Neue Zürcher Zeitung - 03.04.2020

(Tina Meador) #1

Freitag, 3. April 2020 INTERNATIONAL 7


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Der Weg zum Arbeitsmarkt im Westen ist versperrt


Länder wie Bulgarien und Rumänien fürchten sich vor einer Ansteckung durch Heimkehrer


VOLKERPABST, ISTANBUL


Die Architektur ist wahrscheinlich die
besteVeranschaulichungderunregelmäs-
sige n Einkommensverhältnisse auf dem
Balkan.Werin Rumänien,Bulgarienoder
Bosn ien übersLand fährt,sieht vielerorts
halbzuEndegebauteHäuser.DasErdge-
scho ss ist fertig, der erste Stock zwar be-
wohnbar, aber noch nicht verputzt, und
für d en Aufbau darüber ragen erst vier
Träger aus Stahlbeton in die Höhe.
DienächsteEtappewirdinAngriffge-
nommen, sobald dafür wieder Geld zur
Verfügung steht. Insbesondere auf dem
Land, wo es nur wenig Erwerbsmöglich-
keiten gibt, ist dies oft nach einem
Arbeitsaufenthalt imAusland derFall.


Wichtigste Einkommensquelle


DiesesJahr wird wegen des Coronavirus
dieses Geld vielerorts fehlen, nicht nur
für denAusbau des Hauses, sondern
vielleicht auch für dieAusbildung des
Sohnes oder die Behandlung der kran-
ken Schwiegermutter.
In Deutschland arbeiten jährlich
300 000 Saisonniers als Erntehelfer, in


Grossbritannien sind allein in den nächs-
ten Wochen 90000 Stellen zu besetzen.
Auch in Spanien,Frank reich oder Ita-
lien fehlen die ausländischen Helfer,
weil sie wegen der Massnahmen gegen
die Ausbreitung derPandemienichtan-
reisen können.
DieArbeitskräftekommenfast immer
aus Osteuropa, insbesondere den EU-
StaatenRumänien und Bulgarien.Für
nicht wenige, die sonst vielleichtLand-
wirtschaft betreiben oder sich mit Ge-
legenheitsjobs überWasser halten, ist
der Verdienst während der Erntezeit die
wichtigste Einkommensquelle – obwohl
die Löhne tief sind und oft hohe Gebüh-
ren fürVermittlungsbüros anfallen.
Die Sorgen in Deutschland oder
Grossbritannien über das Ausblei-
ben der Erntehelfer werden auch in
den Herkunftsländernregistriert. Eine
Debatte über dieAuswirkungen für die
betroffenen Haushalte, die nun mit be-
trächtlichenEinkommensausfällenrech-
nen müssen, findet aber kaum statt.
DieFragewirdüberlagertvonderDi s-
kussion über die Diaspora, also die weit
grössere Zahl anPersonen, die dauer-
haft imAusland leben und nun teilweise

zurückreisen. SeitAusbruch derPande-
mie sind mehr als200 000 Bulgaren, gut
3 ProzentderGesamtbevölkerung,inihr
Heimatland zurückgekehrt.
Dies wird mit einiger Sorge betrach-
tet, weil die Heimkehrer aus dem zur-
zeit noch weit stärker betroffenenWest-
europa als Risikofaktoren betrachtet
werden.DerrumänischePräsidentKlaus
Iohannis hat seineLandsleute imAus-
land aufgerufen, diesesJahr zu Ostern,
dem wichtigsten orthodoxenFeiertag
und einem beliebtenTermin fürFami-
lienbesuche,nichtindieHeimatzureisen.

Empörungüber Charterflüge
Mindestens vier MillionenRumänen le-
ben im europäischenAusland, gut die
Hälfte von ihnen in Italien und Spanien.
DernieumeinenmelodramatischenAuf-
tri tt verlegene Präsident Serbiens, Alek-
sandarVucic, erklärte sogar, wenn er in
derHandhabungderCorona-Kriseetwas
bedauere, dann nur, dass er dieAusland-
serben zurück insLand gelassen habe.
Dass nun Flugzeuge gechartert wer-
den, um Arbeitskräfte in denWesten zu
holen,hat insbesondere in Bulgarien für

Unmutgesorgt. Eine britischeVermitt-
lungsorganisationerw ägt, bulgarische
Erntearbeiter einzufliegen. Bereits am
Montag landeten 250 Pflegekräfte aus
Rumänien und Bulgarien in Nieder-
österreich, ähnlich wie in Deutschland.
Der bulgarische Gewerkschaftsbund
Podkrepa fordert in einem offenen
Brief an dieRegierung, dass die Gast-
arbeiter bis zum Ende derPandemie
im Gastland bleiben und dort auch Zu-
gang zur medizinischenVersorgung er-
halten.Dass sich Bulgaren imAusland
einerAnsteckungsgefahr aussetzten und
dann zurückreisten, währendin Bulga-
rien eine strengeAusgangssperre gelte,
sei inakzeptabel. Zudem fehlten auch in
Bulgarien Arbeitskräfte.
Dabei schwingt auch eine grund-
sätzliche Kritik an einemSystem mit,
in dem man imreichenWesten auf bil-
ligeArbeitskräfte aus dem Südosten zu-
rückgreift,die nicht gleich wie einheimi-
sche Arbeiter behandelt werden.Wenn
die Auftraggeber nun sogar die Mittel
haben,ein Charterflugzeug zu bezahlen,
so eine Argumentation, wäre unter nor-
malen Umständen wohl auch Spielraum
da füretwas mehr Lohn.

Systemrelevante Spargelstecher


In Deutschland funktioniert in der Landwirtschaft ohne ausländische Sa isonarbe itskräfte nichts


CHRISTOPH PRANTNER, BEELITZ


Draussen weht ein eisigerWind über die
sandigenÄcker der Mittelmark. Minus
9 Grad hatte es in der Nacht, alles ist
steif gefroren. Drinnen brennt an die-
sem Morgen bereits die Luft. Ernst-Au-
gust Winkelmann sitzt in seiner Kaffee-
küche und treibt seine Mitarbeiter an.
30 000 Liter Desinfektionsmittel haben
sie inPolen besorgt und nach Branden-
burg geschafft. Sie lächeln zufrieden. In
Zeiten wie diesen ist das ein Coup, der
schwieriger zu landen ist als der perfekte
Bankraub. Dem Chef ist das dennoch zu
wenig:«Dasreicht nicht.Wir brauchen
mehr!», sagt er.
Wir brauchen mehr. Der Satz klingt
wie einMotto, das sichTausende von
Bauernhöfen in Deutschland derzeit
ungewollt teilen. Dennvor exakt einer
Woche hat ein Sprecher des Bundes-
ministeriums des Inneren in nüchter-
nem AmtsdeutschFolgendes verlauten
lassen:«Saisonarbeitskräften und Ernte-
helfern wird die Einreise nach Deutsch-
land im Rahmen der bestehenden
Grenzkontrollen ab heute, 25. 3. 2020,
17 Uhr, nicht mehr gestattet.»


Im Corona-Ausnahmezustand


DamitgerietKnallaufFallauchdieLand-
wirtschaft in den Corona-Ausnahme-
zustand. Ohne die insgesamt 300 000
Hilfskräfte,dieproJahrausPolen,Rumä-
nien,Südosteuropa oder der Ukraine für
einige Monate insLand kommen, brin-
gen dieBauern ihre Saat nicht aus und
ihre Ernte nicht ein. Zu warten, bis die
ärgstenPandemiefolgenvorbeiziehen,ist
keine Option für sie. Vor allem am Spar-
gelhof Klaistow in Beelitznicht.
Ernst-AugustWinkelmann baut hier,
rund 50 Kilometer westlich von Ber-
lin, auf 800 HektarenLand Spargel an.
Die Ernte läuft in diesenTagen an.50 00
Tonnen feinsteWare sind es jedesJahr,
die bisJuni von Hand aus der Erde ge-
holt werden. Neben den 100 Mitarbei-
tern, die erpermanent auf dem Spar-
gelhof beschäftigt, braucht Winkel-
mann 800 Saisonkräfte dafür. Nur gut
die Hälfte von ihnen steht ihm derzeit
zur Verfügung.
«Mit der Mannschaftkommen wir bis
Mitte, Ende April.Je nachWetterlage.
Dann wird’s eng», sagt der grosse, runde
Mann. Seine flinkenAugen, die perma-
nent nach guten Geschäften zu suchen
scheinen und ihrem Gegenüber gerne
zuzwinkern, starren diesmal ins Leere.
Wie er alle seine Spargel vomAcker be-
kommen soll, kann sich auch einDas-


lösen-wir-schon-irgendwie-Typ wieWin-
kelmann derzeit kaum vorstellen.
Dabei hat derBauernsohn ausRah-
den, einer Kleinstadt am nördlichsten
Zipfel Nordrhein-Westfalens, schon
einiges gesehen. Am 9. November 1989
fiel die Mauer, am 11. November 1989
sei er per Zufall in Klaistow angekom-
men. «Auf den Berliner Ringrauf, erste
Ausfahrt runter», sagt er. Inzwischen hat
Winkelmannhier geheiratet,Kinder be-
kommen und den grösstenAgrarbetrieb
in derRegionaufgebaut: Seine Spar-
gel, Erdbeeren, Heidelbeeren liefert er
nach ganz Deutschland, Exporte gehen
vor allem nach Skandinavien. Daneben
gibt es einen Streichelzoo, ein Wildtier-
gehege, einen Erlebnisspielplatz, einen
Hofladen und ein grossesRestaurant.
Irgendwie habe er mit so einer Krise
gerechnet, sagt der 56-Jährige, als er
durch die Grossküche eilt.Das Ausmass
der Folgen aber, das habe er sich nicht
vorstellenkönnen.
Dabei warWinkelmann vorsichtig.Ei-
nigeLandwirteinWestdeutschlandmuss-
ten, Stunden bevor die Grenzen dicht-
machten, noch eine Boeing chartern, um

100 Erntehelfer aus dem rumänischen
Iasi nach Hamburg zu fliegen. Zu dem
Zeitpunkt hatte er bereits vorgesorgt.Als
die Pandemie inItalien aus demRuder
gelaufen war, hatte er zu seinen Leuten
in Polen undRumänienKontakt aufge-
nommenundvielefrüherinsLandgeholt.

Online-Jobbörsefür Freiwillige
Laut Landwirtschaftsministerin Julia
Klöckner liegt der Bedarf an Ernte-
helfern im März bei 30000, im Mai wür-
den80000gebraucht.DieMinisterinund
In nenminister Horst Seehofer legten am
DonnerstageinenVorschlagimKabinett
vor, der dasÄrgste abwenden und einige
ErntehelferunterstrengenAuflagenein-
reisen lassen soll. Ob dasreicht, ist mehr
als fraglich. Die Bundesregierung hat
aber immerhin dieAufenthaltsbeschrän-
kungen für jene erweitert, die bereits im
Land sind. Und die Zuverdienstgrenzen
für die Arbeitswilligen wurden ange-
hoben, die bereit sind, freiwillig auf den
Äckern undFeldern zu arbeiten.
Für sie haben dasLandwirtschafts-
ministerium und dieLandwirtevereini-

gung Maschinenring eineJobbörse on-
line gestellt. Mehr als 40000 Inserate
warenamDienstagaufdaslandhilft.dezu
finden.VondieserHilfsbereitschaftzeigt
sich Winkelmann «tief beeindruckt». Er
selbst habe mehr als 200 Bewerbungen
alsSpargelstecherbekommen.VonMen-
schen aufKurzarbeit oder einfach den-
jenigen, die trotz dem Arbeitskräfte-
mangel Spargel essen wollen.
Das grundsätzliche Problem, sagt
Bauer Winkelmann, löse das aber nicht.
Wenn dieKurzarbeit auslaufe, sei der
Kurzarbeiter wieder weg, der grosse
Teil der Ernteaber noch nicht eingefah-
ren. Saisonarbeit sei seitJahrhunderten
der Job vonWanderarbeitern gewesen.
Diese hätten sich für wenige Monate für
harteFeldarbeitverdingtunddabeieinen
gutenTeilihrerJahreseinkommenerwirt-
schaf tet. Das sei heute nicht anders.
Ohne seine polnischen und rumä-
nischen Arbeiterkönne er seine Ernte
nicht einbringen, sagt der Spargelhof-
Che f. Die sicherten die Arbeitsplätze
aller seiner deutschen Mitarbeiter. Und:
«Übertragen sie das vom Spargelhof in
die Gesellschaft:OhneAusländer würde

unser Betrieb nicht laufen, ohneAus-
länder funktioniert unsere ganze Ge-
sellschaft nicht mehr.»Vor allem im
Pflegebereich oder im Medizinsektor
trifft diese Diagnose ohne Zweifel zu,
dort ist vorwiegendPersonal aus Süd-
osteuropa in Deutschland beschäftigt.
Katharina Ivan hat nicht die typische
Biografie für eine Wanderarbeiterin.
Aberfeststeht,dassderSpargelhofKlais-
towohnesiedeutlichwenigerreibungslos
funktionieren würde. Vor 16 Jahren kam
sie das erste Mal aus Krakau hierher, um
für polnische Spargelstecher zu dolmet-
schen. Sie blieb, weil es ihr «so gut gefal-
len hat». Heute sei sie in Klaistow verhei-
ratet und Mutter einer kleinenTochter.
Ivan istVorarbeiterin für insgesamt
rund500 polnische Saisonkräfte. Ein
paarSteinwürfevomSpargelhofentfernt
deckt sie Erdtunnel ab undkontrolliert
die ersten herausbrechenden Spitzen.In
einerWoche, schätzt sie, werde es rich-
tig losgehenmitderErnte.GuteSpargel-
stecher stächen dann an die 200 Kilo pro
Tag.Siebekommendafür9Euro55Min-
destlohn(bruttofürnetto)undeinenZu-
schlag für die geerntete Menge in Kilo.
Aufbiszu15 Eurone ttoproStundekann
der Lohn so anwachsen.

Laptop oder Renovierung
Ihre Kollegen ausPolen seien vorwie-
gendHausmänneroderHausfrauen,sagt
Ivan,rüstigeRentneroderStudenten,die
sich etwas dazuverdienen wollten. Die
Arbeit ist hart,und man muss geübt sein.
Die meisten haben das, was sie hier ver-
dienen werden, schon verplant.Für die
Renovierung, für einen neuenLaptop,
für die Schulsachen der Kinder. Dafür
arbeiten sie sechsTage in derWoche.
Genau dieserEinsatz fehlt nun in
den deutschenAckerkrumen. Das wis-
sen auch dieBauernvertreter. Der Chef
desDeutschenBauernverbandesJoachim
RukwiedhältVersorgungslückenbeiObst
und Gemüse fürmöglich.Der stellvertre-
tende Direktorder Welternährungsorga-
nisationFAO,MaximoTorero , befürch-
tet sogar eine Nahrungsmittelknappheit
in der EU aufgrund des Corona-Einreise-
stopps für die Erntehelfer.
Die EU-Kommission hat am Montag
die Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert,
die Freizügigkeit für Saisonarbeitskräfte
inderCorona-Krisenichteinzuschränken.
Erntehelfer sollten in der Krise wie medi-
zinischesPersonal oder Sicherheitskräfte
alssystemrelevanteingestuftwerden,sagte
eine Sprecherin. SpargelbauerWinkel-
mann und seineVorarbeiterin Katharina
Ivan würden das sofort unterschreiben.

Saisonarbeiter ernten Spargeln auf einemFeld beiBeelitz in der Nähevon Berlin. JENS SCHLUETER / EPA

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