Handelsblatt - 06.04.2020

(Martin Jones) #1
W

ir befinden uns mitten in einer
beispiellosen Krise: Aus einer
Gesundheitskrise hat sich in-
nerhalb kurzer Zeit eine Wirt-
schaftskrise entwickelt, die
uns jetzt auch vor massive finanzpolitische He-
rausforderungen stellt. Der Frühling beginnt zwar,
aber alle haben wir das Gefühl, inmitten eines lan-
gen und harten Winters zu stehen.
Wir alle kennen die Grafiken, die den Infekti-
onsverlauf von Covid-19 zeigen. In den nächsten
30 bis 90 Tagen ist die größte Herausforderung,
diese Infektionskurve so weit abzuflachen, dass
sie für das Gesundheitswesen zu bewältigen ist.
Eines der wichtigsten Mittel ist soziale Distanz –
mit weitreichenden Maßnahmen: Schulen sind ge-
schlossen, Menschen arbeiten von zu Hause, Rei-
sen wurden abgesagt, Geschäfte ohne Systemrele-
vanz sind zu. Diese Einschnitte sind schmerzlich.
Von alten Menschen, die vereinsamen, bis hin zu
großen wirtschaftlichen Schäden. Aber wir haben
kurzfristig keine andere Wahl.
Um es direkt zu sagen: Ich glaube daran, dass
wir es bis zu einem gewissen Grad tatsächlich
schaffen werden, die Kurve der Infektionen ab-
zuflachen. Doch damit ist das Problem nicht
langfristig gelöst. Bereits der Shutdown über ein
bis drei Monate verursacht enorme wirtschaftli-
che Schäden – diese sind wahrscheinlich noch
zu bewältigen, insbesondere in reicheren Län-
dern. Die Kosten für einen zwölfmonatigen Zu-
stand wie diesen sind aber kaum zu ermessen.
In ein bis drei Monaten nach Beginn des Shut-
downs stehen wir vor einer noch größeren Fra-
ge, mit der wir uns schon jetzt beschäftigen soll-
ten: Wie schaffen wir es, die Kurve nachhaltig
abzuflachen, ohne Gesellschaft und Wirtschaft
massiv zuzusetzen?


Vollkommen klar: Wir müssen die Ausbreitung
des Virus begrenzen. Aber können wir es verkraf-
ten, wenn ganze Branchen, Finanzmärkte und die
öffentlichen Kassen kollabieren? Schon sehr bald
müssen wir uns darauf fokussieren, die Kurve auf
lange Sicht flachzuhalten, ohne dabei große Teile
unserer Wirtschaft zu zerstören. Mögliche Lösun-
gen gibt es. Doch wir sollten sofort damit beginnen,
sie praxistauglich zu machen. Dafür gilt es, vor al-
lem auf sechs Feldern zu arbeiten:
Vorsorge: Wir müssen die Testverfahren im gro-
ßen Stil ausweiten und beschleunigen, mehr medi-
zinisches Material und Schutzausrüstungen zur
Verfügung stellen und Behandlungskapazitäten
ausbauen. Wir sollten zudem in digitale Tools in-
vestieren, die Menschen helfen zu entscheiden, ob
sie medizinische Hilfe brauchen oder ob Selbstqua-
rantäne ausreicht.
Soziale Distanz: Ziel sollte es sein, die meisten
Menschen idealerweise innerhalb der nächsten
drei Monate wieder in den Alltag zu bringen. Zu-
sätzlich zu erweiterten Hygienepraktiken und
Schutzmaßnahmen wird es wahrscheinlich auch ei-
ne Risikoschichtung geben müssen. Mithilfe sorg-
fältiger epidemiologischer Untersuchungen und
moderner Analysetechniken ließen sich Methoden
zur Risikoabwägung entwickeln. Weniger gefährde-
te Personen könnten dann wieder arbeiten, und
das Risiko für sie und die Gesellschaft könnte man
verantwortungsvoll verringern. Das wird nicht ein-
fach umzusetzen sein, ist aber ein wichtiger Faktor,
um die Wirtschaft wieder hochzufahren, ohne die
Gesundheitssysteme zu überlasten.
Alltag: Wir müssen den Einsatz digitaler Techno-
logien beschleunigen, um das Arbeiten von zu Hau-
se zu erleichtern. Darüber hinaus müssen wir uns
auf einen umständlicheren Alltag einrichten – ne-
ben der umfangreichen Ausweitung von Tests heißt

das auch, häufiger die Temperatur zu messen, bevor
Menschen öffentliche Orte betreten. Darüber hinaus
sollten wir in den nächsten Monaten intensiv an ei-
nem Antikörpertest arbeiten, um feststellen zu kön-
nen, ob Menschen immun geworden sind.
Rechtliche Rahmenbedingungen: Wir sollten
Organisationen und Arbeitgebern das Recht einräu-
men, ihr Geschäft ebenso wie Arbeitnehmer, Kun-
den, Studenten und Schüler durch Tests zu schützen.
Gleichzeitig braucht es für sie eine Verpflichtung, ge-
fährdete Personen anzuhalten, zu Hause zu bleiben.
Arbeitnehmer und Eltern sollten unterstützt werden,
wenn sie oder Familienangehörige erkranken.
Innovationen: Wie brauchen vielfältige Innova-
tionen – Diagnoseverfahren, virenhemmende Me-
dikamente und Impfstoffe. Finanzielle Zusicherun-
gen an Forschungseinrichtungen und -unterneh-
men sollten daran gekoppelt sein, dass die
Ergebnisse geteilt werden.
Kommunikation: Wir brauchen eine konsequente,
kohärente und geeinte Führung, die die Gesellschaft
zusammenhält. Die Menschen brauchen Informatio-
nen, wie sie sicher reisen und arbeiten können, wie
sie soziale Interaktionen umsichtiger gestalten und
wie sie gefährdete Bevölkerungsgruppen unterstüt-
zen können – allen voran die Älteren.
In normalen Zeiten würden wir Jahre brauchen,
um auch nur einige dieser Optionen zu diskutie-
ren. Aber wir haben nicht so viel Zeit. Die be-
schriebenen Ansätze sind sowohl technisch als
auch gesellschaftlich und politisch anspruchsvoll.
Für die Wirtschaft, die Lebensgrundlage von Mil-
lionen Menschen, und die Gesundheit unserer Ge-
sellschaft müssen wir diesen Weg aber jetzt gehen.
Denn der Winter wird wiederkommen – und wir
sollten vorbereitet sein.

Vorbereiten auf


den Winter


Wir müssen jetzt schon langfristig denken und


handeln, wenn wir große Teile der Wirtschaft nicht


zerstören wollen, meint Rich Lesser.


Der Autor ist CEO der Boston Consulting Group.

Rudolf Wichert für Handelsblatt

Kurzfristig


gibt es keine


Alternative


zu den


strikten


Maßnahmen,


um das


Coronavirus


einzudämmen.


Gastkommentar
MONTAG, 6. APRIL 2020, NR. 68
48


 





  
    
   

  



 
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