeuteltist. Ich
lebe allein, meinen zweijährigenEnkel

darfich nichtsehen.ZumTrost schaue
ichmir Fotosdes Kleinenanund beob-
achte aus demFensterdie Nach barskin-
der,die den Ball kicken. DasGeräusch
des Leders hatetwas Lebensvolles.Auch
die Vögelgebensichmunter.Nur der
Flugzeughimmelschweigt. Oftschaue
ichinden Gartenhinaus ,als könnte er
mein Fernwehstillen. Gerade schleicht
einerothaarigeKatze über den Holz-
zaun, den ichmir alsrussischen Dorf-
zaunimaginiere.Ein Se kundenklick–
undich bin woanders. Die Phantasie
machtesmöglich, diese Verwandlerin.
Das hilf tinbeengt en Zeiten.
Nein,langweiligistmirnicht.Meine ei-
gene Gesellschaftauszuhalten, habe ich
schon langegelernt .Und da gibt es dieFi-
guren, die icherfinde, und jene anderen,
mit denen ichimaginäreGespräche füh-
re.Zum Beispiel dierussische Dichterin
Marina Zwetajewa. Washattesie in der
Pariser Emigration für ein Hundeleben.
Zwei Kinder an der Hand, Hunger,oft zu
wenig Geld, umdieMonatsmiete zu be-
zahlen.Undzuwenig Zeit für diePoesie,
die ihr so wichtigwar. NurEinsamkeit
gabesz uviel. 1941 hat sie sichimtatari-

schen Jelabuga das Lebengenommen. Ich
schreibe über sie. EinNach wort.Oder ist
es ein Zwiegespräch?Wirkennen uns
schon ewig.„JederDichter istdemWesen
nachEmigrant“, sagt sie und fügt hinzu,
es gehe immer um die cause perdue.Von
Siegen hielt sie nichts.
Das Coronavirus besiegen, daswollen
wir unbedingt.Die Fledermaus-Seuche
besiegen, möglichstschnell. Damit wie-
derNormalitäteinkehrt,diesichimHand-
umdrehenverflüchtigt hat. In Spanien
führtman Stoffhunde Gassi! InParis, das
nochvor kurz em unter Overtourismge-
stöhnt hat, sprinten einsame Jogger über
die Boulevards. Mailandverzeichnetdie
bestenLuftwerte seit je, nur istniemand
auf denStraßen. In Belgrad, erzählt mein
Nach bar,kursier tder Witz, ein Mann
habe massiv Mehlgehamstert,ein ande-
rerHefe. „Wir werden uns nochsehen!“,
schreitderHefekäufer.Haha.SelbstinZü-
rich sind dieRegale fürTeigwaren und
Klopapier leer.
Vielleicht istdie Stunde der Philoso-
phenundWelterklärergeko mmen.Ja,un-
sere Zivilisation wirkt zerbrechlichwie
eine Eierschale, ja, die Corona-Pandemie

könnte zu einergroßen Zäsurwerden.
Wasmich anbelangt, lese ichallerdings
lieber MarcAurel als den Apokalyptiker
GiorgioAgamb en. Undwarum nicht zu
einemBuchgreifen,dasgarnichtsmitCo-
rona zu tun hat, wie AndrzejStasiuks
„Beskiden-Chronik“ überverwunschene
Landschaftenimpolnischen Abseits?
„Der Weltuntergang kamam17. Sep tem-
ber 1939 in Gestalt der sowjetischen Ar-
mee.“Auch das hat esgegeben. Undwer
weiß,vielleichtholtdieKriseUngeahntes
aus uns heraus.
AchtzehnUhr dreißig,derletzteWider-
schein der Sonne.Mein wilder Pflaumen-
baum zeigt seine jungen Blätter,das zar te
Grün hat das Blütenweiß verdrängt.Alles
gut, will er mirversichern, beruhigedich.
Wirmachenweiter .Wir? Ic hwerde noch
einigeMails verschickenund Freunde an-
rufen, der Zusammenhalt istwichtig.
Egal, ob sie in Moskau, Minsk, Berlin
oder Budapestleben, wir sind uns nah,
Coronakennt keine Grenzen.Aufbes-
sereZeiten, Freunde!

VonIlmaRakusa,geboren 1946, erschien
zuletzt „Mein Alphabet“.

N


atürlichkönnenMenschen
aufallenurerdenklichenAr-
tengut aussehen.Trotzdem
ähneln die Menschen aufZeitschrif-
tencovern einander frappierend –
unddasgiltnichtnurfürFrauen.Mus-
keln scheinen für Männerverpflich-
tend zu sein nachdiesem medialen
Schönheitsideal, je sichtbarer sie
sind, desto besser.Deshalbverwun-
dertesnicht, dassviele Männer im
Fitnessstudio schwitzend Muskelber-
ge aufbauen, die in erster Linie eine
dekorativeFunktion haben,weil sie
weder für dieRückengesundheit nö-
tig sind nochfür den Schreibtischjob.
Wersolche Muskeln nicht hat, der
weiß doc hjederzeit,dassersieeigent-
lichhabenmüsste,umdieSchönheits-
normzuerfüllen, undrettetsichmit
Humor über den eigenen Bierbauch
oder indem er seinT-ShirtimZwei-
felsfall anlässt.Aber wirddenn wirk-
lichniemand davonverschont? Best-
sellerautor oder Intellektuellerzu
sein reicht jedenfalls schon mal
nicht, wie man sehenkonnteanden
Unterwäschef otos vonFrank Schät-
zing, die sichder halben Buchbran-
cheunauslöschlichindieNetzhautge-
brannt haben, und an derFacebook-
Seitevon Julian Nida-Rümelin, der
vergangenes Jahr ein bizepsbetonen-
des Foto seinesWorkouts mit den
Worten „musszwischendurch sein,
sonstdrohtdie Verwandlungin einen
Bücherwurm“ kommentierte.Wie
genau so ein Bücherwurmaussähe
(sehr lang und dünn?) undwasdaran
so schlimmwäre,blieb ungeklärt,
aber britische Psychologen habenge-
rade zumindestuntersucht,wo die
geographischen GrenzenvonMus-
keln als Schönheitsnormliegen.Für
ihre Studie „Muscles and the Media“
forschten si einUganda und Nicara-
gua undverglichen die Ergebnisse
mit Daten aus England. Ergebnis: In
Ländernfernab der Schreckensherr-
schaf tvon„Men’s Health“legenMän-
ner weniger Wert auf sichtbareMus-
keln. Außerdemwarendie Männer in
Uganda und Nicaragua im Schnitt si-
gnifikant zufriedener mit ihrenKör-
pernals ihr ebritischen Geschlechts-
genossen–und zwar umso zufriede-
ner,jeweniger Berührung mitwestli-
chen Medien oder Sportübertragun-
gensie hatten. Männerstehen also
vorder Wahl: nie wiederFußball und
Leichtathletik gucken und dafür den
eigenenKörper lieben lernen oder
auchkünftig eWeltm eisterschaften
und Olympische Spiele mit Chips auf
der Couchverfolgen und sichdanach
ein bisschen hassen?Keine leichte
Entscheidung.Aber die aktuelleAus-
setzung aller Sportveranstaltungen
lässt ja vielZeit zumNach denken.

MEIN FENSTER

Muskelmänner


VonJulia Bähr

ZUR WELT

A


m15. April 1945 beschreibt
GeorgKolbeineinemWochen-
kalender seineStimmung an-
gesichts des bevorstehenden
Kriegsendes in Berlin:„Augen schlecht /
Befinden mager/Wetter schön/InErwar-
tung“.Zehn Tage später wirddie Er war-
tung erfüllt:„Die Russen besetzen unser
Wohnviertel. 20-30 Mannsind im Haus.“
Sie hinterlassen „unsagbareVerwüstung“,
ehe sie in Richtung Stadtzentrum abrü-
cken, dochKolbesAtelier-und Wohnhaus
bleibt, wie er notiert, „weiterinmitten des
Panzerfeuers. Ringsum die Hölle.Wetter
kalt u. Sonne.“Endlich, am 5. Mai,ist der
Spuk vorbei: „Der Bunker wirderstmalig
wieder als Schlafraum aufgegeben. Dreck
vonder Straßebringen –eine sehr harte
Arbeit–wirdviele Tage brauchen.“
Kolbes Notizenaus demFrühjahr
stehen in einem kleinenNotizbuch mit
braunemUmschlag, das in jede Jackenta-
sche passt.Zusammenmiteinem Dutzend
weiterer Taschenkalendersteckteesinei-
nerder108UmzugskistenausKanada,die
dasBerliner Georg-Kolbe-Museum in der
vorletzten Wocheempfangenhat.DieKis-
tenenthaltendenNach lassvonKolbesEn-
kelin MariavonTiesenhausen, die imver-
gangenen Sommer neunzigjährig inVan-
couvergestorben ist, siebzig Jahrenach
der Gründung derKolbe-Stiftung,welche
das Museum inKolbesehemaligemAte-
lierhaus an der SensburgerAllee im Berli-
ner Westend betreibt.
Das klingt nacheinemgewöhnlichen
Erbfall. Tatsächlichist eseine kleine Sen-
sation. Denn MariavonTiesenhausen,
die von1969 bis 1978 die zweiteDirekto-
rindes Kolbe-Museumswar, hat vorund
während ihrer Amtszeit nicht nur Erin-
nerungsstücke wie Fotoalben,Kleidung
undFamilienporzellan, sondernauchGe-
schäftsunterlagen, persönliche Aufzeich-
nungen und dengrößtenTeilder priva-
tenKorrespondenz ihres Großvaters
GeorgKolbe inihrekanadischeWahlhei-
mat gebracht.Die Schriftstücke,teilsal-
phabetisch nachEmpfäng ernund Absen-
dernsortiert,teils ungeordnetinMap-
pen gesammelt,könnten Licht in einen
derletztenungeklärtenFällederdeut-
schenKunstgeschichtedes zwanzigsten
Jahrhunderts bringen: die seltsameKar-
rieredes republikanischenStaatsbildhau-
ers Kolbe im NS-Staat.
Kolbe, Jahrgang 1877,warkurzvor
dem Ersten Weltkrieg mit der Bronze-
skulptur „DieTanzende“ berühmtgewor-
den –einer Mädchenfigur,die die Emp-
findsamkeit des FindeS iècle mit der Em-
phase der beginnenden Jugendbewegung
verband. In den zwanzigerJahren bekam
er immer mehr öffentliche Aufträge, etwa
fürdieHeine-DenkmälerinFrankfurtund
Düsseldorf, den „Genius“ im Berliner
Opernhaus und denRathenau-Brunnen
im dortigenVolkspar kRehber ge.Kolbes
KunstwurdezumAushängeschildderWei-
marerRepublik: DiePorträtbüste, die er
1925 zum Gedenken an denverstorbenen
Reichspräsidenten Ebertschuf, steht heu-
teimAmtszimmerFrank-Walter Steinmei-
ersimSchlossBellevue.

NachderMachtergreifungderNational-
soziali sten wurden Kolbes Werkedann
vielfachvandalisiertund beseitigt, so die
Frankfurter Heine-Figurengruppe oder
die „GroßeNacht“ im Haus desRund-
funks an der Berliner Masurenallee.Aber
schon ein Jahr später istKolbewieder im
Geschäft. 1934 entwirfterein Krieger-
denkmalfür die Stadt Stralsund,zweiJah-
re später einen„GroßenWächter“ für Gö-
rings Reichsluftfahrtministerium.
Auch der „RuhendeAthlet“ und der
„Zehnkämpfer“ auf dem Berliner Olym-
piageländekündenvonKolbes stabiler
AuftragslageimNS-Staat.1934 unter-
zeichneterden „Aufruf derKulturschaf-
fenden“ für HitlersErnennung zum
Reichspräsidenten, 1936 empfängt er den
Goethepreis, 1937 die Goethe-Plakette
der Stadt Frankfurt und 1942die mi tdem
Hakenkreuz gebrandmarkte Goethe-Me-
daillefür Kunstund Wissenschaft. Ab
1937ist er auc hregelmäßigauf der Gro-
ßen Deutschen Kunstau sstellung in Mün-
chenvertreten,HitlerundReichskulturmi-
nisterRustgehören zu seinenKunden.
DassKolbes Name 1944auf der „Gottbe-
gnadeten-Liste“der vomWehrdienstbe-
freitenKünstler erscheint,versteht sich
fast schonvonselbst.
Den Zenith seinerStaatsnäheerreicht
Kolbe, als erkurz vorKriegsausbruchfür
die Außenhandelsvereinigung Hismaden
spanis chen DiktatorFranco porträtiert. In
London nimmt John Heartfield dieNach-
richtzumAnlassfür seineCollage „Brauner
Künstlertraum“, in dererKolbe darüberrä-
sonieren lässt,wie er dieFranco-Büste mit
demgleichzeitigergangene nAuftragfürein
Beethoven-Denkmal untereinen Hut brin-
gensoll: „Ambestenmach’ichwohleinen
Kentauren,halb Tier,halb Mensch.“
Zugleich gibteskeine einzigeöffentli-
cheÄußerungKolbes,dieein eAffinitätzu
Hitler sRegime belegt.ImGegenteil: Als
letzter Präsident des Deutschen Künstler-

bundesvordessen Auflösung, Mäzendes
ExpressionistenMax Pechstein undTeil-
nehmer am BegräbnisErnst Barlachs hat
sich Kolbe demonstrativ auf die Seitesei-
ner „entar tete n“ Künstler kollegengestellt.
Seine Biographie bietetgleichsam dasGe-
genbild zu derdes Antisemiten und Hitler-
Verehrer sErnst No lde: Während sichKol-
besKunst,andersalsdievonNolde,mitih-
renmuskelbepackten Jünglingen undku-
gelbrüstigen Germaninnen demnational-
sozialistischen Menschenbild bedenkenlos
andient,bleibtseineprivateExistenzunbe-
fleckt .Das ermöglicht esKolbe,nachdem
Endedes braunenSchreckens raschansei-
nenfrüherenRuhmwieder anzuknüpfen.
DasFrankfurterBeetho ven-Denkmal und
dervon seinem Bildhauerfreund Richard
Scheibevollendete„RingderStatuen“zeu-
genvon Kolbesunverminderter Reputati-
on nachdem ZweitenWeltkrieg.
„Für uns alsNachgeborene is tder Kol-
be-NachlasseineRiesenchance,vorurteils-
losauf di eGeschichtezublicken“,sagtJu-
lia Wallner .Wallner istdie vier te Direkto-
rindesMuseums,daszuvorvonKolbesEn-
kelin geleitet wurde ,und ih remVerhand-
lungsgeschickalleinist es zu verdanken,
dassdie 108Umzugskistenden Wegzu-
rücknachBerlin fanden. Nunhofft sie auf
finanzielleUnter stützung durch den Bund
und das Land Berlin, um die Archivalien
so raschwie möglichkonservatorischsi-
chernzukönnen.Insofer nstelltdi epande-
miebedingteSchließungfürdasKolbe-Mu-
seum einen Glücksfall dar ,denn in den
menschenleerenAusstellungsräumenkön-
nen JuliaWallner und ihrTeam denInhalt
derKisteninRuhe ausbreiten und sichten.
Etwajenen Aktenordner,aus dem her-
vorgeht,dassKolbe die Geschäftsbezie-
hung zu seinem Galeristen Alfred Flecht-
heimauchnach dessen Emigration so lan-
ge wie möglichaufrechterhielt.Oder ei-
nen Atelierkalender,der den Besuchdes
RegimekünstlersArnoBrekerund seines

expressionistischenAntipodenPechstein
in derselbenWoche im April 1938ver-
zeichnet. Oder den Entwurfeines Briefs
von1939anArnoldWahnschaffe,denLei-
terderReichskanzleiwährenddesErsten
Weltkriegs und Initiator derReichs tags-
Inschrift„Dem deutschenVolke“, in dem
sichKolbeüber die magereFleischzutei-
lung beklagt,die ihn daran hindere, nach
einer Blasenkrebsoperationraschwieder
zu Kräften zukommen.
Wasman unter alldem nichtfinde, sagt
Julia Wallner ,sei die eineAkte, dieKolbes
Verhältnis zum nationalsozialistischen
Staatzweifelsfreioffenlege. „Aberauchdas
Wort ,Jude‘habe ich bislanginkeinem
Schriftstückgelesen.“ Offensichtlich hat
Kolbe jede Berührung mit demRasse n-
wahn derNazisvermieden, auchwenn er
die „erstklassigeBehandlung“ (Wallner)
durchdas Regime unverkennbargenoss.
Kolbe warein Freund desguten Lebens:
Noch in de nletzten Kriegsjahren setzteer
ein Netzwerkvon Freunden und Bekann-
teninGang,umanfranzösischenRotwein
undteureZigar renzukommen.„Einhohes
Standesbewusstsein und Anspruchsden-
ken“,soWallner ,habeihn denNationalso-
zialis tenebensoentfremdetwieumgekehrt
fürihre Schmeicheleien anfälliggemacht.
Schon einflüchtiger Blickauf den erst
teilweise ausgepackten Inhalt derNach-
lass-Kisten offenbartdie Schätze, die hier
zu heben sind.Daist ein frühes Land-
schaftsbildvonMax Beckmann, mit dem
Kolbe 1905 einAtelierinSchönebergge-
teilt hatte. Eine Grußkarte vonElse Las-
ker-Schüleranden „Signore Professore“,
gezeichnetmit „der blaue JaguarvonThe-
ben“. Ein BriefvonJosef vonSternberg,
dem Regisseu rdes „Blauen Engels“, der
sichüber den, wie erfindet, überhöhten
Preis einer bei Flechtheim erworbenen
Kolbe-Skulptur beschwert. Oder die auf
DeutschgeschriebeneWidmungeinesrus-
sischen Offiziers, der sichEnde April
1945 inKolbes Gästebuchverewigt:„Die

Gewalten vergehen –das Volk verbleibt –
die Kunstlebt.“
Eins der berührendstenFundstücke ist
ein Album mitFotos voneinemWinterur-
laub Kolbes mitFrau undTochter im Jahr
1925 imTessin. DerKünstler ,mit Hemd
und Fliegeunter demWintermantel, lacht
in die Kamera, während BenjamineKolbe
nur verhalten lächelt. EinVierteljahrhun-
dertlang hatKolbe seineEhefra uimmer
wieder in Gips oder Bronze oderauf Pa-
pier abgebildet, auchder Tiesenhausen-
Nachlassenthält einAquarell mit ihrem
Porträt.1927 nimmtBenjamine sichdas
Leben,und Kolbes Kunstverfinster tsich.
Einerseitsentwirftergebrochene,versehr-
te Figuren wie den „Einsamen“ und den
„Großen Stürzenden“, andererseitsver-
panzerteMännerkörper wie in den Krie-
gerdenkmalenunddenZara thustra-Skulp-
turen für ein Nietzsche-DenkmalinWei-
mar.Die letzteVersionvon„Zarathustras
Erhebung“, nachKolbes Tod1947 postum
inBronzegegossen,stehtheuteimGarten
des Kolbe-Museums. Sie zeigteinen nack-
tenAthleten, der verzweifelt alle Muskeln
anspannt,ohne seineHände auchnur auf
Hüfthöhezubringen.DieGestederAnbe-
tung scheitertamGewicht derWelt. Hin-
terKolbesgroßbürgerlichen Lebensstil
verbirgtsicheine unheilbareTraurigkeit,
die in der Schwermut seinerStatuenver-
steinert. Seinespäten Entwürfe,„Die Nie-
dergebeugten“, „Die Scheidende“ und
„Der Befreite“, sind allesamtTrauernde,
Abschiednehmende,Verlierer.
Irgendwoinden 108 Kisten imKolbe-
Museummagda sGeheimnisdieserKünst-
lerexistenz stecken. Vielleichtsind es aber
auchnur Splitter, verstreut eOffenbarun-
gen, die das Bild einesgebrochenen, um
Halt undForm ringenden Lebens ergän-
zen. Seine Hinterlassenschaftliegt in Ber-
linvorallerAugenausgebreitet,jetztmuss
sie vordem Verfall gerettetund er forscht
werden. Nicht nur um derKunst, auchum
der Wahrheit willen. ANDREASKILB

Die Anmut der Unschuld: ein in den zwanziger Jahren entstandenesTuscheblatt GeorgKolbes aus den über hundertZeichnungen im neu zugänglichenNachlass Foto ©N.Hausser

Abgründe eines Staatsbildhauers


Wasweiß mein Pflaumenbaum?


UnsereZivilisationwirkt zerbrechlichwie eine Eierschale /VonIlma Rakusa, Zürich


DerBonnerSinologeWolfgangKubin
hat „die deutscheÜberheblichkeit“ in
der Kommentierung der Pandemie
kritisiert. In einem Leserbrief im
„Bonner General-Anzeiger“ be-
schreibt er eine Divergenz zwischen
der privaten Empirie seinerKontakte
nachChina und der deutschen media-
len Debatte.„Als dieserTageChina
das Virusbesiegt hatteund mir meine
Studenten aus China schrieben, sie
verließen ihreQuarantäne,gabsich
eine deutscheTalksho wimmer noch
wenig überzeugt:Das könne so nicht
sein, denn in China herrschtenja
nicht wie bei unsFreiheit und Demo-
kratie. Siegessicher posauntedas eine
Chinaspezialistin.“ InKubins Augen
brichtsichinDeutschland die „Hy-
bris“ eines Antikommunismus Bahn,
hinter dem sichnationaleAbstiegs-
angstverberge.Das Virus, habe esge-
heißen,stelle daschinesische „Sys-
tem“ in Frage. Ganz so, als hoffe man
auf den baldigenUnte rgang derkom-
munistischen Gesellschaft. Jetztwer-
de klar,dassimGegenteil unser „Sys-
tem“ zur Dispositionstehe. Kubin,
der Lehraufträgeander BeijingFo-
reign Studies University und an der
ShantouUniversitywahrnimmt, er-
hielt zweimal den Staatspreis der
Volksrepublik China für ausländische
Experten.Unlängstkritisierte er,dass
die nordrhein-westfälischenUniversi-
täten nachdem Willen der Landesre-
gierung ihreKooperation mit den
Konfuzius-Instituten überprüfen sol-
len,demchinesischen Pendant zu den
Goethe-Instituten. pba.

Das Georg-Kolbe-


Museum sichtet den


Nachlassvon Kolbes


Enkelin: Erkönnte


Licht bringen in die


erstaunlicheKarriere


eines republikanischen


Künstler sim


Nationalsozialismus.


Sinologe


tadelt Hybris


Welche„Systemfrage“


stelltdasVirus?


FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MITTWOCH, 8.APRIL 2020·NR.84·SEITE 11

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