Neue Zürcher Zeitung - 27.03.2020

(Jeff_L) #1

Freitag, 27. März 2020 FINANZEN 21


Finanzmärkte reagieren wie Sandhaufen


Was Anleger über Börsencrashswissen müssen, um sich zu schützen


PATRICK HERGER


Noch imJanuar haben vieleBanken und
Vermögensverwalter die Aktienquote
erhöht. DieKunden dieserFinanzunter-
nehmen haben nun das Nachsehen.Da-
her ist eskeinWunder, dass zahlreiche
Börsenakteure jetzt gerne die Metapher
des schwarzen Schwans bemühen. Mit
di esem Sinnbild wollen sie die eigene
Risikoblindheit und inkompetente
Lageeinschätzung entschuldigen. Denn
einen schwarzen Schwan kann ja nie-
mand voraussehen.
Und natürlich ist richtig,dass nie-
mand den genauenAuslöser der jüngs-
ten Börsenkrise, die Corona-Pande-
mie, vorhersehenkonnte. Aber dieFra-
gilität derFinanzmärkte, die vor dem
Kurssturz herrschte, die Anfälligkeit für
Schocks, diekonnte man sehr wohl er-
kennen. Die Hinweise auf nicht nur
hohe, sondern exzessive Preise beispiels-
weise waren überdeutlich.
WennBanken und Asset-Manager
als Entschuldigung für das eigene Un-
vermögen nun das Bild des schwarzen
Schwans anführen,tun sie vor allem
eines: Sie zeigen Defizite in ihremWis-
sen überFinanzmärkte.


ÖkonomieundRealität


Bis heute werden dieFinanzmärkte mit
Modellen beschrieben, die realitäts-
fern sind. So basiert etwa das berühmte
CAPM (Capital Asset Pricing Model)
auf der Annahme, dass alle Akteure, ob
sie nun soreich seien wie Bill Gates oder
so arm wie eine Kirchenmaus, sich zum
selben Zinssatz Geld leihenkönnen.
Aber noch absurder: Alle Marktteil-
nehmer haben imCAPM absolut iden-
tische Ansichten über allerelevanten
Eigenschaften der verschiedenen An-
lagen. Bei solchen Modellen ist nur be-
dingt erstaunlich, dass Ökonomen und
Finanzmarktakteure ständigvon der
Realität überrascht werden. Leider
nimmt dieseRealität nichtselten die
Form von Krisen an, zum Nachteil von
Bürgern undKunden.
Realitätsnahe Modelle derFinanz-
märkte entwickelten dagegen zunächst
vor allem ökonomiefremdeWissen-
schafter, wobei sich Physiker besonders
hervortaten. Einer von ihnen warPer
Bak.Bak interessierte sich in den acht-
zigerJahren für eine scheinbar banale
Frage:«Wie gross ist die typischeLawine,


welche ein Sandkorn auslöst, das man
auf einen Sandhaufen fallen lässt?» Die
Antwort: Es gibt normalerweisekeine
typischeLawinengrösse.
Per Bak gelangte zu dieser Erkennt-
nis, indem er virtuelle Sandhaufen unter-
suchte – das ist einfacher, als echte zu be-
obachten. Der Physiker erzeugte seine
Sandhaufen, indem er ein virtuelles Sand-
korn nach dem anderen auf eine zufällig
gewählte Stelle fallen liess. Anfangs blei-
ben die Sandkörner mehr oder weniger
dort, wo sie landen. Schliesslich wächst
der Sandhaufen aber in die Höhe, und ei-
nige seiner Hänge werden so steil, dass das
Hinzufügen eines einzelnen Sandkorns
eineLawine auslösen kann. Zunächst wir-
ken diese Störungen aber nur lokal.
Wenn der Sandhaufen jedoch eine
gewisse Grösse erreicht, gelangt er in
einen kritischen Zustand, und seine
Eigenschaften ändern sich dramatisch.
Zuvor war die Wirkung (Lawinen-
grösse) proportional zur Ursache (Ener-
gie desAufpralls). Aber nach Erreichen
der kritischen Schwelle sind die Grössen

von Ursache undWirkung völligent-
koppelt. Ein einzelnesSandkorn kann
eineLawine auslösen, die so gross ist wie
der gesamte Sandberg. Selbstein Gross-
ereignis ist dann manchmal dieFolge
einer winzigen Ursache, die normaler-
weise völlig unbedeutend bliebe.

Potenzgesetz statt Normalverteilung

Das hat mehrereKonsequenzen. So
sind zuverlässigeVoraussagen über die
Grösse der nächstenLawine nicht mög-
lich, wenn dasSystem den kritischen
Zustand erreicht hat.Ausserdem er-
reicht dasSystem diesen Zustand ganz
von selbst, also ohne Zutun von aus-
sen. Zudem sind dieSystemeigenschaf-
ten emergent, lassen sich also nicht aus
den Eigenschaften der einzelnenSys-
temelemente ableiten.
Natürlich springen jedem Investor
dieParallelen zuFinanzmärkten in die
Augen. Zahlreiche Untersuchungen be-
stätigen denn auch, dass die Börsen tat-
sächlich zu denSystemen mit den von

Per Bak beschriebenen Eigenschaf-
ten gehören. So gibt es an denFinanz-
märkten etwakeine typischen Grössen
fürKursbewegungen oderVolatilitäten,
diese verhalten sich wie dieLawinen in
Baks virtuellen Sandhaufen.
Etwas technischer ausgedrückt:Kurs-
bewegungen undVolatilität sind nicht
normalverteilt, streuen also nicht um
einen Mittelwert,sondern unterliegen
einemPotenzgesetz.Das erklärt auchdas
Problem der «fat tails», des Umstands,
dass Ereignisse, die unter einer Normal-
verteilung unwahrscheinlich sind, in der
Realität ziemlich oft auftreten.
Die auf Per Baks Modellen be-
ruhendeForschung führt zu wichtigen
Erkenntnissen darüber, wie Finanz-
märkte funktionieren. Dreien davon
sollten auch PrivatinvestorenRechnung
tragen: Erstens ist es nicht sinnvoll, ein-
facheDurchschnittswerte von Grössen
zu bilden, die einemPotenzgesetz unter-
liegen. Die aus solchenRechnungen
resultierenden Zahlen vernebeln mehr,
als dasssie enthüllen.

Ein Beispiel: Die Verteilung der
privatenVermögen unterliegt einem
Potenzgesetz. Wenn Bill Gates in eine
Bar kommt,könnte jemand dieFeststel-
lung machen, dass nun jederBarbesu-
cher imDurchschnitt einVermögen von
1 Mrd.$ hat. Aber diese Zahl macht
weder eine sinnvolleAussage über die
tatsächlichen Vermögensverhältnisse
von Bill Gates noch über diejenigen der
anderenBarbesucher. Und noch weni-
ger über dieVerteilung desVermögens.
Zweitens gehören dieFinanzmärkte
zu einer besonderen Kategorie vonkom-
plexenSystemen. DieseSysteme zeich-
nen sich dadurch aus, dass sie sich auf
einen Zustand hin entwickeln, bei dem
Ereignisse, die sonst unabhängig vonein-
ander sind, plötzlichkorreliert seinkön-
nen.Wer dasVerhalten verschiedener
Anlagen während der globalenFinanz-
krise in Erinnerung hat, weiss, wovon
dieRede ist.

Kritikalitätentscheidend


Drittens ist es nach dem Überschreiten
der Kritikalitätsschwelle möglich, dass
die Grössen von Ursache undWirkung
voneinander entkoppelt sind. Negative
Grossereignissekönnen durch kleine
oder banaleFaktoren entstehen. Natür-
lich kann auch ein schwarzer Schwan
derAuslöser für einen massivenKurs-
rückgang sein. Der spezifischeAuslöser
ist jedoch nicht entscheidend. Entschei-
dend ist, ob sich dasSystem im Zustand
der Kritikalität befindet. Und solange
das so ist, müssen Anleger selbst nach
einer metaphorischen Grosslawine mit
weiteren signifikantenLawinenrechnen
Aber auchBanken und Asset-Mana-
gerkönnen aus dem Gesagten eine
Lehre ziehen: Sie sollten sich nicht nach
der Krise mit angeblichen schwarzen
Schwänenbeschäftigten,sondernvor
der Krise mit grossen Sandhaufen. Ihre
Kunden hätten dann mehr Geld.
Weiter führ ende Literatur:
Nicht ganz so s chwierig e Ausfüh rungen von
Per Bak zu komplexen Systemen: Complexity,
contingency, and criticality (Bak / Paczuski)
Kursschwankungen haben keine typische
Grösse: Inverse Cubic Law for the Probability
Distribution ofStock Price Variations (Stanley
et al.)
Volatilitäten haben keine typische Grösse: Sta-
tistical properties of the volatility of price fluc-
tuat ions (Stanley et al.)

Wird das physische Gold knapp?


Bei den drei grossen Edelmetallraffinerien im Tessin herrscht Stillstand – mit kurzfristig gravie renden Folgen auch amMarkt


GERALDHOSP


DieTessinerRegierung hat vor wenigen
TagenwegenderCorona-KrisedieIndus-
triebetriebe auf ihrem Kantonsgebiet
weitgehend stillgelegt. Die einschnei-
dende Massnahme findet ihrenWider-
hall auch an den Goldmärkten.Vier der
weltweit grössten Goldraffinerien befin-
den sich in der Schweiz. Drei davon sind
mit Argor-Heraeus, Valcambi undPamp
imTessin angesiedelt. In den vergange-
nenWochen ist vor allem die Nachfrage
nachphysischemGoldvonKleinanlegern
sprunghaft angestiegen. Gold gilt als die
Krisenwährung par excellence.
Der Nachfrage steht aber ein knap-
per gewordenes Angebot gegenüber:
«Kurzfristigkommt es zu Lieferengpäs-
sen bei Kleinbarren, die vonRetail-Kun-
dennachgefragt werden», sagtChristoph
Wild, Geschäftsführer von Argor-He-
raeus. Der Edelmetallhändler ProAu-
rum schreibt auf seinerWebsite, dass er


ausverkauft sei und in absehbarer Zeit
kein Metall erhalte. Die Zürcher Kanto-
nalbank (ZKB) berichtet, dasssie trotz
hoher Nachfrage noch über genügend
Goldreserven für denVerkauf verfüge.

Kleinbarren und Münzen teurer


Die Goldraffinerie Argor-Heraeus in
Mendrisio hat am Montag alle Aktivitä-
ten eingestellt und angekündigt, bis zum


  1. April die Arbeit ruhen zu lassen; eine
    Woche länger als bisher vom Kanton
    verfügt.Wild ist davon überzeugt, dass
    die Massnahmen über den 29. März hin-
    aus in Kraft bleiben werden.Das Unter-
    nehmen hat inzwischenKurzarbeit für
    alle angemeldet, die ihre Tätigkeit nicht
    im Home-Office erledigenkönnen.
    Die An- undAuslieferung von Gold
    ist bei Argor derzeit gänzlich unterbro-
    chen. Edelmetall, das bereits von Minen
    ausgeliefert wurde, liegt in Zwischenla-
    gern derWerttransporteure. Wild setzt


darauf, dass aufgeschoben nicht aufgeho-
ben bedeutet, und befürchtet auch nicht,
dass Argor oder die SchweizerRaffine-
rien ins Hintertreffen geraten.
Valcambi in Lugano hatte ebenfalls
mitgeteilt, dieFertigung eingestellt zu
haben. MetalorTechnologies im Kanton
Neuenburgist damit die einzige grosse
Raffinerie in der Schweiz, die noch aktiv
ist. Das Unternehmen wollte sich nicht
zur aktuellenLage äussern.
Die höhere Nachfrage nach physi-
schem Gold spiegelt sich inAufschlägen
für Kleinbarren und Münzen.Wild ver-
weist aber darauf, dass die hohe Nach-
frage durch Käufe auf Metallkonti und
spätereAuslieferung jederzeit befriedigt
werdenkönne. Zudemwerde Gold auch
aus der Argor-Raffinerie in Hongkong
nach Europa verschifft.
Die Schliessungen der Schweizer Gold-
raffinerien haben aber bereits Spuren
beim Goldpreis an denTerminmärkten
hinterlassen.Carsten Menke,Metallex-

perte beiJuliusBär, verweist darauf, dass
an derTerminbörse Comex in NewYork
Barren von 100 Unzen gehandelt werden,
am Kassamarkt in London für physisches
Gold hingegenBarrenvon 400 Unzen.
Weil die nötigen Umschmelzungen der-
zeit nur in geringerem Masse möglich sind,
notieren dieFutures an der Comex mit
einem unüblich hohenAufschlag von etwa
4%.Das heisst, es gibt eine Knappheit an
sofort lieferbarem Gold.

Sorgeum Bankschliessfächer


Für Verunsicherung unter Kunden
könnte die Möglichkeit sorgen, dass der
Zugang zuBankschliessfächern nicht
mehr möglich ist. Der Analyst Carsten
Menke sieht dennochkeinen grossen
Einfluss auf den Goldmarkt: Es gebe
auch die Möglichkeiten, das Gold in Ein-
zelverwahrung durch dieBank einlagern
zu lassen oder physisch hinterlegte Gold-
produkte zu kaufen, sagt Menke.

Ein einziges Sandkornkann eine Lawineauslösen, die so grossist wie der gesa mte Sandberg. REUTERS

Gefragte
Krisenwährung
Goldpreis je Unze, in $

Euro/Fr.
1,0628-0.06%

Dollar/Fr.
0,9641-1.33%

Gold($/oz.)
1660,501.73%

SMI
9203,982.39%

DAX
10000,96 1.28%

DowJones
22552,176.38%
Stand 22.1

Erdöl(Brent) 2Uhr
29,27-2.60%

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